Politik

Ein Scherbengericht gegen die Demokratie

Lesezeit: 5 min
19.08.2023 09:27  Aktualisiert: 19.08.2023 09:27
Im antiken Athen gab es das Scherbengericht, mit dem die Bürger der Stadt Persönlichkeiten verbannen konnten, die nach allgemeiner Meinung zu mächtig geworden waren.
Ein Scherbengericht gegen die Demokratie
Aristoteles' feine Spitze gegen den Wankelmut der Masse, die Persönlichkeiten heute feiert und morgen verdammt, ist von zeitloser Aktualität. (Foto: dpa)
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Gestern gefeiert, heute verdammt – die Masse ist wankelmütig

Aristoteles, der selbst auch gegen Potentaten auftrat, fand allerdings kritische Worte über das Verhalten seiner Mitbürger. Da werden zuerst überragende Persönlichkeiten geholt, damit sie Krisen bekämpfen, Probleme lösen. Während sie das tun, werden sie von der Bevölkerung gefeiert. Sind die Schwierigkeiten behoben, rücken diese Personen in Spitzenpositionen auf.

Und plötzlich ist alles anders. Die gestern gefeierten werden nun kritisiert, weil sie sich über die Masse erheben, die Gleichheit aller Bürger in Frage stellen, also ausgeschlossen werden müssen. Wer im Rahmen eines Scherbengerichts verurteilt wurde, musste Athen für einige Jahre verlassen, konnte aber zurückkehren und seine Bürgerrechte ausüben, auch über sein Vermögen verfügen. Scherbengericht hieß das Verfahren, weil die Bürger den Namen der zu verbannenden Person auf eine Tontafel ritzten und diese Scherben bei einer eigens eingerichteten Stelle auf einem Platz abgeben mussten. Beamte zählten die Scherben und gaben das Ergebnis öffentlich bekannt.

Die oft kritisierten „bad news“ sind für viele Leser „good news“

Aristoteles feine Spitze gegen den Wankelmut der Masse, die Persönlichkeiten heute feiert und morgen verdammt, ist von zeitloser Aktualität. Die Tontafeln der Antike findet man heute im Umgang der Medien mit erfolgreichen Mitgliedern der „oberen Zehntausend“. Begeistert werden tüchtige Unternehmer und charismatische Politiker gefeiert und von Erfolg zu Erfolg begleitet. Das Podest kann gar nicht hoch genug sein. Für Befriedigung beim Publikum sorgt dann der Absturz des Gefeierten. In jedem Applaus steckt eine Portion Neid, weil man selbst nicht zu den Reichen und Schönen gehört. Da tut eine Pleite, ein Verlust des Amtes oder des Titels doch der wunden, kleinen Seele gut.

Oft wird die Frage gestellt, warum denn die Medien so viele schlechte – „bad news“ -und so wenige gute Nachrichten bringen. Die Erklärung: Die schlechte Nachricht ist für den Leser, die Leserin die gute Nachricht, dass er oder sie von der geschilderten Katastrophe nicht betroffen ist. Dieses Phänomen ist bei der Berichterstattung über Unfälle, Brände oder Naturkatastrophen entscheidend. Doch zurück zu den Personen des öffentlichen Lebens: In der Erfolgsphase freut sich das Publikum über Berichte, die das Schicksal seiner Lieblinge schildern. In der Phase des Misserfolgs wird das Schicksal der Stars, die gestern noch glücklich waren, ausgiebig besprochen und kommentiert. In die Erregung über das Missgeschick mischt sich auch ein wohliges Schaudern über die Wechselfälle des Lebens.

Medien bedienen in der Berichterstattung beide Phasen, die Begeisterung und die Beschäftigung mit dem Unglück der Prominenten. Die dominierenden „bad news“ sind dem Verhalten der Leser und Leserinnen geschuldet. In das Bild passt auch der Eifer der Medien bei der Recherche von Schwachstellen der Prominenten. In der negativen Phase interessieren Enthüllungen über frühere Fehler oder Gesetzesverletzungen der Stars aus Politik, Wirtschaft und Kultur besonders stark. Gerät ein Prominenter in die Mühle einer negativen Berichterstattung, so befindet er sich in einer mit einem antiken Scherbengericht vergleichbaren Situation.

Die Demokratie hat ihre Schuldigkeit getan, die Demokratie kann gehen?

Das Phänomen der Begeisterung, die in die Ablehnung kippt, kritisierte Aristoteles vor allem beim Umgang mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Die Kritik ist allerdings auch beim Verhalten gegenüber Prinzipien, gegenüber Systemen, gegenüber Ideen angebracht. Gerade derzeit ist in vielen Ländern eine wachsende Ablehnung der Demokratie zu beobachten, die sich an Wahlerfolgen radikaler Partien ablesen lässt, Kritik an der Demokratie, am Pluralismus, am Minderheitenschutz, am liberalen Verfassungsstaat ist modern.

Jene Staatsform, die für Freiheit und Wohlstand nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch die verschiedensten Herrscher gesorgt hat, wird nun von Vielen einer Art Scherbengericht unterzogen. Lautet etwa die Botschaft: Die Demokratie hat ihre Schuldigkeit getan, die Demokratie kann gehen? Mehr noch: Die Demokratie, die Freiheit sind schon selbstverständlich geworden, man muss sich nicht mehr um sie bemühen, sie verteidigen. Die Mängel werden nur als Versagen der Regierenden gesehen, die man verbannen möchte. Nicht gesehen wird, dass dann die von der Demokratie beseitigten Tyrannen wieder kommen. Man geht von der illusorischen Annahme aus, dass die Demokratie schon korrigierend eingreifen werde.

Das aristotelische Theater unterstreicht die Fallhöhe zwischen den „Oberen“ und den Bürgern

Aristoteles plädiert in seinen politischen Schriften für ein entspanntes Verhältnis zu den Führungspersönlichkeiten. Mit seinen Vorgaben für das Theater hat der Philosoph die Dramaturgie über Jahrhunderte maßgeblich beeinflusst und das Verhältnis der Menschen zur Autorität mitgeprägt.

Im aristotelischen Theater und dabei vor allem in der Tragödie spielt die „Fallhöhe“ eine entscheidende Rolle. Auf der Bühne werden nur Könige, Götter und andere hervorragende Persönlichkeiten dargestellt. Zwischen diesen und dem Publikum besteht also eine Fallhöhe. Schicksale, die die oberen Zehntausend erleiden, können der Masse der Menschen nicht widerfahren. Das Publikum soll schaudern und jammern, also emotional erschüttert sein und durch dieses Erlebnis profitieren, gleichsam eine Reinigung der Seele erleben.

Überdeutlich wird, dass die Bürger weit unter dem Niveau der Helden rangieren, unter jenen, die da oben auf der Bühne stehen. Die Fallhöhe spricht nicht nur dem gesellschaftlichen Unterschied zwischen den Oberen und der Masse an, sondern auch die Dimension, wenn die Helden scheitern und fallen, wobei sie auf die Ebene der Normalbürger stürzen.

Die Langzeitwirkung der aristotelischen Dramaturgie

Diese Relationen wirken bis heute nach. Alle, die auf dem Theater agieren, haben eine überragende Stellung. Das Theater ist nicht auf die Bühne beschränkt, zum Theater gehören alle Medien, die Menschen präsentieren, und so werden Sänger, Schauspieler, Politiker, Royals, Influencer und Moderatoren, Wirtschaftskapitäne bewundert, respektiert, als Autoritäten anerkannt.

Das Übel liegt in der Fallhöhe. Alle Personen, die in der Gesellschaft eine besondere Position einnehmen und eine spezielle Aufgabe haben, werden als höher Gestellte gesehen, als Obrigkeit, im Sprachgebrauch als „die da oben“ bezeichnet, womit auch ausgesagt ist, dass die da oben auf der Bühne stehen. Gegen die da oben richtet sich auch das angesprochene, aktuell stattfindende Scherbengericht über die Demokratie. Fällt diese, so wartet nicht schon am Bühneneingang die andere, bessere Heil bringende, das Volk begeisternde Staatsform.

Dass Aristoteles, der für einen entspannten und respektvollen Umgang mit herausragenden Persönlichkeiten plädierte, durch seine Dramaturgie das Podest für die Mächtigen, Reichen und Schönen errichtet hat, wird erst in der Gegenwart deutlich. Die überragende Stellung von Autoritäten war in den Jahrhunderten der obrigkeitlich organisierten Staaten ein Fundament der Macht, das ohne Bezug zum Theater funktionierte. Der Wechsel zur Demokratie sollte den entspannten Umgang mit den Mächtigen bringen, doch hat diese Umstellung nur beschränkt stattgefunden, auch in der Demokratie benehmen sich viele Menschen gegenüber den Regierenden wie Untertanen.

Die Aktualität der aristotelischen Dramaturgie ist durch die Massenmedien gegeben. Persönlichkeiten mit besonderen Fähigkeiten oder einem starken Charisma werden von Millionen wahrgenommen und vielfach auch bewundert und respektiert. Es sind keine Könige und Götter wie in der antiken Tragödie, doch stehen sie außerhalb der Masse und werden von der Masse als Ausnahmeerscheinungen gesehen. Aristoteles ist als wirkender Philosoph in der Gegenwart nicht unmittelbar erkennbar. Die Parallele zum Scherbengericht der Antike ist bei der oft praktizierten Hatz gegen Prominente augenscheinlich.

Weniger offenkundig ist der Bezug zu Pop-Konzerten, Talk-Shows und Fernsehserien. Die aristotelische Dramaturgie wurde vom klassischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts voll übernommen und prägte folglich das Verhalten des Publikums. Die Nachfolger sind alle Akteure, die heute die zahllosen medialen Bühnen bevölkern und sie sind somit auch die Erben der Fallhöhe.

Das Leben als friedlicher Bürger in den sozialen Medien

Eine der großen Schwächen der Demokratie besteht in der Weigerung vieler Menschen, sich für die Allgemeinheit zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Man will also gar nicht zu den Oberen, den Mächtigen, Einflussreichen gehören, weil man deren Schicksal nicht teilen möchte und als unauffällige Bürger ruhig leben kann. So bleiben viele Plätze frei für Dilettanten und Scharlatane. Also noch einmal: Aristoteles. Wenn das Publikum schaudert und jammert im Theater, so wird es nicht unbedingt gereinigt, sondern eher verschreckt.

Auf die Frage nach einer möglichen Korrektur dieser Situation bietet sich ein Hinweis auf das Internet und die sozialen Medien an, die jedem und jeder die Möglichkeit bieten, sich zu artikulieren, gehört und gelesen zu werden. Die Bühne bleibt nicht mehr den Oberen vorbehalten. Die angestrebte Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger ist endlich realisierbar. Es wäre also der Moment gegeben, die Demokratie zur Höchstblüte zu bringen, es ist genau nicht der Moment um die Demokratie einem Scherbengericht zu unterziehen.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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