Politik

Handel als Waffe: EU erlässt neues Gesetz zum Schutz vor wirtschaftlicher Erpressung

Lesezeit: 4 min
03.10.2023 15:48  Aktualisiert: 03.10.2023 15:48
„Letztes Mittel“: EU setzt mit neuem Handelsinstrument vor allem auf eine abschreckende Wirkung und betont Dialogbereitschaft. Wie Europa seine Souveränität besser sichern will.

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Lange herrschte in Europa und vor allem in Deutschland der Glaube vor, dass Handel den Frieden in der Welt sichert. Das hat sich spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine geändert, in dessen Folge Russland EU-Staaten den Gashahn zugedreht hat und damit besonders Deutschland in politische und wirtschaftliche Turbulenzen stürzte. Aber auch andere Länder, darunter China, die Türkei und die USA, setzen wirtschaftliche Druckmittel ein, um politische Entscheidungen in der EU zu beeinflussen. Handel und Investitionen werden von Drittstaaten geopolitisch zunehmend als Waffe eingesetzt.

Um die Souveränität der EU und ihrer Mitgliedstaaten in diesem neu bewerteten geopolitischen Umfeld zu schützen, hat das EU-Parlament am Dienstag mit dem „Anti-Coercion Instrument” mit 578 zu 24 Stimmen bei 19 Enthaltungen neuen Handelsregeln zugestimmt. Mit diesem Instrument gegen Zwangsmaßnahmen will die EU sich in der Zukunft vor wirtschaftlicher Nötigung durch Drittländer schützen und die EU in die Lage versetzen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Rat wird die neue Verordnung noch im Oktober förmlich annehmen. Sie tritt 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

Rat wollte Gesetzestext verwässern

Kommission und Rat hatten sich im Juni geeinigt, das Europaparlament hat laut Berichterstatter Bernd Lange (SPD), der auch Vorsitzender des Ausschusses für Internationalen Handel ist, im Rahmen der Trilog-Verhandlungen einige Abschwächungen und Spielräume, die sich Kommission und Rat offengehalten hatten, nachgebessert. „Der Rat wollte den Vorschlag verwässern, damit wäre die Vorlage ein zahnloser Tiger geworden“, sagte Lange im Anschluss an die letzte der vier Verhandlungen. Man habe nun einen klaren Anwendungsbereich, eine klare Begriffsbestimmung und ein klares Verfahren durchgesetzt.

Die Verordnung wird der EU die Möglichkeit verschaffen, gemäß dem Völkerrecht und als letztes Mittel zu handeln, wenn ein Nicht-EU-Land versucht, die EU oder einen ihrer Mitgliedstaaten wirtschaftlich zu erpressen, um eine bestimmte politische Entscheidung oder Haltung zu beeinflussen. Denn dafür bauen einige Länder gezielt Abhängigkeiten auf, um sie später als Druckmittel einsetzen zu können, sagten Abgeordnete während der Debatte im Parlament.

Konflikt Litauens mit China zwang EU zum Handeln

Ein Konflikt Litauens mit China hatte zuletzt die Diskussion um das neue Gesetz befeuert. Vilnius hatte Taiwan Ende 2021 mit einer diplomatischen Vertretung aufgewertet, was China als Affront wertete und mit einem Handelsboykott beantwortete, damit Litauen seine Haltung zu Taipeh ändere. Als China dann auch noch von Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten Boykotte litauischer Komponenten forderte, musste die EU sich bewegen und reichte bei der Welthandelsorganisation (WTO) Klage gegen China ein. Mit dem neuen Gesetz kann sie nun ohne solch einen langwierigen Umweg selbst aktiv werden.

Es sind nicht nur die Großen. Auch kleinere Länder setzen Handelsbeziehungen als Waffe ein. So hat etwa Marokko mehrfach sämtliche Beziehungen zu einzelnen EU-Staaten über viele Monate auf Eis gelegt, um Zugeständnisse in der West-Sahara-Frage zu erzwingen. 2021 war auch Deutschland von einer solchen Funkstille betroffen.

Druck kann durchaus auch von befreundeten Staaten und vermeintlichen Partnern kommen. Wie bei den russischen Gaslieferungen nach Europa. Den USA waren diese engen Beziehungen zu Russland schon immer ein Dorn im Auge. Im Streit um Nord Stream 2 drohte die Trump-Regierung Deutschland mit Sanktionen, sollte die Pipeline in Betrieb gehen. In Deutschland, wo die einseitige Abhängigkeit von Russland zu diesem Zeitpunkt noch kaum ein Thema war, wurde das so verstanden, als wollten sich die USA dadurch nur selbst das Geschäft mit Frackinggas sichern.

Laut Berichterstatter Bernd Lange drohen die USA aktuell mit zusätzlichen Zöllen auf europäische Produkte, wenn die Europäer einen digitalen Zoll erheben. Es kann also viele Gründe geben, sich gegen Einflussnahme zu wehren.

Instrument soll als Abschreckung dienen

„Wir haben den Werkzeugkasten mit Abwehrinstrumenten gefüllt, die wir definitiv nutzen können, wenn es darauf ankommt“, sagte Lange im Plenum. „Im Gegensatz zu anderen werden wir diese allerdings nicht offensiv nutzen, sondern Verhandlungen immer den Vorrang geben.“ Die Bandbreite solle dazu beitragen, dass die Drittstaaten nicht von vorneherein einkalkulieren könnten, welche Gegenmaßnahmen sie bei Erpressungsversuchen tatsächlich erwarteten.

Das Hauptziel dieses neuen Instruments besteht darin, Nicht-EU-Länder von Nötigungsversuchen abzuhalten oder sie dazu zu bewegen, die Nötigung zu beenden, um eine Eskalation des Konflikts zu verhindern. Zu den Gegenmaßnahmen zählen die Verhängung von Zöllen, Handelsbeschränkungen für Waren und Dienstleistungen, Beschränkungen für die Rechte des geistigen Eigentums, Beschränkungen des Zugangs zu öffentlichen Aufträgen sowie ausländischen Direktinvestitionen.

Die Mehrzahl der Parlamentarier, die Stellung bezogen, begrüßte die neuen Schutzmaßnahmen und wurden nicht müde, den abschreckenden Charakter dieses Gesetzes hervorzuheben. Gleichzeitig mahnten sie aber an, dass die EU zusätzlich weitere Freihandelsabkommen auf den Weg bringen müsse, um die Wirtschaftsbeziehungen mehr zu diversifizieren. Harsche Kritik kam nur aus den Reihen der Linken, die daran erinnerten, dass Europa keinesfalls nur Opfer von Erpressungsversuchen Dritter sei.

Klarer Zeitrahmen für ein Verfahren

Rat und Kommission können nicht im Hinterzimmer entscheiden, wann eine Erpressung durch ein Drittland vorliegt und was dagegen unternommen wird. Das Europaparlament muss bei allen Schritten in Kenntnis gesetzt und informiert werden. Damit sich Entscheidungsprozesse nicht endlos hinziehen, soll außerdem es eine Zeitschiene von maximal einem Jahr geben, bis Gegenmaßnahmen umgesetzt werden.

„Wir wissen nicht, wie künftige Erpressungen aussehen werden“ sagte Lange. „Aber wir wissen, dass die EU schnell, ernsthaft und einstimmig reagieren kann.“ Ob in einem konkreten Fall eine Erpressung vorliegt oder nicht, muss die EU-Kommission innerhalb von vier Monaten prüfen, der Rat hat dann für seine Zustimmung acht bis zehn Wochen Zeit, um anhand der Erkenntnisse der Kommission mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, ob es sich um Zwangsmaßnahmen handelt. Danach hat die Kommission sechs Monate um über angemessene Gegenmaßnahmen zu entscheiden. In dieser Zeit muss sie Parlament und Rat stets auf dem Laufenden halten.

Damit der Rat, dessen Zustimmung zu dem Gesetz anfänglich nicht sicher war, den Prozess nicht blockiert, muss auch er dem Parlament seine Entscheidungen erläutern. Koordination und Transparenz sollen durch eine einzelne Anlaufstelle für diese Maßnahmen gesichert werden.

Der für Handel zuständige Exekutiv-Kommissions-Vizepräsident, Valdis Dombrovskis, betonte noch einmal den Abschreckungs-Charakter des neuen Gesetzes. „Das Instrument gegen Zwangsmaßnahmen ist ein wichtiger Baustein im wirtschaftlichen Sicherheitsgefüge der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Wir werden es nur dann nutzen, wenn wir sicherstellen müssen, dass unsere politischen Entscheidungen frei von Einflussnahme durch Drittländer bleiben“, so Dombrovskis. Das Instrument schütze Industrie und Arbeitsplätze. „Es wird es uns ermöglichen, unsere legitimen Rechte und Interessen entschlossener zu verteidigen.“ Ebenso wie die EU sehen auch die G7 Handlungsbedarf: Im Mai gaben die Staats- und Regierungschefs der G7 bekannt, eine Plattform zur Koordinierung gegen wirtschaftlichen Zwang einzurichten.



 

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