Politik

Ökonom warnt: „Mittelschicht ist Verlierer der Wirtschaftspolitik“

Nicht nur Inflation, steigende Energiepreise und hohe Lebenshaltungskosten sorgen für eine steigende Überschuldung der Mittelschicht hierzulande. Auch die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung wird zunehmend ein Faktor, der die finanzielle Not der Mittelschicht verschärft, warnt der Wirtschaftsforscher Patrik-Ludwig Hantzsch im Gespräch mit den DWN.
29.12.2023 14:48
Aktualisiert: 29.12.2023 14:48
Lesezeit: 5 min

Vor dem Hintergrund anhaltender Inflation und wirtschaftlicher Unsicherheit bleibt die Zahl überschuldeter Privatpersonen in Deutschland hoch. Wie die Wirtschaftsauskunftei Creditreform in ihrem aktuellen Schuldneratlas analysiert, konnten im Jahr 2023 rund 5,65 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger über 18 Jahre ihre Rechnungen dauerhaft nicht bezahlen. Obwohl dies einen Rückgang von 233.000 Personen im Vergleich zum Vorjahr darstellt, bleibt die Überschuldungsquote mit 8,15 Prozent weiterhin hoch.

Zwar sind einkommensschwächere Personengruppen stärker von Überschuldung betroffen als Personen mit höherem Haushaltsnettoeinkommen. Auffällig ist jedoch, dass 5 Prozent mehr Normal- und Gutverdiener überschuldet sind als noch im Vorjahr.

Staat tut zu wenig auf der Entlastungsseite“

Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform, sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der zunehmenden Überschuldung der Mittelschicht und der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung: „Man darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzen, wie die aktuelle Bundesregierung derzeit agiert. Das ist für viele Unternehmen gelinde gesagt eine Katastrophe“, kritisiert Ökonom Hantzsch, der eine Vernachlässigung der Mittelschicht beobachtet, die trotz Lohnzuwächsen am stärksten unter den dauerhaft hohen finanziellen Verpflichtungen leidet. „Die Mittelschicht ist der Verlierer der jetzigen Überschuldungssituation, denn um die kümmert sich niemand so richtig.“

Derzeit setze der Mittelschicht vor allem die fehlende steuerliche Entlastung zu, so Hantzsch. „In den Sonntagsreden hören wir immer, dass die Mittelschicht die Stütze des Landes sei, die Leistungsträger, die jeden Tag aufstehen und mit ihrer Arbeit Wohlstand erzeugen und damit den Sozialstaat erst ermöglichen. Die Belastungen dieser Gruppe wachsen seit Jahren. Doch Tatsache ist, dass der Staat zu wenig auf der Entlastungseite unternimmt. Gerade im Bereich der Steuererleichterungen könnte die Ampel eine Menge machen, aber sie tut es nicht.“

In diesem Kontext betrachtet Hantzsch auch die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie kritisch. „Die Anhebung der Gastrosteuer von 7 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2024 ist ein Schlag ins Gesicht der Gastronomen", betont der Wirtschaftsforscher. „Sie haben auf das Versprechen der Ampel-Koalition vertraut, dass die Mehrwertsteuer dauerhaft niedrig bleibt.“

Viele Gastronomen stünden jetzt vor der schwierigen Entscheidung, ob sie die höheren Kosten an ihre Kunden weitergeben können, ohne diese verlieren. „Zusammen mit der bevorstehenden Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um 41 Cent auf 12,41 Euro pro Stunde führt dies zu einer erheblichen Unsicherheit in der gesamten Branche und hält dringend benötigte Investitionen zurück.“ Diese Entwicklung, so Hantzsch, spiegele ein größeres Muster der Zurückhaltung in der Binnennachfrage wider. „Wenn sich die Verbraucher und Verbraucherinnen zurückhalten, vor allem im klassischen Handel, dann wird das dazu führen, dass der Wirtschaftsmotor in der Binnenwirtschaft weiter stottert und damit werden auf lange Sicht Arbeitsplätze gefährdet.“

Mittelschicht vor großen Herausforderungen bei Immobilienzinsen

Hinzukommen – neben höheren Ausgaben für Energie und Lebenshaltung – gestiegene Kosten bei der Immobilienfinanzierung. "Verbraucher, die derzeit eine Anschlussfinanzierung für ihren Immobilienkredit benötigen, stehen vor besonderen Herausforderungen", so Hantzsch. "Die gestiegenen Zinsen können im schlimmsten Fall eine finanzielle Mehrbelastung von mehreren hundert Euro im Monat bedeuten.“

Wer 2013 eine Immobilie finanziert hat, sieht sich heute mit Zinssätzen von aktuell 4 Prozent und mehr konfrontiert, vor zehn Jahren waren es noch rund 2,6 bis 2,7 Prozent. "Diese Entwicklung hat zusammen mit der anhaltenden Inflation und den steigenden Lebenshaltungskosten innerhalb von nur eineinhalb bis zwei Jahren zu einem deutlichen Anstieg der finanziellen Fixkosten geführt", resümiert Hantzsch und warnt: „In den kommenden Jahren wird sich dieses Problem weiter verschärfen. Dann werden Anschlussfinanzierungen für Verträge fällig, die vor einigen Jahren für 1 Prozent oder weniger abgeschlossen wurden.“

Schuldnerberatungen am Limit

Die Konsequenzen dieses multilplen Krisenmodus, in dem sich die Mittelschicht befindet, sind allerdings schon jetzt sichtbar, und zwar in den Schuldnerberatungen. Dort bitte seit einigen Wochen eine Klientel um Hilfe, die früher niemals den Weg in einen Schuldnerberatung gefunden hätte, etwa finanziell abgesicherte Facharbeiter und Akademiker, so Hantzsch. Die Folge: Schuldnerberatungsstellen müssten zusätzliches Personal einstellen, um ihre Beratungsleistung erbringen zu können.

Vor diesem Hintergrund betont Prof. Dr. Johannes Treu, Wirtschaftswissenschaftler an der IU Internationalen Hochschule, die Bedeutung der finanziellen Bildung in der aktuellen Schuldendiskussion. „Neben den steigenden Lebenshaltungskosten und Energiepreisen hat die Phase der Niedrigzinsen dazu geführt, dass beispielsweise Konsumkredite für viele Menschen äußerst attraktiv geworden sind“, erklärt Treu. „Mit den steigenden Zinsen steigt das Risiko der Überschuldung, vor allem wenn das Verständnis für Tilgungsprozesse und Zinsauswirkungen fehlt.“

Entsprechend fordert Wirtschaftsforscher Hantzsch nicht nur den Ausbau der Insolvenz- und Schuldnerberatung hierzulande, sondern auch höhere und gezielte Bildungsinvestitionen zur Förderung der Finanzkompetenz der gesamten Bevölkerung sowie eine stärkere politische Sensibilisierung für die Belange überschuldeter Personen. Dazu zähle für ihn auch die Förderung einer verantwortungsbewussten Kreditvergabe. „Das kann jedoch nur ein Baustein im Rahmen einer Gesamtstrategie sein“, erklärt der Ökonom. „Wir müssen die Menschen auch wirtschaftlich und bildungspolitisch finanziell bilden.“

Mit Finanzbildung der Überschuldung begegnen

Auch Prof. Dr. Johannes Treu unterstreicht die essenzielle Bedeutung der finanziellen Bildung, insbesondere für junge Menschen. Laut Treus Studien vertraut die Generation Z, also diejenigen, die zwischen 1997 und 2012 geboren sind, hauptsächlich ihren Eltern in finanziellen Angelegenheiten. Er weist darauf hin, dass eine unzureichende finanzielle Bildung im familiären Umfeld das Verschuldungsrisiko und den Umgang mit Geld erheblich beeinflussen kann. Deshalb, so Treu, sei eine frühzeitige und ganzheitliche Finanzbildung entscheidend, um langfristige Schuldenfallen effektiv zu vermeiden.

In ähnlicher Weise betont Ökonom Hantzsch die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes zur Lösung der Überschuldungsproblematik. „Die Lösung des Problems erfordert einen mehrdimensionalen Ansatz, wobei die finanzielle Bildung eine zentrale Rolle spielt“, so Hantzsch. Er fügt hinzu, dass es wichtig sei, Menschen besser darüber aufzuklären, wie sie ihre Finanzen verwalten können. Darüber hinaus müsse die Bundesregierung Maßnahmen ergreifen, um die Wirtschaft zu stärken. „Eine starke Wirtschaft ist die Basis für alles – sie schafft Arbeitsplätze, generiert Einkommen und sorgt für Stabilität“, erklärt Hantzsch. Er ist überzeugt, dass nur durch eine Kombination dieser Maßnahmen der Überschuldung wirksam begegnet und eine nachhaltige finanzielle Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet werden kann.

Wir stehen erst am Anfang einer Überschuldungswelle“

Was die künftigen wirtschaftlichen Herausforderungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher angeht, bleibt Patrik-Ludwig Hantzsch pessimistisch: „Das Leben in Deutschland wird langfristig teurer und wir stehen erst am Anfang einer Überschuldungswelle“.

Der Abbau von Subventionen könne zwar unter bestimmten Umständen sinnvoll sein, müsse aber im Gesamtzusammenhang gesehen werden. „Es ist daher fraglich, ob die von Bundeskanzler Olaf Scholz Ende November angekündigte Abschaffung der Strom- und Gaspreisbremsen zum Jahresende die richtige Entscheidung war“, so Hantzsch und ergänzt: „Besonders hart trifft es diejenigen, die zum Beispiel ein Eigenheim abbezahlen. Sie müssen nicht nur mit hohen Immobilienzinsen, sondern auch mit dauerhaft hohen Energiekosten rechnen.“ Er verweist auf den aktuellen Schuldneratlas und betont, dass viele aktuelle Fördermaßnahmen, die die Verbraucher bisher vor hohen Preisen geschützt haben, bald auslaufen. „Mit Blick auf das Jahr 2024 oder gar 2025 wird die Überschuldung noch deutlicher werden.“ Seine Prognose: „Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung, die sich in den kommenden Jahren deutlich zuspitzen könnte.“

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