China ist zum weltweiten Spitzenreiter bei der zivilen Nutzung der Kernenergie aufgestiegen. Wie bereits in der vergangenen Woche gemeldet wurde, hat in der östlichen Provinz Shandong ein Kraftwerk mit zwei Reaktoren der neuesten Generation den kommerziellen Betrieb aufgenommen. Ein internationales Konsortium von Nuklearländern hat insgesamt sechs Reaktoren der vierten Generation gebilligt, und alle sollen in China gebaut werden. Die Reaktoren seien noch sicherer und benötigten weniger Brennstoff als frühere Generationen von Atomreaktoren.
„Mit den neuen Reaktoren ist China anderen Ländern im Bereich der Forschung und Entwicklung von Nukleartechnologie voraus“, zitiert das Wall Street Journal Francois Morin, den China-Direktor der World Nuclear Association, einer in London ansässigen Branchenvereinigung. Morin zufolge wird erwartet, dass westliche Länder ihre eigenen Kernkraftwerke der vierten Generation erst Anfang der 2030er Jahre in Betrieb nehmen werden.
Denn nach der Havarie von Fukushima im Jahr 2011 wendeten sich viele Länder von der Kernenergie ab. Damals kam es infolge eines Tsunamis zur teilweisen Kernschmelze von drei Reaktoren. Doch inzwischen setzen auch im Westen wieder zahlreiche Staaten (mit Ausnahme von Deutschland) auf billige und zuverlässige Kernenergie, auch weil sie im Kampf gegen den Klimawandel auf der Suche nach Energiequellen sind, bei deren Erzeugung kein CO2 anfällt.
Die USA und mehr als 20 weitere Länder gaben Anfang des Monats bekannt, dass sie die Kernenergie bis 2050 verdreifachen wollen. Europa hat in diesem Jahr seinen größten Kernreaktor in Betrieb genommen. Japan nimmt nach Fukushima stillgelegte Kraftwerke wieder in Betrieb, während Unternehmen wie NuScale Power und TerraPower von Bill Gates kleine modulare Reaktorprojekte entwickeln, deren Bau weniger kostspielig ist als bei herkömmlichen Reaktoren.
Auch China hatte den Bau neuer Kernkraftwerken nach Fukushima kurzzeitig gestoppt, setzte dann aber doch wieder auf Atomenergie. Die Kernenergie war in China trotz der Risiken und hohen Kosten ursprünglich mit der Energieversorgungssicherheit begründet worden. Doch inzwischen spielt auch hier der Kampf gegen den Klimawandel eine Rolle. Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) baut China derzeit 22 der 58 Reaktoren, die weltweit im Bau sind. Zudem betreibt das Land derzeit 55 Reaktoren.
Chinas neue Anlage in der Shidao-Bucht in Shandong wurde gemeinsam von der Tsinghua-Universität und zwei staatlichen Unternehmen entwickelt: der China Huaneng Group und der China National Nuclear Corporation. Mehr als 90 Prozent der Technologie des neuen Kraftwerks, das genug Strom für 200.000 Haushalte produzieren kann, wurde in China entwickelt, meldet die Nationale Energiebehörde des Landes.
Zur Kühlung des Reaktors wird Helium-Gas anstelle von Wasser unter hohem Druck verwendet, was das Risiko schädlicher Folgen bei Unfällen verringert. Die von den Reaktoren erzeugte große Hitze kann zur Wasserentsalzung, Metallverhüttung und für andere industrielle Prozesse genutzt werden. Ein passives Sicherheitssystem schaltet den Reaktor bei Problemen wie Stromausfällen automatisch ab, um Unfälle wie den in Fukushima zu verhindern.
China ist bestrebt, neben Russland und den USA ein weiterer Exporteur ziviler Nukleartechnologie zu werden. Bereits im Jahr 2013 sagte der damalige Direktor der Nationalen Energiebehörde Chinas, der Verkauf eines Kernkraftwerks ins Ausland sei so viel wert „wie der Export von einer Million Volkswagen Santana“. China bewirbt sich derzeit um den Bau des ersten Kernkraftwerks in Saudi-Arabien mit einem Angebot, das mindestens 20 Prozent billiger ist als konkurrierende Angebote aus Südkorea und Frankreich.
Neben anderen Arten von Nukleartechnologie der vierten Generation hat ein von China entwickelter kleiner modularer Reaktor als erster der Welt die Sicherheitsprüfung durch die Internationale Atomenergiebehörde bestanden. Dieser Reaktor, der etwa ein Drittel so groß wie herkömmliche Kernkraftreaktoren ist, wird voraussichtlich Mitte der 2020er Jahre in Betrieb gehen, Jahre vor ähnlichen Reaktoren, die von westlichen Unternehmen entwickelt werden, so Morin.
Im Juni erteilte die chinesische Atomaufsichtsbehörde eine zehnjährige Betriebsgenehmigung für Chinas experimentellen mit Thorium betriebenen Salzschmelzenreaktor. Solche Reaktoren, bei denen der Kernbrennstoff in geschmolzenen Salzen gelöst ist, gelten als sicherer und effizienter und produzieren weniger Abfall als herkömmliche wassergekühlte Reaktoren. China plant ihren Einsatz auch für Containerschiffe mit Nuklearantrieb.
China baut außerdem mit Hilfe Russlands einen so genannten „schnellen Brutreaktor“ im Wert von über 18,6 Milliarden Dollar. Solche Reaktoren können mit Plutonium betrieben werden, das bei der Rückgewinnung von abgebrannten Brennelementen aus konventionellen Reaktoren anfällt. Sie produzieren mehr Plutonium als sie verbrauchen.