Politik

Französische Verhältnisse: Wie Deutschland das Streiken übt und sich darin gefällt

Lesezeit: 3 min
01.01.2024 10:21  Aktualisiert: 01.01.2024 10:21
Der Jahreswechsel als Zeit der Besinnung und Kontemplation - das war einmal. Dieses Jahr scheint es, dass große Teile lieber als Streikposten auf der Straße Stellung beziehen als sich im Kreise der Familie auf das neue Jahr zu freuen. Erst die Lokführer, die Bauern, zuletzt Apotheker und Ärzte. Als nächstes die Verkäufer im Einzelhandel? Man möchte meinen, Deutschland übt sich in französischen Verhältnissen und findet Gefallen daran.
Französische Verhältnisse: Wie Deutschland das Streiken übt und sich darin gefällt
Mit einem Konvoi aus mehreren hundert Traktoren haben Landwirte und Landwirtinnen in ganz Deutschland - hier im Raum Siegen - Ende Dezember gegen Einsparläne der Ampel-Koalition protestiert. (Foto: dpa)

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An den klassenkämpferischen Herrn Weselsky von der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) haben sich die Bürger im Laufe der Jahre ja schon gewöhnt. Gerne zur Unzeit, den bevorstehenden Feiertagen zumeist, wenn man mit der Bahn zur Familie oder in den Schnee flüchten möchte, pfeift er seine kleine Schar von Schienenfahrzeugführern an die Front. Auch für Januar hat Claus Weselsky seine Mannen wieder auf unbefristete Streiks eingeschworen, um dann endlich 2024 seinen Hut zu nehmen und selbst in Rente zu gehen.

In den Stellwerken Ruhe vor dem Sturm

In den Stellwerken der Bahn mag jetzt noch die Ruhe vor dem Sturm herrschen. Und auch die Bauern mögen mit ihren Treckern und Mistgabeln kurz vor Weihnachten aus der Hauptstadt abgezogen sein, haben allerdings hier und dort einen mahnenden Galgen hinterlassen und wollen Anfang Januar ihren Protest in die Städte zurücktragen. Im Moment freilich wundern sich die Bürger vermutlich am meisten über die niedergelassenen Ärzte, von denen man nicht einmal ahnte, wie schlecht sie ökonomisch dastehen und darben müssen. Sie haben zwischen den Feiertagen symbolischen Ausstand geübt.

Mit der Aktion „Praxis in Not" erschreckte der Virchowbund die Bürger und tat kund, wie stinkesauer die Ärzteschaft auf die Regierung ist. Und dass es nicht beim dreitägigen Protest bleiben wird, sondern im Januar notfalls weitergeht, versprach Virchowbund-Chef Dirk Heinrich. Gesundheitsminister Karl Lauterbach müsse sich auf die Ärzte zubewegen. Der SPD-Politiker, selbst bekanntlich Mediziner und in Krisen auch als Impfarzt im Einsatz, wird sich wundern. Optimierte Arbeitsbedingungen für das medizinische Personal und eine bessere Versorgung für die Patienten, das ist eigentlich ja sein Credo. Dass ausgerechnet seine Kollegen höhere Honorare erwarten, und im November bereits die Apotheker für mehr Geld protestierten, dürfte das Weltbild des Sozialdemokraten schwer ins Wanken bringen.

Und gestern schließlich die Hiobsbotschaft des Handelsverbandes Deutschland (HDE): „Die Hoffnung auf einen Durchbruch zur Beendigung der Tarifrunde im Einzelhandel in Hamburg hat sich heute zerschlagen." Die Dienstleistungsgesellschaft Verdi fordert in allen Regionen Deutschlands mindestens 2,50 Euro die Stunde mehr Lohn. Eine Lösung des Konflikts sei „in weite Ferne gerückt", heißt es unisono. Die nächste Bevölkerungsgruppe, die es auf die Straße zieht. So dicke kam es im Lande lange nicht mehr.

Vor 150 Jahren der erste Streik der Drucker

Zugegeben, der lang gehegte Glaube, die disziplinierten Deutschen streiken so gut wie nie, ist ein von der Politik geschickt instrumentalisierter Mythos. Schon vor 150 Jahren ging es los, als die Drucker vier Monate auf die Barrikaden gingen, um für ihr Gewerbe den ersten Flächentarifvertrag der deutschen Geschichte zu erkämpfen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat die Streiks und Ausstände in einer Art Ahnentafel auf ihrer Homepage zusammengefasst. Man vergisst mitunter, welch teils dramatischen Arbeitskämpfe stattgefunden haben und wie Deutschland davon gesellschaftlich zumeist profitiert hat. 1956 etwa, als in Kiel die Stahl- und Werftarbeiter mitten im Winter streikten - für Lohnausgleich bei Krankheit, mehr Urlaub und sogar Urlaubsgeld. Vier Monate wurde in der Kälte gerungen, der längste Branchenstreik Deutschlands des vergangenen Jahrhunderts.

Doch die Bergarbeiter im Ruhrgebiet anno 1889 würden sich sicherlich die Augen reiben, wenn sie die Ärzte von heute in ihren strahlend weißen Kitteln streiken sehen. Und das ausgerechnet an den klassischen Ski-Urlaubstagen zwischen den Jahren, wo ohnehin so gut wie keine Praxis Sprechstunde hat und die Hotlines der Kassenärztlichen Vereinigung heiß glühen, weil Patienten eine Notversorgung suchen. Früher waren es die Arbeiter und Angestellte, jetzt sind es halt die Akademiker, die sich abgehängt fühlen. Oder geht es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes?

Früher streikten Arbeiter, heute Akademiker

Wo es früher vordringlich um die Tarifautonomie zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ging, in eingeübten Auseinandersetzungen mit Verhaltenskodex, scheint es neuerdings vor allem um Opposition, Ablehnung und teils auch Verachtung zu gehen. Früher hielt sich die Politik raus aus dem Arbeitskampf, heute scheint sie selbst Anlass für Aktionismus zu bieten. Dass sich derzeit scheinbar weite Teile der Bürgerschaft in breiter Front und (im Januar womöglich sogar gleichzeitig) in das Bündnis des Protests einreihen, hat es so in den Annalen des Landes noch nicht gegeben. Es geht oft gar nicht ums Geld, sondern um Veränderung. Da passt ins Bild, wenn obendrein bekanntlich die Jugend bei „Fridays for Future" vor dem Kanzleramt auftaucht, die Protestbewegung „Last Generation" sich auf Straßen und Landebahnen anklebt, Globalisierungs-Kritiker von Attac an Gebäuden und Bäumen anketten. Und ganz was Neues: Wenn Extremisten aus der autonomen Szene Betonwerke anzünden wie kürzlich in Berlin-Kreuzberg. Ein bisschen zu viel Streik und Demonstrationskultur für diese Jahreszeit.


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