Politik

„Wir stehen vor einer Dekade der Wohlstandsvernichtung“

Lesezeit: 7 min
18.01.2024 16:57  Aktualisiert: 18.01.2024 16:57
Der Jahreswechsel ist die Zeit der Prognosen. Diese fallen für Deutschland leider ungünstig aus, argumentiert der Ökonom Daniel Stelter im Interview.
„Wir stehen vor einer Dekade der Wohlstandsvernichtung“
Dunkle Wolken über dem Finanzzentrum Frankfurt. Der Ökonom Daniel Stelter rechnet mit einer Dekade der Wohlstandsvernichtung in Deutschland. (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sehr geehrter Herr Stelter, während die deutsche Wirtschaft in der Rezession steckt, kämpft die Bundesregierung gegen eine selbst verursachte Haushaltskrise und rutscht in Umfragen immer weiter ab. Steht 2024 eine Besserung bevor, oder werden sich die wirtschaftlichen und politischen Probleme Ihrer Einschätzung nach zuspitzen?

Daniel Stelter: Der Optimist in mir würde sagen: Es muss auch wieder nach oben gehen. Der Realist muss allerdings feststellen, dass die Rahmenbedingungen für einen solchen Aufschwung nicht günstig sind.

Wir erleben eine immer weitergehende Deglobalisierung, die sich auch in zunehmendem Protektionismus zeigt. Das trifft ein exportorientiertes Land wie Deutschland naturgemäß besonders.

Dass zeitgleich unsere Außenpolitik auf moralische Belehrung setzt, statt auf die Förderung der wirtschaftlichen Interessen, zeigt, wie sehr unsere Politik einer Bedeutungsillusion unterliegt. Die Kunden kaufen dann halt bei anderen.

Zugleich macht es die Politik den Unternehmen schwer, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten: Energiekosten, Personalkosten, Steuerbelastung, Bürokratie wirken wie Mühlsteine für unsere Unternehmen. Packen sie das Versagen bei der Modernisierung der Infrastruktur, der Digitalisierung und der Bildung hinzu, spricht wenig dafür, dass wir vor einem „Wirtschaftswunder“ stehen.

Die demografische Entwicklung ist dann nur noch der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Babyboomer gehen demnächst in Rente und die Zuwanderung erfolgt überwiegend in den Niedriglohnsektor und das Sozialsystem, trägt also nicht zur Lösung bei, sondern ist eine weitere Last.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Deutschland verzeichnet dieses Jahr möglicherweise als einziges Industrieland eine schrumpfende Wirtschaftsleistung. Sind wir wieder der „kranke Mann Europas“? Was muss getan werden, um eine Kehrtwende einzuleiten?

Daniel Stelter: Wir sind der „kranke Mann Europas“, was deshalb besonders schwer wirkt, weil die ganze EU im internationalen Vergleich immer mehr zurückfällt. Seit Jahren wächst der Rückstand des Pro-Kopf-BIP zwischen der EU und den USA. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird die Wohlstandslücke zwischen dem durchschnittlichen Europäer und dem Amerikaner im Jahr 2035 genauso groß sein wie heute zwischen dem durchschnittlichen Europäer und dem Inder.

Wenn Deutschland jetzt schwächelt, beschleunigt es den Niedergang der ganzen Region. Die Möglichkeiten zum Gegensteuern sind begrenzt: Die Demografie können wir nicht ändern, in einer deglobalisierten Welt wird Handel schwerer fallen.

Aber wir könnten sicherlich mehr von unserem immer noch gegebenen Potenzial heben, was allerdings voraussetzt, dass die Politik das Problem überhaupt als solches erkennt. Solange im Wirtschaftsministerium wichtige Personen auf Wachstumsverzicht aus Klimaschutzgründen setzen, bleibe ich da skeptisch. Wir brauchen den Willen, Wachstum wieder anzustreben und die Bereitschaft die zum Teil drastischen Reformschritte zu ergreifen. Ich fürchte allerdings uns läuft die Zeit davon, weil – wie erwähnt – die Babyboomer bald in Rente gehen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Stichwort Energie: Deren gesicherter Bezug ist die Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften und für einen funktionierenden Staat. Deutschland versucht sich mit Energiewende und Russland-Sanktionen energetisch grundlegend neu aufzustellen. Wie weit ist die Bundesregierung damit gekommen? Welche Risiken drohen?

Daniel Stelter: Auf den Punkt gebracht: Energie ist Wohlstand. Je besser verfügbar und günstiger Energie ist, desto wohlhabender ist ein Land. Natürlich kann und muss man mit Energie effizient umgehen, doch wie der internationale Vergleich zeigt, tun wir das in Deutschland für ein so stark industrialisiertes Land bereits. Deshalb dürfte es auch schwer sein, kurzfristig weitere signifikante Einsparungen zu erzielen, vor allem, weil diese auch überproportional teuer sind.

Teuer ist auch die ganze Energiewende. Es wurde immer nur auf die Kosten des Stroms direkt am Windrad oder direkt an der Solaranlage geschaut. „Vergessen“ wurden die Kosten für Netzausbau, Backups und den Umbau der Industrie. Rechnet man das alles zusammen, so kann man nur zu dem Schluss kommen, dass unser Weg der Energiewende ein sehr teurer ist und zugleich ein sehr dreckiger.

Billiges Gas aus Russland hatte beides kaschiert. Es war klimafreundlicher als Kohle und so günstig, dass die Ineffizienzen des Energiewendesystems zwar sichtbar aber noch bezahlbar waren. Damit ist nun Schluss und damit ist auch die Erzählung von den billigen Erneuerbaren als Märchen entlarvt. Wie man in diesem Umfeld voll funktionsfähige Kernkraftwerke abschalten konnte, werde ich nie verstehen.

Die Folge ist klar und meines Erachtens unumkehrbar: Die energieintensive Industrie wandert ab oder wird durch die Konkurrenz aus Ländern mit vernünftiger Energiepolitik verdrängt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das Bundesverfassungsgericht hat die von der Bundesregierung betriebene Umwidmung von Milliardenkrediten für die Klima-Politik als illegal eingestuft und dadurch eine Haushaltskrise ausgelöst. Was sagt das Urteil aus Ihrer Sicht über den grundsätzlichen Zustand der politischen Führung des Landes aus?

Daniel Stelter: Alles. Die Politik – übrigens auch schon die Regierungen unter Merkel – verwenden viel Kraft darauf, Dinge zu verschleiern. Da werden Kosten negiert oder kleingerechnet, da wird Nutzen versprochen.

In Wirklichkeit gibt es viele Geschichten, die einfach nicht stimmen. Die Energiewende hatten wir gerade. In die gleiche Kategorie fällt der ökonomische Nutzen der Zuwanderung. Oder die angebliche „schwarze Null“, die es nie gegeben hat, wenn man sauber rechnet. Ganz zu schweigen von der Rente, die sicher sei.

Daneben die vielen großen und kleinen Tricksereien im Staatshaushalt. Schuldentöpfe als Sondervermögen, Griechenlandrettung die angeblich nichts kostet usw. Wenn wir ehrlich sind, dürfen wir nicht auf die Politik zeigen, sondern müssen uns an die eigene Nase fassen. Denn zum Belogen werden gehören zwei: Derjenige, der lügt und derjenige der sich belügen lässt – nicht selten, weil er die Lüge lieber hören möchte als die Wahrheit.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Im Zuge der Haushaltskrise fordern einige Parteien eine Abschaffung der sogenannten „Schuldenbremse“. Wie stehen Sie zu dem Instrument? Muss es reformiert werden?

Daniel Stelter: Es ist unstrittig, dass wir einen erheblichen Sanierungsbedarf für unsere analoge und digitale Infrastruktur und das Bildungswesen haben, der aus den laufenden Budgets nur schwer zu finanzieren ist. Es ist aber ebenso richtig, dass dies nicht die Folge von Schuldenbremse und mangelnden staatlichen Mitteln ist, sondern die Folge einer Politik, die trotz Rekordeinnahmen und geringen Zinskosten die Mittel lieber in den Ausbau des Sozialstaats, statt in Investitionen gesteckt hat.

Die Einhaltung der „Schuldenbremse“ garantiert keineswegs nachhaltige Staatsfinanzen. In Wahrheit hat unser Staat in den vergangenen Jahrzehnten Versprechen für künftige Leistungen – Rente, Pensionen, Gesundheitsversorgung – abgegeben aber nicht entsprechend vorgesorgt. Faktisch beläuft sich die Verschuldung auf ein Vielfaches des Bruttoinlandsprodukts, rechnen Finanzministerium und EU-Kommission vor. In den kommenden Jahren werden diese latenten Verpflichtungen zu echten Zahlungen führen. Spätestens dann dürfte die Schuldenbremse Geschichte sein.

Wir brauchen Reformen. Am besten wäre eine Konsolidierung der Staatsfinanzen vor allem im Sozialbereich, da dessen Wachstum ohnehin vorgezeichnet ist. Ebenso wichtig ist eine Abkehr von ineffizienter und ineffektiver Klimapolitik, die wir uns so oder so auf Dauer nicht leisten können. Im Gegenzug sollte eine Reform der Schuldenbremse erfolgen, mit einer sauberen Definition dessen, was „Investition“ ist, zwingend überprüft durch eine unpolitische Instanz wie beispielsweise den Bundesrechnungshof.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Zu den wichtigen Standortfaktoren gehört auch das Bildungssystem. Der jüngsten Pisa-Studie zufolge hat Deutschland hier ein großes Problem. Warum rutschen deutsche Schüler im weltweiten Vergleich ins Mittelmaß ab? Und welche Folgen für den Wirtschaftsstandort hat dies aus Ihrer Sicht langfristig?

Daniel Stelter: Die kurze Antwort lautet: Schon seit Jahrzehnten tut sich unser Bildungssystem schwer damit, Kinder aus benachteiligten Haushalten – geringes Einkommen und niedriges Bildungsniveau der Eltern – zu fördern. Da die Zuwanderung überwiegend durch Menschen mit geringem Bildungsniveau erfolgt, wächst also die Gruppe jener überproportional an, die vom Bildungssystem nicht richtig gefördert werden.

Hier hätten wir spätestens ab 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, massiv investieren müssen, vor allem auch in frühkindliche Erziehung mit Fokus auf den Spracherwerb. Ich habe damals ein Investitionsprogramm von 50 Milliarden Euro gefordert – ohne Erfolg.

Die Politik hat von „wir schaffen das“ geredet, aber nichts dafür getan. Das was man getan hat, war das Leistungsniveau weiter zu senken, was zu dem Phänomen führt, dass immer mehr Jugendliche eine Eins vor dem Komma im Abitur haben, während die PISA-Ergebnisse abstürzen und die Universitäten erstmal Kurse für Mathematik und Deutsch anbieten müssen, um die Studierfähigkeit herzustellen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Der Anstieg des Zinsniveaus hat überschuldete Firmen in Bedrängnis gebracht, die Zahl der Insolvenzen steigt. Steht uns eine Pleitewelle bevor – oder wird die EZB mit Zinssenkungen eingreifen, bevor es dazu kommen sollte?

Daniel Stelter: Zum einen wäre es erfreulich, wenn es nach Jahren der Konkursunterdrückung durch billiges Geld zu einer Bereinigung käme. Das würde es auch neuen Wettbewerbern erleichtern, in die Märkte einzutreten.

Zum anderen wissen wir, dass die europäische Wirtschaft 2024 in eine Rezession zu fallen droht – Deutschland ist bereits in einer Rezession – und die Inflation eine Pause einlegen wird. Kombinieren Sie das noch mit den Problemen, die die Staatshaushalte bei höheren Zinsen bekommen und dann wissen Sie, dass die EZB die Zinsen wieder senken (muss). Ich denke die Notenbanker warten nur noch auf den geeigneten Anlass, den sie zur Entschuldigung für den Kurswechsel anführen können.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Daran anschließend die Frage: Selbst wenn die EZB die Leitzinsen wieder senken und Liquidität ins System spülen würde – würden diese Maßnahmen angesichts unserer Position im langfristigen Wirtschaftszyklus überhaupt Wirkung entfalten?

Daniel Stelter: Es dürfte vor allem den Staatshaushalten helfen, die dann wieder mehr Geld ausgeben können. Es sollte auch die Vermögensmärkte freuen, die allerdings dann auch in Erwartung einer wieder anziehenden Inflation steigen dürften.

Realwirtschaftlich wirkt es nur bedingt: Durch eine Stabilisierung der Baukonjunktur – vorausgesetzt, die Politik hört auf mit ihren Maßnahmen gegen Immobilieneigentümer von Zwangssanierung bis Mietendeckel – und durch eine weitere Abwertung des Euro, was den Exporteuren hilft.

Wirkliches Wachstum wird angesichts der demografischen Entwicklung schwer und nur grundlegende Reformen von Rente über Arbeitsmarkt bis zu Bürokratie und Energiekosten könnten hier etwas helfen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Um die Problematik hochverschuldeter Euro-Länder und Transfers innerhalb der Eurozone ist es medial ruhig geworden – ebenso wie um die Bankenkrise, welche im März in Form von Insolvenzen in den USA und des Kollapses der Credit Suisse aufflackerte. Haben sich beide Probleme erledigt?

Daniel Stelter: Natürlich nicht. Die Schuldenstände der Staaten in der Eurozone sind „Dank“ der Inflation relativ zum BIP etwas zurückgegangen bzw. langsamer gewachsen. Nun stehen wir vor dem nächsten Schub und das erinnert uns daran, dass wir den Point Of No Return, an dem man die Schulden noch hätte stabilisieren können, längst hinter uns gelassen haben.

Unsere Partner in der Eurozone setzen deshalb auf die EZB und auf Transfers bzw. gemeinsame Schulden auf EU-Ebene, die letztlich auch ein Transfer unserer Kreditwürdigkeit sind. Hier ist es höchste Zeit, dass wir eine Regierung haben, die den Willen hat, den deutschen Wohlstand und den deutschen Steuerzahler zu schützen.

Wir stehen – davon bin ich leider überzeugt – vor einer Dekade der Wohlstandsvernichtung und es wäre schön, hier eine Regierung mit einer Strategie zu haben. Leider sehe ich dies bei keiner der im Bundestag vertretenen Parteien als gegeben an.



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