Die Halbleiterindustrie hatte es besonders getroffen, aber auch Automobilzulieferer, die Baubranche, Apotheken und Drogeriemärkte. Die Rede ist von Lieferkettenschwierigkeiten, die während der Pandemie nahezu zum Stillstand in vielen Unternehmen fast aller Branchen führte. Denn ein hoher Anteil von Vorleistungsgütern und Rohstoffen, die hierzulande verarbeitet werden, kommt aus dem Ausland. Fehlt das Material, kann nicht produziert werden. So ziehen sich die Materialengpässe durch die gesamten Wertschöpfungsketten. Bricht sodann die Logistik zusammen, kann es das Unternehmen in die Knie zwingen, wie bei Hakle, Görtz, Portas oder Küchenquelle geschehen. Diese Traditionsunternehmen mussten während der Pandemie ganz aufgeben.
Mittlerweile entscheiden störungsfreie Lieferketten über den Geschäftserfolg und haben gezeigt, wie verwundbar viele Unternehmen sind. Gestörte Produktionsprozesse waren auch im Jahr 2023 noch nicht vollends behoben. Und so lässt der Blick auf die Geschäftsentwicklung im neuen Jahr keine Kehrtwende zum Besseren erkennen, wie eine aktuelle Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt. Im Gegenteil, von den befragten 2200 Betrieben erwarten nur 23 Prozent einen Anstieg der Produktion, 35 Prozent einen Rückgang. Dies hängt zwar auch mit der schwächelnden Konjunktur zusammen, aber fehlende Materialien spielen bei der Produktion ebenso eine entscheidende Rolle. So stiegen die Regelinsolvenzen im November 2023 gegenüber dem Vorjahresmonat um 18,8 Prozent an. Seit Mitte des vergangenen Jahres sind durchgängig zweistellige Zuwachsraten im Vorjahresvergleich zu beobachten.
Just in Case
Immer mehr Unternehmen denken daher um. Statt „Just in Time-Produktionen”, wie sie vor allem in der Automobilindustrie jahrelang gepflegt wurden, setzten die Unternehmen wieder mehr auf Lagerbestand oder Diversifizierung von Lieferketten des Portfolios über Handelspartner und -länder. Sie versuchen, sich von Lieferketten zu entkoppeln, um Bestände für kritische Komponente aufzubauen. Das Prinzip Lagerartikel nur bei Bedarf zu ordern und minimale Bestände vor Ort zu haben, geht nach jahrelanger Bestätigung nun nicht mehr auf. Lagerkosten wurden gespart, die Strategie war auf Kosteneffizienz ausgelegt. Doch das funktioniert vielerorts nicht mehr reibungslos. Die Rohstoff- und Warenverfügbarkeit wird immer mehr zu einem unkalkulierbaren Risiko, an dem schlimmstenfalls eine ganze Lieferkette dranhängt. Das Bestandsmanagement der Stunde heißt daher „Just-in-Case“, also für den Fall der Fälle. Die Lagerbestände werden wieder mehr auf Vorrat befüllt, um so das Risiko von Engpässen abzufedern. Die Beschaffungslogistik wird angepasst, indem sie auf diversifizierte Quellen setzt. Der Fokus liegt auf Lieferfähigkeit. Fehlende Vorprodukte kosteten allein 2021 bereits ein Prozent des Bruttoinlandsprodukt laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Noch im Juli 2023 beklagten rund 37 Prozent der befragten Einzelhändler (Quelle Statista) Lieferengpässe. Bei den Lebensmittelhändlern waren dies sogar fast 70 Prozent. Der Grund dafür liegt unter anderem in den Schließungen von Fabriken in Asien infolge der Corona-Krise. In der Automobilindustrie waren laut ifo-Institut im Oktober 2023 noch über 35 Prozent von Materialknappheit betroffen.
Thema Nummer eins
Auch werden Fertigungs- und Lieferprozesse an Standorte in die Nähe zu den Märkten verlagert, um langfristig für mehr Sicherheit in Lieferketten sorgen zu können. Laut einer Online-Befragung der ifo-Konjunkturumfragen bei mehr als 5000 Unternehmen in Deutschland zur Ausrichtung ihrer Beschaffungsstrategie im Jahr 2022, planten bereits fast 25 Prozent der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe die eigene Lagerhaltung zu erhöhen. Im Zuge der Corona Pandemie hatte bereits ein Bewusstseinswandel eingesetzt, welcher sich durch den Ukrainekrieg und den daraus folgendem Anstieg der Energiepreise fortsetzte. Besonders viele kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) bewerten das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Lagerhaltung neu. Risiken besser erkennen und überwachen ist außerdem bei den Unternehmen mehr in den Fokus gerückt. Denn die Lieferkettenprobleme führen nach Ansicht vieler Unternehmen nach einer Umfrage von Deloitte auch dazu, dass Deutschland als Wirtschaftsstandort an Attraktivität im Vergleich zu führenden Industriestandorten weiter sinkt oder sich gar ganz deindustrialisiert.
Verlässliche außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
Durch die Einführung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes vor gut einem Jahr sind die Belastungen für die Unternehmen noch einmal gestiegen. Zwar richtet sich das Gesetz gegen Zwangsarbeit, Sicherheitsmängeln und Ausbeutung, was an sich gut ist, aber die Umsetzung des Gesetzes verlangt den Unternehmen einiges ab. Sie müssen zusätzliche Berichte verfassen, Risiken überprüfen und Lieferanten schulen, um der Kontrollbehörde dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) gerecht zu werden. Kommt es beispielsweise zu Menschenrechtsverstößen bei einem Zulieferer wie vergangenes Jahr beim Gemüseproduzenten Biosabor aus Almeria, Spanien, reagieren die betroffenen Unternehmen sehr unterschiedlich. Rewe sah nach einer eingehenden Prüfung keine Anhaltspunkte für die Vorwürfe, Edeka brach Geschäftsbeziehungen mit mittelbaren Lieferanten ab und Lidl gab vor, die Missstände zu untersucht und diverse Maßnahmen eingeleitet zu haben. Mit allen drei Resultaten war das BAFA einverstanden. Doch das könnte sich bald ändern. Die EU hat sich auf eine europaweite Lieferkettenrichtlinie geeinigt. Unternehmen können künftig verklagt werden, wenn sie sich nicht genug um Menschenrechte bei ihren Zulieferern bemühen. Betroffene wären dann nicht mehr allein auf das BAFA als Kontrollbehörde angewiesen. Zudem gilt seit dem 01.01.2024 das Lieferkettengesetz nun bereits für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden, zuvor galt es erst ab 3.000 Beschäftigte. Die Verunsicherung in den Chefetagen dürfte weiter steigen. Bevor es um die Erfüllung von Lieferkettenvorgaben geht, sollten Unternehmen Rahmenbedingungen vorfinden, die es ihnen ermöglichen, wirtschaftlich in Deutschland oder Europa zu produzieren und die längerfristig bestand haben. Genötigte Produktionsumstellungen durch Standortumsiedelungen sind kostenintensiv und haben einen hohen logistischen Aufwand. Neue Freihandelsabkommen, der Abbau von unnötiger Zollbürokratie könnte ebenso zu einer Stabilisierung der Lieferketten führen, die dringend für die wirtschaftliche Stabilität gebraucht wird.