Wer sich ein Vermögen aufgebaut hat, steht im Alter vor einem Trilemma: Er will möglichst viel konsumieren, aber gleichzeitig soll das Geld bis ans Lebensende reichen und die Entnahmen sollen in ihrer Höhe auch nicht zu sehr schwanken. Finanzexperten haben unzählige Entnahmestrategien entwickelt, um das Trilemma zu lösen. Besonders bekannt ist die Vier-Prozent-Regel aus der Trinity-Studie von 1998. In der Studie versuchten drei Finanzprofessoren der texanischen Trinity-Universität, eine „sichere Entnahmerate“ zu ermitteln - also eine Entnahme, bei der das Vermögen mit hoher Wahrscheinlichkeit für lange Zeiträume von 25 oder 30 Jahren reicht. Laut den Ergebnissen ist es bei einem Entnahmebetrag von 3 oder 4 Prozent „äußerst unwahrscheinlich“, dass ein Aktien-Anleihen-Portfolio vor dem Lebensende verbraucht ist. Das gelte zumindest für die US-Finanzmärkte zwischen 1926 und 1995, stellten die Forscher fest. Dabei gingen sie davon aus, dass der Anleger im ersten Jahr insgesamt vier Prozent des angesparten Vermögens aufbraucht und anschließend den gleichen Betrag plus einen Inflationsausgleich bis ans Lebensende entnimmt.
Vier-Prozent-Regel ist „nicht optimal“
Auch der Finanzökonom Philipp Schreiber hält die 4-Prozent-Regel für einen Planungshorizont von 20 bis 30 Jahren für „ausreichend sicher“. „Basierend auf historischen Kapitalmarktdaten kann man die Aussage tätigen, dass das Risiko, sein Vermögen vorzeitig zu verbrauchen, bei einem Planungshorizont von 30 Jahren bei circa sechs Prozent liegt“, erklärt der Professor der Hochschule Esslingen, der zu Entnahmestrategien forscht. Im Schnitt reicht das Vermögen laut Schreiber 25 Jahre lang. „Die durchschnittliche Pleiteperiode beträgt bei der Vier-Prozent-Regel 25 Jahre“, erklärt er gegenüber DWN.
Dennoch halte er die Strategie persönlich „nicht für optimal“. Im Normalfall liege die Kapitalmarktrendite über einen Zeitraum von 30 Jahren oberhalb von vier Prozent pro Jahr. Es verbleibe daher ein hohes Endvermögen. „Man hinterlässt dann ein ungeplantes Erbe.“ Laut der Sterbetafel des Statistischen Bundesamts werden weniger als zehn Prozent der Männer 93 Jahre oder älter. Bei Frauen liegt die Grenze aufgrund der höheren Lebenserwartung bei 96 Jahren. Daher sollte eine Entnahmestrategie mindestens 25 bis 30 Jahre lang Auszahlungen erwarten lassen, damit Senioren im hohen Alter nicht mittellos werden. Neben der 4-Prozent-Regel können Anleger das Vermögen in Zinsanlagen parken, die kaum bis gar nicht im Wert schwanken (Tagesgeld, Festgeld, Geldmarkt-Fonds etc.), und jedes Jahr einen festen Betrag X herausnehmen. Wer etwa 25 Jahre lang abgesichert sein möchte, würde jedes Jahr 1/25 seines Vermögens aufbrauchen (zum Beispiel 20.000 Euro bei einem Vermögen von 500.000 Euro). Der Vorteil: Das Vermögen kann nicht vor Ablauf der 25 Jahre erschöpft sein und der Konsum ist in jedem Jahr gleich hoch. Schreiber hält diese Kaminsims-Strategie in der Studie „Entsparen im Alter“ aber nicht für optimal, denn der Anleger verzichte auf die höhere Rendite von Aktien und der Lebensstandard im Alter sei entsprechend geringer. Außerdem schützt die Strategie wenig vor Inflation und könnte sich in einem Extremszenario wie einem Euro-Crash als besonders verwundbar erweisen.
Hoher Vermögensvorteil durch Aktieninvestment
Philipp Schreiber rechnet es in der Studie vor: Wer bei Rentenbeginn 500.000 Euro in ein 60/40-Portfolio investiere und historisch durchschnittliche Kapitalmarktrenditen erziele, könne pro Jahr 20.000 Euro entnehmen und habe nach 25 Jahren noch immer durchschnittlich 1,1 Millionen Euro auf der hohen Kante. Wer hingegen in Zinsanlagen investiere und 20.500 Euro pro Jahr entnehme, der hätte nach 25 Jahren gar kein Vermögen, das er vererben oder konsumieren könne. Schreiber simulierte in der Analyse Tausende von möglichen Zukunftsszenarien, indem er aus einem Datensatz von historischen Kapitalmarktrenditen zufällige Stichproben zog. Gleichwohl bevorzugt Schreiber persönlich eine dynamische Strategie, bei der sich der Entnahmebetrag abhängig von der Marktentwicklung verändert. Empirische Studien zeigten, dass die meisten Teilnehmer einen schwankenden Entnahmebetrag vorziehen. „Dies liegt aus meiner Sicht auch daran, dass für viele das Aktienportfolio nicht die alleinige Altersvorsorge ist“, erklärt der Finanzökonom. „Wenn man schon eine gesetzliche/betriebliche/private Rente erhält, kann man leichter Schwankungen im Konsum in Kauf nehmen.“ Etwa schlägt der Vermögensverwalter Vanguard in einer Studie von 2020 eine dynamische Entnahme innerhalb einer festen Ober- und Untergrenze vor. Im ersten Jahr entnimmt man dabei 4 Prozent des Gesamtvermögens. Anschließend wird der Entnahmebetrag um die Inflation und die Marktentwicklung angepasst, wobei der Entnahmebetrag zum Vorjahr höchstens um fünf Prozent steigen und um 1,5 Prozent sinken darf. Laut Vanguard reduziert eine dynamische Strategie das Risiko einer vorzeitigen Pleite und ermöglicht höheren Konsum als die Entnahme eines fixen Betrags wie bei der 4-Prozent-Regel. Dafür schwanken die Entnahmen kräftiger. Gleichzeitig würde der Entnahmebetrag aber weniger stark schwanken, als bei Entnahme eines fixen Prozentanteils (zum Beispiel bei Entnahme von fünf Prozent des Depotwerts vom Vorjahr). Es handle sich daher um einen „treffenden Mittelweg“.
Optimale Strategie gibt es nicht
Laut der Vanguard-Studie können Anleger mit einer Entnahmerate von 5,3 Prozent über 30 Jahre rechnen, wenn sie die dynamische Vanguard-Strategie verfolgen (Annahme: Anfangsentnahme von fünf Prozent). Bei einem starren Entnahmebetrag von 5 Prozent des Anfangsvermögens plus Inflationsausgleich liege die Entnahmerate im Schnitt bloß bei 4,6 Prozent. Die Vanguard-Forscher gingen dabei von einem Portfolio von 50 Prozent Aktien und 50 Prozent Anleihen aus. Sie simulierten wie Philipp Schreiber Tausende von Kapitalmarktszenarien anhand von historischen Daten, um die beste Strategie zu finden.
Eine optimale Strategie gibt es aber laut Schreiber nicht. Entscheidend sei die Risikobereitschaft des Anlegers. „Man muss sich fragen, ob man bereit ist, ein Pleiterisiko einzugehen oder ob man mit einem schwankendem Konsum in der Entsparphase leben kann“, erklärt der Professor.
Wer eine eigene Strategie entwickeln möchte, kann auf das Online-Tool „Entspar-Simulator“ zurückgreifen, das Philipp Schreiber mit Kollegen entwickelt hat. Hier können Anleger hochrechnen lassen, ob das eigene Vermögen über einen bestimmten Zeitraum reichen dürfte oder ob eine vorzeitige Pleite wahrscheinlich ist. Außerdem können Anleger über die Internetseite „Wie alt werde ich?“ abschätzen lassen, wie wahrscheinlich ein hohes Lebensalter ist. Die Seite berücksichtigt unter anderem Angaben zum Beruf, Lebensstil und Einkommen. Laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2017 unterschätzen die Deutschen ihre Lebenserwartung um sieben Jahre. Grund sei, dass der medizinische Fortschritt außer Acht gelassen werde und sich einzig am Alter der Großeltern und Eltern orientiert werde.