Im andauernden Ukrainekonflikt entscheidet vor allem ein Waffensystem über den Frontverlauf: die Artillerie. In der Materialschlacht sind es vor allem schwere Granaten und Sturmgewehre, die die beiden Seiten zum Vorstoß benötigen. Anders als Kiew schafft es Moskau, riesige Mengen von Artilleriegranaten zu kaufen, aus alten Beständen zu holen und mittlerweile auch zu produzieren. Russlands Rüstungsindustrie könnte eine neue Phase des Krieges einläuten — wie auch den Aufstieg Deutschlands als Rüstungsmacht.
Drei Millionen Granaten jährlich: Moskau erreicht seine Produktionsziele
Die langen Diskussionen über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern lenken dieser Tage von einem viel wichtigeren Versorgungsengpass ab. Die USA und Europa produzieren derzeit nur etwa 1,2 Millionen Artilleriegranaten jährlich für die Ukraine. Laut eigenen Angaben produziert die russische Rüstungsindustrie hingegen drei Millionen Granaten.
So kann die russische Armee schrittweise ihre Position verbessern. Während die ukrainischen Streitkräfte nur etwa 2.000 Granaten täglich verschießen, sind es aufseiten der Russen um die 10.000. Diese Ratio bestimmt maßgeblich über den Verlauf der Frontlinien, der sich in den letzten Monaten zugunsten Moskaus verschoben hat. Anders, als es von vielen Seiten erwartet wurde, sind es klassische Waffen wie Artilleriekanonen und Gewehre, die den Krieg entscheiden. Angebliche Wunderwaffen wie der Leopard-Panzer von Rheinmetall oder deutsche Marschflugkörper können die ukrainischen Truppen nur mäßig unterstützen.
Russland: Wachstum in der Wirtschaft durch die Rüstungsindustrie
Lange galt die russische Rüstungsindustrie als ineffizient. Und Moskau versucht nach wie vor, Produktionsrückstände auf zwei Wegen auszugleichen: Erstens sollen etwa drei Millionen Granaten aus der Sowjetzeit eingesetzt werden, zweitens werden große Einkäufe im Iran und in Nordkorea getätigt. Diese beiden Maßnahmen sicherten die Versorgung der russischen Armee ab. Nun aber hat Moskaus Wirtschaft erhebliche Summen für die Stärkung der Rüstungsindustrie aufgewendet.
Verteidigungsminister Sergei Schoigu lobte kürzlich die unermüdliche Arbeit in Russlands Munitionsfabriken. Bei einem Besuch in der Region Nizhny Novgorod behauptete er, die Produktion habe früher als geplant ihre Ziele erreicht. „Nach der Inbetriebnahme der neuen Anlagen stieg das Produktionsvolumen sogar um fast das 2,5-fache“, sagte der Minister am 21. März.
Die russische Wirtschaft wuchs auch aufgrund der gesteigerten Militärausgaben im Januar 2024 um 4,6 Prozent. Etwa 3,5 Millionen Russen sind in der Rüstungsindustrie beschäftigt. Firmen wie Almas-Antei, bekannt für die S-400 Raketensysteme, und Sevmash tragen dabei eine entscheidende Rolle. Almas-Antei steht auf der Sanktionsliste der EU, schafft es aber nach wie vor, seine komplexen Systeme zu produzieren und zu exportieren, etwa nach China, Indien und in aller Voraussicht nach in die Türkei.
Somit hat die Rüstungsindustrie den Rohstoffexport als wichtigstes Standbein der russischen Wirtschaft abgelöst. Es wird davon ausgegangen, dass Russlands Wachstum in den nächsten 18 Monaten weiter auf dieser Grundlage florieren könnte. Und im Kreml herrscht die Annahme, dass Kiew mit drei Millionen eingesetzten Artilleriegranaten jährlich bis zum Jahr 2025 besiegt sein dürfte. Ob die Russische Föderation auch danach als Rüstungsriese weiterbestehen wird, ist fraglich.
Profitiert Rheinmetall vom Rüstungswettlauf?
Angesichts erneuter Bombardements auf Kiew und der Stabilisierung der russischen Frontlinie stellt sich die Frage, wie viel Zeit der Ukraine bleibt, um den Rüstungswettlauf noch zu bestehen. Zwar konnte die Ukraine mit 700.000 Granaten aus tschechischen Restbeständen unterstützt werden, die ihr der tschechische Präsident Petr Pawel zusicherte. Doch abgesehen davon bleiben die westlichen Waffenlieferungen weit hinter den Erwartungen zurück.
So zögern selbst die US-Demokraten, ihre Rüstungsindustrie hochzufahren. Joe Biden könnte den Defense Production Act erwirken, um ein Äquivalent zur russischen Kriegswirtschaft zu schaffen. Doch liegt das Hauptaugenmerk des Präsidenten auf den bevorstehenden Wahlen. Da militärische Hilfen für die Ukraine zunehmend unpopulär geworden sind, hält sich Washington zurück, und die Hilfen für die Ukraine könnten mit der erneuten Wahl Donald Trump vollständig zum Erliegen kommen.
Auch schaffen es die Europäer nicht, ihre Waffenproduktion so schnell anzukurbeln, dass ein Mächtegleichgewicht an der Front erreicht würde. Vorstöße gibt es allerdings von Rheinmetall. Das Unternehmen will an drei neuen Standorten in Deutschland, Ungarn und der Ukraine vor allem Artilleriegranaten im großen Stil produzieren. Geplant ist eine Produktion von etwa einer Million Granaten jährlich. So hieß es vonseiten des Unternehmens am 24. Februar:
„Mit der auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz unterzeichneten Absichtserklärung zur Gründung eines Joint Ventures zur Produktion von Artilleriemunition stellt Rheinmetall die Weichen für die Eröffnung eines neuen Werks in der Ukraine und unterstreicht damit erneut die Ernsthaftigkeit seines Engagements in der Ukraine.“
Und selbst bei einem Ende des Krieges in der Ukraine dürfte die Aktie des Rüstungsunternehmens weiter zulegen. So bestellte allein Spanien Artilleriegranaten im Wert von 208 Millionen Euro, die Bundeswehr wiederum bestellte 123 Schwere Waffenträger Infanterie im Wert von 2,7 Milliarden Euro. Der Aufschwung der russischen Kriegswirtschaft und der zunehmende Rückzug von den USA aus der Ukraine könnte somit eine gravierende Folge für Europa haben: den Aufstieg Deutschlands als Rüstungsmacht.