Finanzen

Riskant: Wirtschaftsexperten fordern eine Lockerung der Schuldenbremse

In ihrer Gemeinschaftsdiagnose sehen Top-Ökonomen die deutsche Wirtschaft an einem Tiefpunkt. Sie plädieren für einen radikalen Schritt: Die Aussetzung der Schuldenbremse, um Investitionen anzukurbeln. Eine Maßnahme mit Chancen und Risiken für die öffentlichen Finanzen & die finanzielle Last jedes Steuerzahlers.
13.04.2024 12:17
Lesezeit: 3 min

Zweimal jährlich veröffentlicht eine Gruppe führender Wirtschaftsforschungsinstitute, beauftragt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, die „Gemeinschaftsdiagnose“ – eine umfassende Analyse der wirtschaftlichen Lage Deutschlands.

Zu den teilnehmenden Instituten gehören das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo Institut) an der Universität München in Kooperation mit dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), das Kieler Institut für Weltwirtschaft (ifw), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) und das RWI in Essen, welches mit dem Institut für Höhere Studien in Wien zusammenarbeitet. Gemeinsam bündeln sie ihre Expertise, um ein klares und umfangreiches Bild der wirtschaftlichen Entwicklungen und künftigen Perspektiven Deutschlands zu entwerfen.

Das aktuelle Frühjahrsgutachten 2024 fällt ernüchternd aus: Die deutsche Wirtschaft steht an einem kritischen Punkt und die Wachstumserwartungen mussten drastisch nach unten korrigiert werden. Statt der im Herbst erhofften Zunahme von 1,3-Prozent ist nur noch von einem marginalen Wachstum von 0,1-Prozent die Rede.

Frühjahrsgutachten 2024: Schwaches Wachstum, zögerliche Investitionen, steigende Preise

Die Wirtschaftsexperten prognostizieren, dass sich die Verbraucherpreise in diesem Jahr um 2,3-Prozent und im Folgejahr um 1,8-Prozent erhöhen werden. Berücksichtigt man die anhaltend hohen Energiekosten, so wird mit einer Kerninflation von 2,8-Prozent für 2024 und von 2,3-Prozent für 2025 gerechnet. Der Zuwachs beim privaten Konsum zeigt weniger Schwung als von den Ökonomen erwartet. Dies spiegelt hauptsächlich die abgeschwächte Nachfrage wider. Der Kostennachteil energieintensiver Produkte verschärft zusätzlich die Lage.

Als Konsequenz fällt die deutsche Wirtschaftsleistung voraussichtlich um mehr als 30 Milliarden Euro hinter den ursprünglichen Prognosen zurück. Inflation und schwacher Konsum schmälern den wirtschaftlichen Optimismus. Zudem behindert zögerliches Investitionsverhalten ohne gezielte politische Maßnahmen die Aussicht auf eine nachhaltige Erholung.

Experten: Keine Hoffnung auf schnelle wirtschaftliche Belebung

Fortwährende Unsicherheiten in der Wirtschaftspolitik stellen ein weiteres Hemmnis für das deutsche Investitionsklima dar. Gleichwohl die Prognosen für das nächste Jahr eine gewisse Belebung der Investitionen vermuten lassen, wird doch nur mit einer Rückkehr zum Investitionsniveau des Jahres 2017 gerechnet.

„Der bisherige Dreiklang aus schwacher Konjunktur, stagnierender Politik und gebremstem Wachstum wechselt nun von einer pessimistischen zu einer leicht optimistischen Tonlage“, erläutert Stefan Kooths, Konjunkturchef am ifw Kiel, und mahnt dennoch zur Vorsicht bezüglich schneller wirtschaftlicher Erholung.

Debatte um die Schuldenbremse: Bundesbankvorschlag könnte Investitionsspielraum erweitern

Dies führt zu der Frage, wie sich Deutschlands Wirtschaft wieder ankurbeln lässt. In der Debatte um fiskalische Impulse hat die Gemeinschaftsdiagnose eine Neuausrichtung der Schuldenbremse ins Spiel gebracht - gestützt von aktuellen Empfehlungen der Deutschen Bundesbank. Danach könnte die Grenze für das strukturelle Defizit von derzeit 0,35-Prozent auf 0,5-Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) angehoben werden, sofern die gesamte Schuldenquote unter 60-Prozent des BIP verbleibt. Wird diese Schwelle überschritten, so könnten dennoch Nettoinvestitionen bis zu 0,15-Prozent des BIP durch neue Kreditaufnahmen finanziert werden.

Schuldenbefürworter sehen in einer solchen Lockerung die Chance, essenzielle öffentliche Investitionen zu tätigen, die sonst durch fiskalische Restriktionen limitiert werden. Solch ein Ansatz könnte den Handlungsspielraum der Bundesregierung erweitern, denn derzeit erlaubt die Schuldenbremse eine zusätzliche Staatsverschuldung ausschließlich in Krisenzeiten wie Naturkatastrophen oder schweren wirtschaftlichen Einbrüchen und Krisen, z.B. der Pandemie.

Übermäßige Staatsverschuldung als Risiko für den Steuerzahler?

Die Kehrseite dieser Medaille ist das potenzielle Risiko einer erhöhten Last für zukünftige Generationen und eine Verschlechterung der fiskalpolitischen Glaubwürdigkeit Deutschlands auf globaler Bühne, was negative Reaktionen an den Finanzmärkten hervorrufen könnte. Kritiker der Lockerung warnen zudem vor einer unverhältnismäßigen Betonung des gegenwärtigen Konsums auf Kosten langfristiger Investitionen und einer Neigung zu übermäßiger Staatsverschuldung.

Für den Steuerzahler könnte eine Lockerung der Schuldenbremse im „Worst Case“ bedeuten, dass steigende Staatsschulden langfristig durch höhere Steuern oder Abgaben ausgeglichen werden müssen. Eine solche Entwicklung könnte das wirtschaftliche Wachstum weiter hemmen und den Wohlstand der Bürger beeinträchtigen. Falls die staatlichen Kredite zu höheren Zinslasten führen, könnten Kürzungen bei öffentlichen Leistungen und Investitionen notwendig werden, um die Budgetdefizite zu kontrollieren.

Es bleibt daher zu hoffen, dass Entscheidungen rund um die Schuldenbremse wohlüberlegt und mit Blick auf die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen getroffen werden. Nur so lässt sich für Deutschland eine nachhaltige und zukunftsorientierte Finanzpolitik beschreiten.

Die Schuldenbremse: Zwischen Investitionsförderung und Haushaltsrisiko

Wird die Schuldenbremse gelockert? Trotz aller Zweifel könnte die Bundesregierung dies tatsächlich in Erwägung ziehen. Bereits im Februar hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages die Spielräume für eine Ausweitung der staatlichen Verschuldung prüfen lassen – ein deutliches Indiz für die hohe Priorität, die dem Thema innerhalb der politischen Spitze zukommt.

In Deutschland wird die Schuldengrenze immer wieder diskutiert, kürzlich vor allem nach einem richtungsweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023. Das Gericht entschied, dass gewisse Kreditaufnahmen, die im Kontext des Klima- und Transformationsfonds standen und die zukünftige Budgetflexibilität in Höhe von 60 Milliarden Euro sichern sollten, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind und erklärte die Positionen im Nachtragshaushalt des Bundes für nichtig.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Zehn S&P 500‑Aktien mit Aufholpotenzial: So bewerten Analysten Chancen und Risiken
01.11.2025

Zehn S&P 500‑Aktien, die Analysten trotz schwächerer Jahresperformance als chancenreich einstufen, werden auf Wachstum, Bewertung und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Lithium und die Energiewende: Wie der Rohstoff Elektronik und E-Mobilität vorantreibt
01.11.2025

Lithium gilt als das Metall unserer Zeit. Smartphones, Laptops und Elektroautos kommen ohne es nicht aus. Die Nachfrage steigt rapide,...

DWN
Finanzen
Finanzen Altersrente berechnen: So hoch ist die Maximalrente in Deutschland
01.11.2025

Im Alter gilt, je mehr Rente, desto besser. Doch selbst mit extra Schichten oder einem hohen Einkommen ist der maximale Betrag an...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Winzer unter Druck: Wie sich eine Branche neu erfinden muss
01.11.2025

Der deutsche Weinbau steckt in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Sinkender Konsum, steigende Kosten und eine zunehmende...

DWN
Technologie
Technologie Wärmepumpen als Zeichen moderner Energieeffizienz: Wie KI ihre Leistung steigern wird
01.11.2025

Das Heizen wird künftig noch effizienter, kostengünstiger und komfortabler. Dank künstlicher Intelligenz werden Wärmepumpen in der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Fahrradverleih in Europa: Wie nachhaltige Mobilität jährlich 305 Millionen Euro bringt
01.11.2025

Fahrräder sind in vielen europäischen Städten längst Teil der urbanen Mobilität. Bikesharing bietet Vorteile über den reinen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Chip-Markt: Neues Öl oder neue Bombe?
01.11.2025

Chips sind das Rückgrat der KI-Revolution. Doch hinter Rekorden und Milliardendeals wächst das Risiko. Ein Blick in die...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Bäder für Kreuzfahrtschiffe: Wie Stengel mit Serienfertigung Maßstäbe setzt
31.10.2025

Ob für Disney Cruise Line oder Carnival Cruises: Mit Nasszellen für Kreuzfahrtschiffe zeigt die Stengel GmbH aus Ellwangen, wie ein...