Politik

DWN-Interview: Ukraine-Krieg - Zehn Jahre nach dem Massenmord von Odessa

Lesezeit: 8 min
02.05.2024 06:35  Aktualisiert: 02.05.2024 11:05
Am 2. Mai 2014 ist es in der ukrainischen Stadt Odessa zu einem Massenmord gekommen, bei dem fast fünfzig Menschen qualvoll ums Leben gekommen sind. In den westlichen Medien fand der Vorfall seinerzeit wenig Beachtung. Auch zehn Jahre danach wird die Bedeutung dieses Ereignisses für die aktuelle politische Lage weiterhin unterschätzt. Die DWN sprechen mit dem Militärhistoriker Dr. Lothar Schröter, welche geopolitische Bedeutung der Krim und der Stadt Odessa zukommen.
DWN-Interview: Ukraine-Krieg - Zehn Jahre nach dem Massenmord von Odessa
Die Region Odessa war Ende 2013/Anfang 2014 ein Widerstandszentrum gegen den Maidan-Putsch (Foto: iStockphoto.com/repinanatoly).
Foto: repinanatoly

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Der Massenmord in der ukrainischen Stadt Odessa ist ein plakatives Beispiel dafür, mit welcher Brutalität rechtsextreme Gruppierungen in der Ukraine gegen Teile der eigenen Bevölkerung vorgehen. Darüber sprachen die Deutschen Wirtschaftsnachrichten mit dem Militärhistoriker und Major a. D. der NVA Dr. Lothar Schröter, dessen Buch Der Ukraine-Krieg kürzlich erschienen ist. Außerdem erläutert Schröter, welche geopolitische Bedeutung der Krim und der Stadt Odessa zukommen und warum es gerade Frankreich ist, das einen Einsatz seiner Truppen in der Ukraine ins Spiel gebracht hat.

DWN: Vor zehn Jahren kam es zu einem Anschlag auf ein Gewerkschaftshaus in Odessa. Können Sie unseren Lesern in Erinnerung rufen, wie es dazu kommen konnte?

Lothar Schröter: Odessa war ein Zentrum des Widerstandes gegen den Maidan-Putsch Ende 2013/Anfang 2014, aber auch eine starke Bastion der prowestlichen, nationalistischen und auch teilweise faschistischen Kräfte. Dennoch hatte es in der Stadt zunächst keine offensichtlichen Gewaltakte zwischen den sich gegenüberstehenden Lagern gegeben.

Mitte Januar 2014 eskalierte die Situation, etwa parallel zur Verschärfung der Lage in Kiew. Es gab massive Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, z. B. in der Nähe des Gebäudes der regionalen Staatsverwaltung von Odessa. Alles steigerte sich zu einer harten Konfrontation zwischen den Verfechtern des so bezeichneten Euromaidan und den Gegnern der nationalistisch-faschistischen Kräfte, welche auf dem Maidan in Kiew gegen die Janukowitsch-Führung aufbegehrten.

Ende Februar/Anfang März, als auch in Odessa Vertreter des neuen Regimes die Oberhoheit beanspruchten, uferten die Ereignisse aus. Wie in der gesamten östlichen und südöstlichen Ukraine verlangten auch in Odessa die Gegner des Umsturzregimes, dass die russische Sprache im Lande wie bisher benutzt werden darf, den Schutz der Rechte der russischsprachigen Minderheit und eine Dezentralisierung der Macht in der Ukraine im Sinne von Autonomieregelungen. Außerdem sollten gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten und dem Rechtsextremismus entgegengetreten werden.

Den Horror-Höhepunkt markierte dann der Massenmord am 2. Mai 2014: Auf einer Freifläche vor dem örtlichen Gewerkschaftshaus hatten etwa 300 Gegner des „Euromaidan“ eine Zeltstadt errichtet. Viele von dessen Anhängern hatten sich etwa zeitgleich im Stadtzentrum von Odessa versammelt. Dort kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen, während derer beide Seiten Schlagstöcke, Stahlrohre, Pflastersteine, Rauchbomben und Molotowcocktails, aber auch Schusswaffen einsetzten. 6 Menschen (2 Anhänger des „Euromaidan“ und 4 ihrer Widersacher) verloren dabei ihr Leben.

Die Maidan-Leute waren zahlenmäßig überlegen, weswegen sich ihre Gegner teilweise vor das Gewerkschaftshaus zurückzogen. Dorthin wurden sie verfolgt mit neuen Szenen der Gewalt. Zuerst wurde versucht, die Zeltstadt zu zerstören. Die Polizei unternahm nichts, um die Menschenmenge unter Kontrolle zu bringen. Es flogen Steine und Molotowcocktails. Als die Angreifer – es wird von insgesamt etwa 2.000 Anhängern des Maidan-Putsches berichtet – sich mehr und mehr durchsetzten, flohen die Angegriffenen in das Gewerkschaftshaus. Dort verschanzten sich etwa 380 Menschen. Am Abend dann stand das gesamte Gebäude in hellen Flammen.

Die Angaben zur Zahl der Toten der Hölle von Odessa schwanken, wenn auch nur leicht. Realistisch sind 48 Tote insgesamt, davon 31 im Gewerkschaftshaus (1 weiterer Mensch von dort starb an seinen Verbrennungen im Krankenhaus), 9 Tote beim Sprung aus den Fenstern des brennenden Gebäudes, 1 weiterer im Krankenhaus an den erlittenen Verletzungen, 4 Tote im Stadtzentrum, 2 weitere im Krankenhaus an erlittenen Schussverletzungen. Mehr als 250 Menschen wurden verletzt.

Unter den Toten waren sieben Frauen und ein gerade noch Minderjähriger. Die meisten stammten aus Odessa oder dem Gebiet Odessa, sie waren also alle ukrainische Staatsangehörige.

Es waren ukrainische Faschisten, vor allem des organisierten „Rechten Sektors“, die das Gewerkschaftshaus in Brand steckten. Die Täter wurden nie zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil wird das Verbrechen heute sogar hochstilisiert zur Heldentat. Der ukrainische Abgeordnete der nationalistischen Radikalen Partei Mossijtschuk erklärte am 2. Mai 2016 entsprechend: „Es wird eine Zeit kommen, in der der 2. Mai ein nationaler Feiertag sein wird, denn an diesem Tag haben die Ukrainer den ersten wirklichen Sieg im gegenwärtigen nationalen Befreiungskrieg errungen.“ Und in einem Internet-Nachrichtenportal aus Odessa wurde am 7. Mai 2014 ein Vertreter des „Rechten Sektors“ mit den Worten zitiert: „Der 2. Mai ist eine weitere leuchtende Seite unserer vaterländischen Geschichte.“

DWN: Wie kommt es, dass gerade in der Ukraine neonazistische Gruppen einen derart starken Einfluss haben?

Lothar Schröter: Man muss zwischen der West- und der Ostukraine unterscheiden und den Blick auf die Geschichte richten. Die Westukraine gehörte mit dem Gebietsteil Galizien zur Habsburgermonarchie (bis zu deren Zusammenbruch 1918), danach größtenteils zum wiedererstandenen Polen. Galizien hatte den Blick vorrangig nach Westen – nicht nach Russland – gerichtet, denn die nun wieder polnischen Teile des Zarenreiches hatten zuvor unter der Knute des Zarismus noch viel mehr gelitten als die anderen Teile unter österreichischer und deutscher Herrschaft. Alles fruchtbarer Boden für Russophobie. Dies verschärfte sich noch, als im Ergebnis des polnischen Aggressionskrieges gegen Sowjetrussland zwischen 1918 und 1921 große Teile der Westukraine erpresserisch von Sowjetrussland abgetrennt wurden. Sie gerieten unter das Diktat des halbfaschistischen, antirussischen und besonders antisowjetischen Regimes in Warschau, für das der Name Piłsudski (1867-1935) steht.

Nach der Wiederherstellung der Curzon-Linie 1939, von den Westalliierten am 8. Dezember 1919 als Demarkationslinie zwischen Sowjetrussland und Polen verkündet, und besonders nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR am 22. Juni 1941 erlebte die Russophobie im Kontext eines insgesamt extremen Nationalismus in der Westukraine einen rasanten Aufstieg, der seinen natürlichen Bündnispartner im deutschen Faschismus fand. Die ukrainischen Nationalisten, die selbst nahtlos zu Faschisten mutierten, wurden Helfershelfer der hitlerdeutschen Okkupanten. Sie beteiligten sich am terroristischen Besatzungsregime, ermordeten Tausende von Ukrainern, Russen, Polen, Juden und Angehörigen anderer Nationalitäten, von Kommunisten, Partisanen und Widerstandskämpfern, richteten blutige Massaker an.

Stellvertretend für diese Kriegsverbrecher und Massenmörder stehen Stepan A. Bandera, Roman J. Schuchewitsch oder Jaroslaw S. Stezko. Letzteren, der seit 1966 Ehrenbürger der kanadischen Stadt Winnipeg war, empfingen 1983 USA-Präsident Reagan und sein Stellvertreter Bush als „letzten Ministerpräsidenten eines freien ukrainischen Staates“ im Weißen Haus, und am 11. Juli 1982 hatte die rot-schwarze Flagge der ukrainischen Faschisten-Organisation OUN-B über dem Kapitol in Washington geflattert. Noch lange nach der Befreiung 1945 setzten die ukrainischen Faschisten ihren Terrorkrieg gegen Bevölkerung und Staat fort. Erst 1954 wurden sie vorerst endgültig besiegt.

Die spätestens nach der „orangenen Revolution“ Ende 2004/Anfang 2005 einsetzende Verehrung für Bandera, Schuchewitsch, Strezko und andere Faschisten, für ihren „nationalen Befreiungskampf“, öffnete das Ventil für eine Faschisierung von Teilen der ukrainischen Gesellschaft. Nun soll sogar in einem historischen Park in Kiew für sie ein „Nationales Pantheon der Helden“ errichtet werden. Vor diesem gesamten Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die Nationalisten und Faschisten in der Westukraine die höchsten Wahlergebnisse verzeichnen. Ihre parlamentarische Vertretung „Swoboda“ erreichte bei den Wahlen 2012, als sie im gesamten Land gut 10 Prozent der abgegebenen Stimmen erlangte, in den westlichen Regionen der Ukraine weitaus mehr, so im Gebiet Lwow über 38 Prozent oder in Iwano-Frankowsk fast 34 Prozent.

Außerdem ist der ideologisch verhetzende Einfluss von „Swoboda“ und aller ukrainischen Rechtsextremen bis heute weitaus größer, als es die Wahlergebnisse ausdrücken. Zu Iwano-Frankowsk noch: Zu dieser von einem bekennenden Faschisten als Bürgermeister geführten Kommune nahm die Landeshauptstadt Potsdam unter SPD-Oberbürgermeister Schubert 2023 bewusst eine Städtepartnerschaft auf.

DWN: Werden diese Gruppierungen von anderen Mächten instrumentalisiert, um geopolitische Interessen durchzusetzen?

Lothar Schröter: Instrumentalisiert ist vielleicht zu viel gesagt. Zwei US-Präsidenten sollen einen lateinamerikanischen Diktator so charakterisiert haben: „Er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.“ Die 1918 geschlagenen uniformierten und zivilen deutschen Eliten mochten den böhmischen Gefreiten Hitler auch nicht. Aber er war ihnen 1933 das Nützlichste, was ihnen passieren konnte. Und so ist es wohl mit den ukrainischen Nationalisten und Faschisten auch. Man sieht über ihre unsägliche Programmatik, ihre Untaten, ja ihre Verbrechen hinweg. So wie der Westen als oberster Hüter der lupenreinen Demokratie auch darüber hinwegsieht, dass in der Ukraine alle oppositionellen Parteien verboten sind oder dass die Korruption in Staat und Gesellschaft ungeahnte Ausmaße erreicht.

Das ist für den Wertewesten ebenso unwesentlich wie, wenn in den baltischen Staaten Neonazis das Haupt erheben, faschistische Traditionsvereine fröhliche Urständ feiern und Friedhöfe für SS-Veteranen angelegt und staatlicherseits gefördert werden, während Gedenkstätten für die Opfer der faschistischen Barbarei, z. B. die für das jüdische Ghetto in Riga, auf private Spenden angewiesen sind, um ihre Mahn-und Aufklärungsarbeit fortsetzen zu können.

DWN: Welches ist die militärisch-strategische Bedeutung der Krim für die Russische Föderation? Was wäre das Ergebnis gewesen, wäre Russland von der Halbinsel vollständig verdrängt worden?

Lothar Schröter: Zunächst muss man wissen, dass die russische Seekriegsflotte fünf operativ-strategische Gruppierungen umfasst, von denen jede einzelne (mit Ausnahme vielleicht der Kaspischen Flottille) für Russland existenziell ist. Mit anderen Worten: Der Bedeutungsverlust schon einer einzigen dieser Gruppierungen würde die Verteidigungsfähigkeit des Landes insgesamt in Frage stellen, auf jeden Fall aber die Rolle Russlands als Groß- und Weltmacht. Eine dieser Gruppierungen ist die Schwarzmeerflotte.

Die militärischen Hauptbedrohungen Russlands mit Ziel auf sein Herz kommen von Land direkt von Westen und von See her von Süden. Das hatte sich schon im Bürger- und Interventionskrieg (1918-1922) und im Großen Vaterländischen Krieg (1941-1945) gezeigt. Von dorther bestimmt sich nun die überhaupt nicht zu überschätzende Rolle der russischen Schwarzmeerflotte auch heute. Zusätzlich dazu ist es ihr Auftrag, dazu beizutragen, dass Russland auf kurzem Weg Zugang zum Mittelmeer behält. Nicht zuletzt soll die russische Schwarzmeerflotte die Verbindung und allseitige Versorgung ihrer eigenen Seekriegsbasis im syrischen Tartus gewährleisten mit den entsprechenden politisch-militärischen Einflussmöglichkeiten im Nahen Osten.

Die russische Schwarzmeerflotte besitzt in der Region sechs Marinebasen. Ganz deutlich vor Noworossisk an der Ostküste (wohin jetzt wegen der ukrainischen Drohnenangriffe und der schon eingetretenen schmerzhaften Verluste große Teile der schwimmenden Einheiten verlagert wurden) ist Sewastopol der Marinestützpunkt der russischen Flotte im Schwarzen Meer.

Seine erzwungene Aufgabe drohte schon 2013/14, als in Kiew die extrem nationalistischen Kräfte das Übergewicht gewannen und die Verwandlung Sewastopols in einen riesigen Marinestützpunkt der NATO absehbar war. Dies hätte bedeutet, dass, nachdem Bulgarien und Rumänien mit ihren Seestreitkräften und Marinebasen bereits an den Nordatlantikblock verloren gegangen waren, das Schwarze Meer zum Mare Nostrum der NATO geworden wäre. So, wie es weitestgehend schon das Mittelmeer ist und wie es nach dem Willen des Nordatlantikpaktes und vor allem seiner besonders russlandfeindlichen Mitglieder Polen und aus den Baltikum die Ostsee werden soll. Der Verteidigungsminister der nach dem Maidan-Putsch an die Macht gekommenen ukrainischen Regierung erklärte denn auch sofort, dass er die 1997 geschlossene Vereinbarung über den russischen Flottenstützpunkt für eine unerträgliche Schmach halte, die schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen sei.

Der außerordentlich bedeutungsvolle globalstrategische Vordenker der USA Brzeziński, dessen weitreichende, gar nicht zu überschätzende Ideen für Washington auch noch heute den Fahrplan bestimmen, hatte schon im Jahre 1997 betont, dass die Halbinsel Krim uneingeschränkt dem russischen Einflussraum entrissen werden müsse, um Moskau geostrategisch gänzlich aus dem Schwarzen Meer und der assoziierten Region zu drängen. Gewänne man die Krim für die NATO, so Brzeziński, wären auch jegliche Bestrebungen für regionale Hegemonie Russlands in Eurasien verwirkt. Der namhafte US-amerikanische Ökonom Jeffrey D. Sachs schätzte dazu ein: „Das alles kann man als Wiederauflage des Krimkriegs (1853-1856) betrachten: Russland soll aus der Schwarzmeerregion gedrängt werden.“

Schon aus all den aufgeführten rein machtpolitischen Gründen, aber auch aus Gründen des relativen militärischen Gleichgewichts als Voraussetzung für die Friedenserhaltung konnte und kann Moskau den Verlust der Krim nie und unter keinen Umständen zulassen. Ähnlich war die Situation für die USA mit den sowjetischen Nuklearraketen auf Kuba 1962.

Lesen Sie auch den zweiten Teil dieses Interviews, in dem Militärhistoriker Lothar Schröter aufzeigt, welche Rolle Odessa im aktuellen Ukraine-Krieg zufällt, warum der Krieg eine Zeitenwende darstellt und warum Frankreich über die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nachdenkt.

Info zur Person: Dr. Lothar Schröter, geboren 1952, studierte von 1970 bis 1974 Geschichte und Russische Sprache an der Pädagogischen Hochschule in Leipzig. Er absolvierte anschließend ein postgraduales Studium der Militärgeschichte und arbeitete bis 1990 erst als wissenschaftlicher Assistent am Militärgeschichtlichen Institut in Potsdam, dann als promovierter und habilitierter Oberassistent und Dozent. Bis zum Eintritt ins Rentenalter in der beruflichen Aus- und Weiterbildung tätig. Zahlreiche Publikationen, darunter „Militärgeschichte der BRD“ (1989), „Die NATO im Kalten Krieg“ (2009), „USA – Supermacht oder Koloss auf tönernen Füßen?“ (2009) und „Künftige Supermacht in Asien? Militärpolitik und Streitkräfte der Volksrepublik China“ (2011). Sein jüngstes Buch Der Ukraine-Krieg ist in der Edition Ost der Eulenspiegel Verlagsgruppe erschienen. Seit 1996 ist Schröter Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e. V.


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