Politik

​​​​​​​„Russland kann weder bezwungen noch eingeschüchtert werden.“

Lesezeit: 10 min
20.06.2024 14:26
Sergej J. Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland, äußert sich im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten über den Terroranschlag in der „Crocus City Hall“ bei Moskau, den Konflikt in der Ukraine, die russisch- deutschen Beziehungen und die Frage, ob Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland wieder aufgenommen werden könnten - sofern das gewollt wäre.
​​​​​​​„Russland kann weder bezwungen noch eingeschüchtert werden.“
Sergej J. Netschajew ist ein russischer Diplomat und seit 2018 Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland (Foto: Russische Botschaft).

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DWN: Herr Botschafter, der schreckliche Terroranschlag am 22. März 2024 im Konzertsaal „Crocus City Hall“ bei Moskau hat uns alle tief bestürzt. Wie schätzen Sie die Reaktion der deutschen Seite ein?

Botschafter Netschajew: In diesen tragischen Tagen haben uns zahlreiche Kondolenzschreiben und Beileidsbekundungen erreicht, insbesondere von dem Bundespräsidenten, dem Bundeskanzler, Mitgliedern des Kabinetts, Bundestagsabgeordneten und diversen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Tragödie in Krasnogorsk hat Tausende deutsche Staatsbürger und unsere Landsleute in Deutschland zutiefst bewegt. Die Menschen zeigten ihr Mitgefühl, indem sie zu den russischen Auslandsvertretungen Blumen, Kinderspielzeug und Kerzen brachten, um der Opfer dieses grausamen Terroranschlags zu gedenken. Zahlreiche ausländische Diplomaten in Berlin haben in der Botschaft kondoliert. Wir haben gespürt, dass viele über diese abscheuliche Tat erschüttert waren und gemeinsam mit uns trauerten. Von Herzen danken wir allen für ihre Anteilnahme, Unterstützung und Verurteilung dieses niederträchtigen Terroranschlags und ihre Solidarität mit Russland und dem russischen Volk.

DWN: Am 17. März fanden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Doch auch bei Ihnen in der Botschaft konnten russische Bürger ihre Stimme abgeben. Wie ist das verlaufen?

Botschafter Netschajew: Am 17. März 2024 hat in den Wahllokalen in der russischen Botschaft in Berlin sowie im Generalkonsulat in Bonn die Stimmabgabe bei den Wahlen des Präsidenten der Russischen Föderation stattgefunden. Im Unterschied zu den vorherigen Jahren wurde nur in zwei russischen Vertretungen abgestimmt, weil die deutsche Seite ihre Zustimmung zum Betrieb von vier der insgesamt fünf russischen Generalkonsulate in Deutschland widerrufen hat. Deswegen hat man in Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig und München anders als früher keine Wahllokale geöffnet, wodurch die Botschaft und das Generalkonsulat in Bonn einer deutlich stärkeren Belastung ausgesetzt waren und Unannehmlichkeiten für unsere Mitbürger entstanden. Vor allem für diejenigen, die weit entfernt von unseren Vertretungen wohnen.

Leider wurde am Wahltag trotzt etlicher Ersuchen der Botschaft nicht für eine allgemein übliche Wahlkampfruhe gesorgt, die auch ein Verbot von Wahlwerbung bedeutet hätte, vor allem in unmittelbarer Nähe der Wahllokale. Nichtsdestoweniger ist es uns gelungen, die Abstimmung nach Maßgabe der russischen Rechtsvorschriften durchzuführen, wobei alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen eingehalten wurden. Wir bedanken uns bei den deutschen Polizeibeamten, die ihre Aufgaben professionell erfüllt haben. Es wurden keine Zwischenfälle bzw. Rechtsverstöße an den Wahllokalen festgestellt, keine Beschwerden von Wählern bzw. Wahlbeobachtern eingereicht. Alles verlief offen und transparent. An beiden Wahllokalen hat der amtierende Präsident Wladimir Putin einen deutlichen Sieg für sich verbucht.

DWN: Die russisch-deutschen Beziehungen sind so schlecht wie noch nie. Halten sie deren Verbesserung mittel- bis langfristig für möglich? Und, wenn ja: Unter welchen Voraussetzungen?

Botschafter Netschajew: Mir fällt es schwer, die gegebene Lage, als normal zu bezeichnen. Der politische Dialog fehlt. Der zwischenstaatliche und -behördliche, parlamentarische und gesellschaftliche Austausch ist auf Initiative der deutschen Seite auf Eis gelegt worden. Man hat den Dienststellen in Deutschland auf allen Ebenen empfohlen, sämtliche Kontakte mit russischen Vertretern zu vermeiden. Rund um unser Land wird künstlich eine toxische Atmosphäre geschürt. Es ist mittlerweile gang und gäbe, dass gegenwärtige Probleme Deutschlands durch „russische Einflussnahme“ und als Folge russischer Politik erklärt werden.

Es ist bedauernswert, dass Berlin den Weg der Konfrontation mit Russland gewählt hat. Das umfangreiche und einzigartige Erbe der deutsch-russischen Beziehungen, Jahrzehnte der positiven Kooperationserfahrung und die besonderen vertraulichen Verbindungen zwischen unseren Ländern und Völkern sind verworfen. Manche in Berlin träumen sogar davon, Russland „eine strategische Niederlage“ zuzufügen, seine Wirtschaft und sein Finanzsystem zu zerstören und immer neue Sanktionspakete einzuführen, die aber vor allem Deutschland selbst spürbar schaden. So was gab es nicht mal während der heißesten Phasen des Kalten Krieges.

Wir können auch nicht erkennen, dass man in dieser äußerst gefährlichen Haltung umzudenken versucht. Ich meine unter anderem die Einlassungen einiger deutscher Politiker, man müsse sich auf einen Krieg mit Russland vorbereiten und sein Territorium und seine Infrastruktur angreifen. Diese Rhetorik ist inakzeptabel. Sie führt nur zu einer weiteren Eskalation. Solange im Westen nicht begriffen wird, dass Russland weder bezwungen noch eingeschüchtert werden kann, sind reale Wege zur Besserung der Lage eigentlich nicht in Sicht.

DWN: Auf dem Weltjugendfestival, das kürzlich in Sotschi stattgefunden hat, hat Präsident Putin gesagt: „Wenn Russen und Deutsche ihre Kräfte vereint haben, gab es immer goldene Zeiten“. Können Sie dafür Beispiele geben?

Botschafter Netschajew: Um nicht zu tief in die Geschichte einzutauchen, lassen Sie mich ein Beispiel aus der Nachkriegszeit anführen. Es ist wohl bekannt, dass die Aussöhnung zwischen unseren Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ostpolitik von Willy Brandt, der Aufbau der umfassenden Wirtschaftsbeziehungen mit der UdSSR, unter anderem im Energiebereich, massiv dazu beigetragen haben, dass Deutschland zur führenden Wirtschaftsnation Europas aufgestiegen ist, hohe soziale Standards erreicht und sein Ansehen auf der Weltbühne als Brücke zwischen Ost und West erhöht hat.

Ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, dass Deutschland seine Wiedervereinigung vor allem der UdSSR zu verdanken hat. Nachdem Deutschland und Russland die Block-Konfrontation überwunden hatten, setzten sie die Intensivierung der Beziehungen in sämtlichen Bereichen fort. Der Austausch in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Bildung und Zivilgesellschaft erhielt damals einen mächtigen Auftrieb. Unsere Länder ergänzten sich gut, rückten näher zusammen und diese Kooperation bedeutete eine gegenseitige Bereicherung. Natürlich waren nicht alle im Westen mit dieser Entwicklung zufrieden. Gegenwärtig ist das einzigartige Tragwerk der bilateralen Beziehungen bis auf die Grundmauern zerstört. Wer profitiert bitte davon? Bestimmt nicht die Deutschen.

DWN: Bislang profitierte die deutsche Wirtschaft enorm von den Gaslieferungen, die über die „Nord Stream 1“-Pipeline erfolgten (während „Nord Stream 2“ zum Zeitpunkt der Sprengung noch nicht in Betrieb genommen war). Halten Sie eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen für denkbar?

Botschafter Netschajew: Erstens wurde einer der beiden Stränge von Nord Stream 2 nicht beschädigt und steht für den Start von Gaslieferungen jederzeit zur Verfügung. Man muss es nur wollen. Das hat der russische Präsident mehrmals betont. Zweitens gibt es eine Jamal-Europa-Pipeline, die durch das polnische Territorium führt. Warschau hat den Gastransport gestoppt, aber die Infrastruktur ist weiterhin intakt. Letztendlich gibt es eine Transitroute durch die Ukraine. Zunächst hat Kiew eine der beiden Gasleitungen dicht gemacht. Jetzt erklärt die ukrainische Regierung, sie habe keine Absicht, den bald auslaufenden Transitvertrag zu verlängern. Technisch sind Gaslieferungen also möglich, der politische Wille ist jedoch nicht vorhanden. Ein Beispiel dafür sind die stockenden Ermittlungen zu den Terroranschlägen auf die beiden Nord-Stream-Pipelines, die vor allem die deutschen und russischen Interessen beeinträchtigt haben. Bedenken Sie: Über Nordstream 1 wurden mehr als 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr nach Deutschland geliefert und über Nordstream 2 wäre noch einmal die gleiche Menge in Ihr Land geströmt. Es wäre ein großer Vorteil für den Industriestandort Deutschland gewesen.

DWN: Die deutsche Bundesregierung erklärt hingegen, Russland bzw. „Gazprom“ habe den Gashahn bereits vor der Sprengung der Pipelines de facto zugedreht. Können Sie dem zustimmen?

Botschafter Netschajew: Natürlich nicht. Sie sprechen über eine Episode, zu der es seitens Gazprom mehrmals ausführliche Erläuterungen gegeben hat. Kurzum, Nord Stream 1 konnte damals nur begrenzt genutzt werden, weil nur eine der insgesamt sechs Siemens-Turbinen auf der Verdichterstation Portowaja in Betrieb war. Die anderen mussten repariert und planmäßig gewartet werden. Siemens Energy hat aber nur eine der Turbinen repariert und dabei die Vertrags- und Garantiebedingungen verletzt, indem die Turbine aus seiner Werkstatt in Kanada nicht direkt nach Russland, sondern nach Deutschland verschickt wurde. Tatsache ist, dass Russland seine Vertragspflichten in Bezug auf die Gaslieferungen immer voll eingehalten hat. Das kann niemand bestreiten.

Letztendlich wurde Deutschland gezwungen, auf die langjährige, gegenseitig nutzbringende Energiepartnerschaft mit Russland zu verzichten. Dabei wurde den Deutschen versprochen, die Gaslieferungen aus Russland würden durch LNG aus den USA ersetzt werden. Das ist teuer und umweltschädlich. Jetzt treten aber auch damit Probleme auf. Doch es war nicht unsere Entscheidung. Inwieweit sie dem gesunden Menschenverstand und den nationalen Interessen Deutschlands entspricht, ist eine andere Frage, die jemand anderer beantworten müsste.

DWN: Die Lieferung der Siemens-Turbine aus Kanada nach Deutschland und nicht nach Russland erfolgte aus Sorge, man könne gegen Sanktionen verstoßen, die der Westen gegen Russland verhängt hat. Wie kommt Ihr Land denn generell mit diesen Sanktionen klar?

Botschafter Netschajew: Die Idee der westlichen Politiker, die russische Wirtschaft mit all diesen illegalen Sanktionen zu „zerfetzen“, war von Anfang an zum Scheitern verdammt. Unserer Wirtschaft geht es gut. Sie hat sich an die neuen Umstände konsequent angepasst. Beispiel Bausektor: Im letzten Jahr wurden in Russland 110 Millionen Quadratmeter Wohnfläche durch den Bau neuer Wohnungen geschaffen und in diesem Jahr rechnen wir mit einem ähnlichen Erfolg. Auch der Landwirtschaft geht es bestens. Im letzten Jahr haben wir eine Rekordweizenernte eingefahren. Unsere Überschüsse können wir exportieren oder in einigen Fällen auch an Länder des globalen Südens verschenken. Die Produktvielfalt hat ebenfalls zugenommen und die Qualität der Produkte lässt nichts mehr zu wünschen übrig.

Ich will nicht sagen, dass uns die Sanktionen anfänglich nicht auch ein paar Probleme bereitet hätten – die aber haben wir inzwischen gelöst. Die Nischen westlicher Unternehmen, die auf Forderung der Politiker, den günstigen russischen Markt verlassen haben, werden vom russischen Business sowie befreundeten Staaten erfolgreich neubesetzt. Einheimische Produzenten beseitigen die Defizite effizient. Notwendige Importe aus westlichen Ländern konnten wir durch Einfuhren aus anderen Ländern problemlos ersetzen – und in diese Richtung strömt jetzt auch vermehrt unser Öl und unser Gas.

Unser Bruttoinlandsprodukt ist im letzten Jahr um 3,6% gestiegen. Russland ist gemessen an der Kaufkraftparität inzwischen die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und sie wird sich weiter diversifizieren und weiterhin wachsen.

DWN: In Deutschland und dem Westen wird der russische Einmarsch in die Ukraine als „unprovozierter Angriffskrieg“ bezeichnet. Mögen Sie unseren Lesern die russische Sichtweise der Geschehnisse darlegen?

Botschafter Netschajew: Es ist verwunderlich, dass so eine Frage nach mehr als zwei Jahren Militäroperation in der Ukraine gestellt wird. Der Präsident der Russischen Föderation, der russische Außenminister sowie andere Regierungsvertreter haben mehrmals detailliert die Zusammenhänge von Geschehnissen in der Ukraine dargelegt. Die Antworten auf alle Fragen sind frei zugänglich. Unter anderem im jüngsten Interview von Wladimir Putin mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson.

Zu den heutigen Entwicklungen in der Ukraine wäre es niemals ohne die konsequente Politik des Westens, insbesondere der USA, gekommen. Die NATO mit ihrer Infrastruktur wurde kontinuierlich nach Osten ausgedehnt, entgegen allen Zusagen und bekannten Versprechen. Unsere grundlegenden Sicherheitsinteressen wurden missachtet und ignoriert. Es wurde auch nach dem Ende des Kalten Krieges aktiv versucht, Russland dauerhaft zu schwächen und zu destabilisieren. Das lässt sich nicht bestreiten.

Im Rahmen dieser Politik wurde die Ukraine systematisch darauf vorbereitet, ihre engen Verbindungen mit Russland zu kappen, auf den eigenen Neutralitätsstatus zu verzichten und der NATO beizutreten. Auf diesem Weg gab es mehrere Stationen. Damit meine ich unter anderem die vom Westen vorbereiteten und gut bezahlten „Farbrevolutionen”. Es sollten in Kiew neue “Eliten” an die Macht kommen, deren Hauptaufgabe darin bestand, Russenfeindlichkeit in der Gesellschaft zu verbreiten, den ukrainischen Nationalismus zu schüren und Andersdenkende zu unterdrücken. Die ukrainische Zukunft sollte dabei nur und ausschließlich mit dem Westen verbunden sein. Der Höhepunkt dieser Fehlentwicklung war der sogenannte Maidan, der von den USA finanziert wurde und im Februar 2014 in einen blutigen Staatsstreich mündete. Das passierte direkt nach der Unterzeichnung einer Vereinbarung zur Lösung der politischen Krise zwischen dem Präsidenten der Ukraine Janukowitsch und den Oppositionsführern. Die Hohen Vertreter aus Deutschland, Frankreich und Polen haben als Vermittler den Putsch nicht verurteilt und nicht zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in der Ukraine aufgerufen. Der Staatsstreich wurde von Nationalisten und Neonazis unter russenfeindlichen Parolen angeführt. Die Situation ist über den rechtlichen Rahmen hinausgegangen. Der legitime Präsident wurde verfolgt und musste fliehen. Im Donbass und in anderen Teilen der russischsprachigen Ukraine kam es zu blutigen Auseinandersetzungen. Ein innerstaatlicher Konflikt brach aus.

Später stellte es sich heraus, dass Kiew und seine westlichen Schirmherren auch das Minsker Abkommen, das das Blutvergießen stoppen und dem Donbass einen Sonderstatus innerhalb der Ukraine verleihen sollte, dazu missbrauchten, für die Ukraine Zeit zu gewinnen, sie mit Waffen vollzupumpen sowie die ukrainischen Streitkräfte auf einen Krieg vorzubereiten. Dies haben übrigens die deutschen und französischen Vermittler im Nachhinein offen eingestanden.

Wolodymyr Selenskyj, der sich als Gegenpol zum prowestlich orientierten Petr Poroschenko während der Wahlkampagne präsentierte und mit den Stimmen der russischsprachigen Regionen der Ukraine an die Macht gekommen war, versprach, den Konflikt schnell beizulegen und die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung zu verteidigen. Jedoch hat er die Menschen schlichtweg verraten, indem er dann den Russen selbst das Recht verweigerte, im eigenen Land als Stammvolk bezeichnet zu werden. Er versuchte, alles zu zerstören, was unsere Brudervölker jahrhundertelang eng miteinander verbunden hatte: die gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, Traditionen und sogar den Glauben. Die Andersdenkenden wurden verfolgt. Der Willkür der Neonazi-Bataillone stand er ohnmächtig gegenüber und setzte den früheren Kurs hin zu einem NATO-Beitritt der Ukraine gehorsam fort. Denn das haben die Drahtzieher aus Übersee von ihm verlangt.

Glauben Sie wirklich, dass all das die nationalen Interessen und die Sicherheit Russlands auf keine Weise beeinträchtigt hat? Die Ziele unserer Spezialoperation sind klar: wir müssen den blutigen Konflikt beenden, den Kiew 2014 gegen den Donbass entfesselte, die Wurzeln des Neonazismus in der Ukraine ausrotten und die Sicherheit Russlands gewährleisten, indem die Ukraine entmilitarisiert wird und zu ihrem ursprünglichen blockfreien Status zurückkehrt. Diese Ziele hätten noch im Frühling 2022 erreicht werden können. Nach einigen Gesprächsrunden war Kiew bereit, ein Abkommen zu unterzeichnen, aber eine friedliche Lösung war nicht Teil der westlichen Pläne. Und wir sehen, dass dies auch heute nicht der Fall ist.

DWN: Kürzlich wurde dem russischen Sender RT der Mitschnitt eines Telefongesprächs zugespielt, in dem hochrangige Bundeswehroffiziere einen möglichen Angriff auf die Kertsch-Brücke mit Taurus-Raketen diskutieren. Lässt sich die Eskalationsspirale noch aufhalten?

Botschafter Netschajew: Zunächst einmal: Ohne Beteiligung der NATO-Mitgliedstaaten wäre dieser Konflikt längst beendet worden. Kiew ist heute auf die Lieferungen von westlichen Waffen, Militärtechnik und Munition sowie die Finanzierung, Satellitenbilder, Geheimdienstinformationen, Militärberatung völlig angewiesen. Schon lange gibt es in der Ukraine nichts außer Soldaten. Doch auch diese Ressourcen sind begrenzt.

Und es ist natürlich besorgniserregend, dass hochrangige Vertreter der Luftwaffe mögliche Lieferungen von Marschflugkörper Taurus an die ukrainischen Streitkräfte besprechen, sowie eventuelle Hilfe bei deren Einsatz gegen Ziele in Russland, einschließlich Objekte ziviler Infrastruktur. Das beweist ein weiteres Mal, dass Berlin in den Ukraine-Konflikt tiefer verwickelt ist als es offiziell zugeben möchte. Wir haben diesbezüglich von der deutschen Seite eine offizielle Erklärung gefordert.

DWN: Was – und bis wann – möchte Russland in der Ukraine konkret erreichen und droht nach einem Ende des Konflikts ein Rückfall in die Zeiten des Kalten Krieges?

Botschafter Netschajew: Die Ziele der Militäroperation habe ich bereits erwähnt. Ihre Dauer hängt von mehreren Faktoren ab. Unter anderem davon, wie schnell der kollektive Westen begreift, dass seine Linie, Russland eine „strategischen Niederlage“ zuzufügen und die grundlegenden Interessen Russlands zu ignorieren, in eine Sackgasse führt.

Was die Rückkehr zu den Zeiten des Kalten Krieges angeht, ist die heutige Situation meiner Meinung nach viel gefährlicher als damals. Frühere Generationen hatten den Zweiten Weltkrieg noch gut in Erinnerung. Sie verstanden, dass die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen zwei Systemen absolut real war. Viele heutige Politiker im Westen, die s.g. „neuen Eliten“, sind sich hingegen sicher, dass sie noch lange den Einsatz in ihrer Konfrontation mit Russland erhöhen können. Es ist verantwortungslos und bringt die Gefahr mit sich, dass die Situation aus dem Ruder läuft.

DWN: Einflussreiche Intellektuelle in Russland wie Sergey Karaganov befürworten eine Abkehr Russlands vom Westen und eine Hinwendung nach Eurasien. Finden seine Überlegungen Widerhall in der russischen Politik?

Botschafter Netschajew: Russland ist eine eurasische Großmacht und ein Zivilisationsstaat, ein Land mit vielen Völkern und Religionen. Wir sind in alle Himmelsrichtungen offen. Wir werden uns jedoch nicht unterordnen lassen und niemanden kopieren. Denn unser historischer Pfad ist einzigartig. Die russische Interessensphäre beschränkt sich nicht auf Eurasien. Wir haben gute Beziehungen zu den Ländern Asiens, Afrikas, des Nahen Ostens, Lateinamerikas. Wir schränken uns in unseren Kontakten nicht ein. Der Bruch mit dem Westen erfolgte auch nicht auf unsere Initiative, aber ließ uns daraus bestimmte Schlüsse ziehen und so manche Illusionen verwerfen.

Zur Person:

Sergej J. Netschajew, Jahrgang 1953, ist Absolvent der Moskauer staatlichen Lomonossow-Universität und der Diplomatischen Akademie des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. Seit 1977 ist er im diplomatischen Dienst tätig: Von 1977 bis 1980 war er Mitarbeiter der Botschaft der UdSSR in der DDR, von 1982-1986 Mitarbeiter des Generalkonsulats der UdSSR in Erdenet, Volksrepublik Mongolei und in den Jahren 1992-1996 sowie 1999-2001 Mitarbeiter der Botschaft der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland. 2001-2003 war Netschajew Generalkonsul der Russischen Föderation in Bonn, Bundesrepublik Deutschland, 2010 bis 2015 Botschafter der Russischen Föderation in der Republik Österreich, 2015 bis 2018 Direktor des Dritten Europäischen Departements des Außenministeriums der Russischen Föderation. Am 10. Januar 2018 wurde er per Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation zum Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland ernannt. Sergej J. Netschajew hat den diplomatischen Rang des außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafters, ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.


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