Politik

IW-Ökonom Hentze: Deutschland braucht mutigere Schuldenregeln

Ein Festhalten an der aktuellen Schuldenbremse macht ein geringeres Wirtschaftswachstum immer wahrscheinlicher. Davon ist IW-Ökonom Tobias Hentze überzeugt – und plädiert für eine Modifikation der Bremse.
12.05.2024 07:00
Aktualisiert: 30.05.2024 10:00
Lesezeit: 3 min

Bund, Länder und Gemeinden sind so hoch verschuldet wie nie zuvor. Das geht aus Zahlen hervor, die das Statistische Bundesamt (Destatis) Ende März veröffentlicht hat. Danach belaufen sich die öffentlichen Schulden Ende 2023 auf 2.445 Milliarden oder rund 2,5 Billionen Euro. Die Staatsverschuldung ist damit im vergangenen Jahr um 3,3 Prozent oder 77,4 Milliarden Euro gestiegen. Die Gründe für den Anstieg seien sowohl die anhaltenden Folgen der Corona-Pandemie als auch die massiv gestiegenen Rüstungsausgaben im Zuge des Ukraine-Krieges, so die Statistiker.

IW-Experte Hentze: „Kluge Verschuldung ist entscheidend“

„Aus ökonomischer Sicht ist dabei entscheidend, ob die Staatsverschuldung tragfähig ist“, sagt Tobias Hentze vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Um das zu beurteilen, reicht der Blick auf die absoluten Schulden allein jedoch nicht aus.“ Wichtiger sei das Verhältnis der Schulden zur Wirtschaftskraft.

Nach der Finanzkrise vor 15 Jahren lag die Schuldenquote, also der Schuldenstand in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Deutschland bei über 80 Prozent, heute liegt sie bei rund 65 Prozent. „In Frankreich, den USA oder Japan liegt die Quote mit über 100 Prozent deutlich höher“, sagt IW-Ökonom Hentze. Für internationale Investoren bleibe Deutschland daher weiterhin ein verlässlicher Partner.

Dennoch sollten sich die Politiker in Deutschland genau überlegen, wofür sie Schulden machen, mahnt Hentze, „denn weniger Schulden entlasten auch den laufenden Haushalt, weil weniger Zinsen gezahlt werden müssen.“ Es komme also darauf an, wofür Kredite aufgenommen werden. „Wenn mit den Schulden wichtige Zukunftsinvestitionen vorangetrieben werden, etwa eine klimaneutrale Wirtschaft oder eine moderne Infrastruktur, dann ist eine Kreditaufnahme und damit auch eine Beteiligung künftiger Generationen an den Investitionen gerechtfertigt.“

Die Schuldenbremse zwischen Sicherheitsnetz und Wachstumsbremse

Als Konsequenz aus der Finanzkrise der Nullerjahre wurde in Deutschland 2009 eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert, die durch eine strikte Begrenzung der Neuverschuldung auf 0,35 Prozent des BIP die Finanzlage von Bund und Ländern langfristig stabilisieren soll. Würde Deutschland diese Grenze jedes Jahr einhalten, läge die Schuldenquote in zehn Jahren nur noch bei unter 50 Prozent. „Das klingt erst einmal gut“, so Wirtschaftsexperte Hentze, „Aber wenn, wie es jetzt der Fall ist, gleichzeitig bei den Investitionen gespart wird und die Steuern weiter steigen, wird das Wachstum gebremst. Und davon hat niemand etwas.“

Sind 1,5 Prozent des BIP die neue Grenze?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 zum Nachtragshaushalt des Bundes für das Jahr 2021 hat die Parteien in Aufruhr versetzt. Bisher hatte die Politik Notsituationen genutzt, um die Schuldenbremse zu umgehen. Sie gründete Sondervermögen und füllte Sondertöpfe, um weiterhin aus dem Vollen schöpfen zu können. Mehr denn je stellt sich die Frage, wie die Politik die anstehenden Herausforderungen finanzieren will.

Ein für den Ökonomen denkbarer Ansatz wäre eine Modifikation der Schuldenbremse, die mehr Spielraum für zukunftsorientierte Staatsausgaben lässt, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden: „Die Grenze von 0,35 Prozent des BIP könnte auf 1 oder 1,5 Prozent angehoben werden. Außerdem sollten auch die Länder Schulden machen dürfen, denn bisher dürfen sie keine zusätzlichen Kredite aufnehmen.“

Schweizer Modell: Strengere Regeln als Vorbild für Deutschland

Alternativ kann sich IW-Mann Hentze auch andere Formen der Schuldenbremse vorstellen. „Zum Beispiel könnte es der Politik erlaubt werden, in Zeiten niedriger Zinsen mehr Schulden zu machen. Oder Investitionen in Zukunftsprojekte wie eine Wasserstoff-Infrastruktur könnten von der Schuldenbremse ausgenommen werden.“

Denkbar wäre für ihn auch ein Modell nach Schweizer Vorbild: Die Schweizer Schuldenbremse etwa bremst die Ausgaben und reguliert damit indirekt auch die Verschuldung. Allerdings ist das Schweizer Modell eher noch strenger als die hiesige Schuldenbremse, da die Ausgaben die Einnahmen nicht übersteigen dürfen. Für Tobias Hentze wäre eine solche Ausgabenregel auch für Deutschland denkbar, vielleicht in einer weniger strengen Variante, „aber das wäre ein großer Schritt“.

IW-Experte Hentze: „Langfristig tragbare Staatsfinanzen sind elementar“

Klar ist: Ein Festhalten an der aktuellen Schuldenbremse birgt langfristig erhebliche wirtschaftliche und soziale Risiken. „Aus meiner Sicht sind vor allem zwei Punkte problematisch“, erklärt Hentze. „Erstens kommen die Investitionen zu kurz, weil die Politik ein Faible für konsumtive Ausgaben hat, zum Beispiel für höhere Renten.“ Zweitens, so Hentze, seien Steuerentlastungen kaum möglich, weil sich dadurch das Loch in den öffentlichen Kassen noch vergrößern würde und die Schuldenbremse daher nicht einzuhalten wäre.

Als eine mögliche Lösung schlägt der Ökonom deshalb einen Transformationsfonds vor, der nach dem Vorbild des Sondervermögens Bundeswehr eingerichtet und mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag beschlossen werden könnte. Aus diesem Fonds würden ausschließlich Investitionen finanziert. Dass eine Schuldenbremse wichtig und richtig sei, stehe für IW-Mann Hentze außer Frage: „Aber welche Regel passt am besten? Diese Diskussion sollten wir führen. Langfristig tragfähige Staatsfinanzen sind dabei ein elementares Kriterium.“

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis stabilisiert sich nach Korrektur – Anleger hoffen auf neue Aufwärtswelle
29.10.2025

Der Goldpreis schwankt heftig – zwischen Rekorden und Rücksetzern. Nach der jüngsten Korrektur hoffen Anleger nun auf eine neue...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Paketbranche bereitet sich auf starkes Weihnachtsgeschäft vor
29.10.2025

Die Paketbranche steht vor der größten Bewährungsprobe des Jahres: dem Weihnachtsgeschäft. Millionen Sendungen, volle Lager, steigende...

DWN
Politik
Politik Kritische Rohstoffe: Warum die EU im Wettlauf um seltene Erden gegen China und die USA verliert
29.10.2025

Seltene Erden und kritische Rohstoffe prägen die globale Wirtschaftspolitik. Während China und die USA ihre Interessen durchsetzen,...

DWN
Politik
Politik Mindestlohn-Erhöhung: Bundesregierung beschließt Anhebung in zwei Stufen – wer zahlt und wer profitiert
29.10.2025

Der gesetzliche Mindestlohn steigt deutlich – doch was bedeutet das für Arbeitnehmer, Unternehmen und Preise? Die neue...

DWN
Finanzen
Finanzen Nvidia-Aktie: KI-Gigant Nvidia vor Sprung über 5-Billionen-Dollar-Marke
29.10.2025

Die Nvidia-Aktie steht kurz davor, eine historische Marke zu überschreiten – und die Weltbörsen staunen. Doch was steckt wirklich...

DWN
Finanzen
Finanzen Sparplan? Deutsche sparen viel, aber oft ohne klare Strategie
29.10.2025

Die Deutschen lieben das Sparen, doch vielen fehlt ein klarer Sparplan oder Wissen über den Vermögensaufbau. Sicherheit steht meist über...

DWN
Finanzen
Finanzen Porsche-Aktie in der Analyse: Wenn der Mythos wankt und die Rendite schmilzt
29.10.2025

Porsche schreibt fast eine Milliarde Euro Verlust – und das mitten im Strukturwandel. Der Sportwagenhersteller kämpft mit schwachen...

DWN
Panorama
Panorama Digitale Krankmeldung und eAU: Rechte, Pflichten und Grenzen im Krankheitsfall
29.10.2025

Wer sich krankmeldet, steht oft vor Fragen: Wann muss ich Bescheid sagen? Was darf ich trotz Krankschreibung tun? Und welche Fehler können...