Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, Jurist) brachte es bei einem Besuch eines Dresdner Holzbaubetriebes auf den wunden Punkt, als er per TikTok mitteilte: „Es ist wichtig, weil irgendwer muss die Arbeit ja machen und alles, was wir jeden Tag erleben, hat irgendwer gebaut.“ Das war seine Antwort auf die Frage, warum Handwerk so wichtig ist. Irgendwer - wer aber soll das sein?
Laut Statistischem Bundesamt sind noch 5,4 Millionen Menschen in diesem Land im Handwerk beschäftigt, es gibt mehr als 500.000 Handwerks-Unternehmen, die Branche machte 2021 einen Jahresumsatz von 659 Milliarden Euro – das waren 8,5 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Umsatzes.
Das sind Menschen, die auch nach Feierabend angerufen werden können, wenn es einen handwerklichen Notfall gibt, den nur sie lösen können. Sie sind im Dienst der Motor der deutschen Wirtschaft. Doch die wird von Politikern regiert, die selbst wenig praktische Berufserfahrung mit genau diesen bodenständigen Berufen hat. Die Gesetze werden hauptsächlich von Akademikern im politischen Berlin „zusammengewerkelt“, lautet die immer vernehmliche Kritik (lesen Sie auch unseren Artikel zum Vergleich der Arbeitsmärkte in Deutschland, Österreich, Frankreich und den USA).
Akademisierung von Politik und Besserverdienenden trifft auf den Arbeitsstreik der „Real-Jobber“
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Deutschland sich mitten in einer Wirtschafts- und Dauerkrise befindet. SPD, Grüne und FDP wollten die Koalition des Fortschritts sein. Eine grüne, fortschrittliche Transformation des Industriestandortes in Dauerschleife, an der sich zumindest gedanklich die studierte Elite abarbeitet, mit immer neuen Verordnungen und Bedingungen für hiesige Unternehmen und der ausführenden Arbeitskräfte. Trotz aller Innovationen und verordneten Fortschrittlichkeit befindet sich die Ampelregierung dennoch weiterhin im Krisenmodus, auch in der zweiten Hälfte der Amtszeit. Das Vertrauen der Wählergruppen schwindet, die Zustimmungswerte ebenfalls. Die Ampel liegt aktuell bei nur 34 Prozent Zustimmung. Eine Mehrheit von 47,5 Prozent wünschen sich sogar ein baldiges Ampel-Aus (Insa-Meinungstrend 29. April).
Anstelle von Empörung herrschen im Land inzwischen Verzweiflung und wenig Hoffnung auf Besserung – sowohl bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die soziale Marktwirtschaft gerät allmählich aus den Fugen.
Wie die SPD ihre Wähler aus den Augen verloren hat
Im April lagen die Sozialdemokraten in einer Forsa-Umfrage bei 16 Prozent – ein Absturz von fast zehn Prozentpunkten im Vergleich zur Wahl 2021. Noch schlechtere Umfragewerte sind für die Europawahl im Juni und den drei ostdeutschen Landtagswahlen (Sachsen, Thüringen, Brandenburg) im Herbst möglich. Wenn es eine Partei gibt, die über eine Anbindung an die normale Arbeitswelt verfügt, dann die Sozialdemokratie. Die ehrlichen Malocher standen in hohem Ansehen und gelangten durch Arbeit zu Wohlstand. Der fleißige Deutsche wurde zu einem Markenzeichen auf der ganzen Welt und zum Traditionswähler der SPD.
Warum schwindet das Vertrauen der Deutschen in die Sozialdemokraten?
Heute sucht man auch in den Reihen der SPD vergeblich Leute, die mal an der Werkbank gestanden haben oder über eine praktische Berufserfahrung verfügen. Wer einen Parteitag besucht, begegnet dort nahezu ausschließlich Menschen mit akademischem Hintergrund. Weil die Delegierten nicht nur über das Programm bestimmen, sondern auch darüber, wer auf den Listenplätzen vorne steht, nehmen die Themen aus der akademischen Welt politisch ein immer größeres Gewicht ein, wie das Selbstbestimmungsgesetz, das sich für Selbstbestimmung und mehr Geschlechterdiversität einsetzt. Derweil nehmen die finanziellen Belastungen der Realjobber zu und die privaten Ersparnisse ab. Die Rezession ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Das Versprechen „Wohlstand für alle“ von Ludwig Erhard, dem Vater der sozialen Markwirtschaft, funktioniert nicht mehr, denn eine „einfache“ Arbeit als Busfahrer oder Pflegekraft lohnt sich nicht mehr und erfährt außerdem eine gesellschaftliche Abwertung. Die Folge ist ein sinkender Einsatzwille der Wenig-Verdiener, die Themen der besserwissenden und besserverdienenden Eliten mitzutragen und mit Ihren Steuergeldern zu finanzieren.
Inzwischen fehlen „einfache“ Arbeitskräfte in allen Bereichen
Dabei geht es vor allem um elementare Berufe, die keine höhere, akademische Bildung erfordern, sondern Fachkenntnisse und Erfahrungen aus der praktischen Berufsausübung – wie sie für Facharbeiter und angelernte Arbeiter typisch sind: Bauarbeiter, Monteure, Schlosser, LKW-Fahrer, Fachkräfte und Helfer im Einzelhandel, Pflegekräfte, Fleischer und so weiter.
Diese Jobs sind nicht einfach und erfordern Kraft, Aufmerksamkeit, Konzentration, Verantwortung und finden oft unter schwierigen äußeren Rahmenbedingungen statt, bei Wind und Wetter, mit schwierigen Kunden oder in Schichtarbeit. Dieses Leistungsniveau heißt es durchzuhalten - das über viele Jahre. Eine neue Studie belegt die gelebte Arbeitsrealität der arbeitenden Mitte.
Was Politiker (noch) nicht wissen oder ignorieren: In Deutschland gibt es eine neue arme Arbeiterklasse
Fast alle politischen Parteien nehmen für sich in Anspruch, Politik für die „arbeitende Mitte“ zu machen. Wer genau ist damit gemeint? Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist in Deutschland eine ganz neue Arbeiterklasse entstanden. Es wird geschätzt, dass etwa 16 Millionen der insgesamt etwa 46 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland der Arbeiterschaft zugerechnet werden können, also ein gutes Drittel. Die neue „Arbeiterklasse“ in Deutschland umfasst nicht nur Produktionsarbeitende, sondern auch Dienstleistende. Zum Teil können aber auch Bürokräfte sowie Kleingewerbetreibende und Soloselbstständige dazugezählt werden.
Gemeinsam sind ihnen ein eher geringes Einkommen und damit verbundene finanzielle Sorgen, aber auch schwierige Arbeitsbedingungen. Die Befragten fühlen sich als diejenigen, die das Land am Laufen halten. Man sieht sich als Otto-Normalverbraucher, mittendrin, als Zahnrad im Getriebe oder im permanenten Dauerlauf. In der politischen Ansprache wünscht man sich „mehr Klartext“. Man sieht sich als gesellschaftliche Mehrheit, jedoch nicht als Gemeinschaft mit einer ausgeprägten Gemeinschaftsidentität, sondern eher als diejenigen, „die für ihr Geld wirklich arbeiten müssen und bei denen einfach nicht viel überbleibt“. Es gelinge ihnen kaum, vom monatlichen Gehalt Vermögen zu bilden. Entsprechend groß seien die Abstiegsängste. Weniger als die Hälfte der Angestellten im Dienstleistungssektor (44 Prozent) kann der Befragung zufolge am Monatsende noch Geld zurücklegen, bei den Arbeitern im produzierenden Gewerbe ist der Wert mit 51 Prozent ähnlich niedrig.
Demgegenüber stehen eine ständig wachsende akademisierte und laut Bildungsabschluss höher qualifizierte Elite sowie Modernisierungsprofiteure mit einem höheren Einkommen und besseren Arbeitsbedingungen. Das sind Menschen mit einem durchschnittlich höheren Haushaltseinkommen, die dann Dienstleistungen von Menschen erhalten, die im Niedriglohnsektor wesentlich weniger verdienen - und das unter harten Vollzeit-Bedingungen.
Ein Beispiel: So liegt der monatliche Durchschnittsverdienst von ausgelernten Verkäufern zwischen 1.700 und 2.050 Euro brutto. Ein studierter wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag beginnt mit einem Grundgehalt von 4.367 Euro brutto im Monat.
Arbeitskrise: Politik und arbeitende Mehrheit verlieren sich aus den Augen
Und nun fehlen seit der Corona-Krise massenweise Arbeitskräfte besonders in den harten Realberufen, trotz technischen Fortschrittes und wegen der Auslagerung ins billigere Ausland. Viele Menschen, die ihre Arbeit schätzen und über Jahre und Jahrzehnte das Land am Laufen gehalten haben, ziehen sich jetzt – ganz oder teilweise – zurück. Man verlässt Arbeitsplätze, geht vorzeitig in Rente, geht auf Teilzeit, nimmt häufiger einen Krankenschein oder verrichtet seine Arbeit ganz einfach mit weniger Einsatz.
Selbst mehr Geld oder eine Viertagewoche werden die Motivation dieser Menschen nicht zurückbringen. Das Problem liegt viel tiefer und fühlt sich hart an: Elementare Arbeit ist in Deutschland nichts mehr oder wenig wert. Man kann dem Bundeskanzler nur wünschen, dass bei einem privaten Notfall, beispielsweise einer verstopften Toilette, noch „irgendwer“ bereitsteht, um den Schaden zu beheben. Oder vielleicht doch einfach mal selbst Handanlegen? Das geht auch als Jurist, denn Übung macht bekanntlich den Meister.