Politik

Von der Europa-Begeisterung zu globalem Frust: Die Geschichte eines Russen

Lesezeit: 5 min
18.08.2024 16:23  Aktualisiert: 20.05.2030 16:23
Seit Russland gegen die Ukraine Krieg führt, hat sich das Leben der Menschen in beiden Ländern verändert: Während Ukrainer vor Angriffen des russischen Militärs flüchten, leiden Russen unter Ausgrenzung und Stigmatisierung. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten beleuchten die Beziehung zwischen Russland und Europa aus der Perspektive einiger russischer Bürgerinnen und Bürger. Diese reicht von romantischen Sehnsüchten bis hin zu wachsender Enttäuschung.

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In Russland hat es immer Menschen gegeben, die europäische Werte schätzten: die Förderung von Chancengleichheit, Solidarität sowie die Akzeptanz und Wertschätzung von Vielfalt in Kulturen, Religionen und Lebensstilen. Diese Russen, die Europa und europäische Werte bewundern, gibt es noch, doch es werden weniger. Wir möchten deshalb hier eine alternative Perspektive vorstellen, die derzeit ebenfalls in Russland existiert.

Es handelt sich um die Geschichte eines Russen, dessen große Liebe zu Europa sich im Laufe der Jahre zu großer Enttäuschung gewandelt hat. Diese Meinung ist nur eine von vielen und spiegelt nicht notwendigerweise die Ansichten der Mehrheit wider. Aber diese Ansicht ist es wert in diesen Artikel gegossen zu werden, in einen Artikel über die Vielfalt an unterschiedlichen Meinungen, die gegenwärtig in Russland vertreten sind.

Die Liebe ist vorbei: Was ist passiert?

In Russland gibt es einen Spruch: „Любовь прошла, завяли помидоры“ („Die Liebe ist vorbei, die Tomaten sind verwelkt“). Dieser Spruch wird verwendet, um auf humorvolle Weise auszudrücken, dass eine Beziehung oder eine Verliebtheit beendet ist. Es ist eine Redewendung, die das Ende von Gefühlen und das Verwelken von etwas einst Blühendem symbolisiert. Der genaue Ursprung des Spruchs ist unklar. Man vergleicht ihn manchmal mit dem französischen „La pomme de l'amour“ („Der Apfel der Liebe“ auf Deutsch).

Der Spruch passt gut zur Geschichte von Sergey Dolgovyasov*. Sergey, etwa 40 Jahre alt, hat immer die europäische Werte geschätzt. Die europäische Kultur, Literatur, Architektur und Geschichte haben ihn ebenso fasziniert. Auch wenn sein Wunsch, nach Europa zu reisen, noch besteht, ist er tiefst enttäuscht. Er gibt den europäischen Sanktionen gegen Russland die Schuld und hält sie für lächerlich und übertrieben. Er ist nun der Ansicht, dass die europäischen Werte lediglich zwei Wörter sind, die in der Realität nicht umgesetzt werden.

Sergey betont, dass er keine russischen Nachrichten liest, sondern europäische. Deshalb findet er es unangemessen, darüber zu sprechen, dass er von russischer Propaganda beeinflusst wurde. Er liest stattdessen europäische Nachrichten über Russland, wohnt in Sankt-Petersburg und bemerkt, dass das Geschriebene nicht der Realität entspricht. Dadurch wird er zunehmend enttäuscht.

„Chips aus Kühlschränken und anderer Blödsinn“: Wie europäische Medien Russland darstellen

Sergey ist niedergeschlagen von der Art und Weise, wie die Russen in europäischen Medien dargestellt werden. Ein Beispiel, das er nennt, ist die Behauptung, dass Russen Kühlschränke und Waschmaschinen kaufen, um die Chips für die Raketenproduktion zu nutzen. Diese Meinung wurde vom Politik-Berater und ehemaligen Leiter des Leitungsstabs im Bundesverteidigungsministerium, Nico Lange, auf Twitter geäußert. Er behauptet, dass Russland „aufgrund technologischer Sanktionen große Mengen an Kühlschränken und Waschmaschinen kauft“.

Sergey ist der Ansicht, dass dies nicht der Realität entspricht, die Russen in einem negativen Licht zeigt und "Blödsinn" ist. Er betont, dass viel über russische Propaganda gesprochen wird, aber er betrachtet dies als ein Beispiel für europäische Propaganda.

Russische Arbeitskräfte: Verlorene Möglichkeiten?

Die Pressemitteilung der Europäischen Kommission hebt hervor, dass ein zunehmender Mangel an Arbeits- und Fachkräften in allen EU-Ländern besteht. Eine Umfrage zeigt, dass fast zwei Drittel (63 Prozent) der kleinen und mittleren Unternehmen nicht über ausreichend Fachkräfte verfügen. Sergey ist der Meinung, dass Europa diesen Mangel durch Arbeitskräfte aus Russland ausgleichen könnte, insbesondere im Bereich der IT.

Jedoch weist er darauf hin, dass viele Russen in zuletzt wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Er interpretiert dies als eine Reaktion auf die Politik Europas, die seiner Meinung nach nicht besonders freundlich zu den Russen ist. „Meiner Meinung nach hat Europa aufgrund von Mobbing durch russische Pässe und der Arroganz, dass sie besser sind als wir, eine Menge potenzieller Verbündeter verloren. Und diejenigen, die mit ihnen sympathisierten und für 'europäische Werte' eintraten, denken jetzt, dass es sich nur um ein Schild handelt und die Werte falsch sind“, sagt Sergey.

Die Medien in Europa verbinden diese Rückkehr jedoch mit den begrenzten Arbeitsmöglichkeiten für die Russen in Europa. Ein von der Financial Times geteilter Artikel behandelt das Phänomen der Rückkehr von Russen aus dem selbst auferlegten Exil nach der Invasion Russlands in die Ukraine. Darin wird die Geschichte von Egor Gazarov erzählt, einem hochqualifizierten Fachmann, der Russland nach der Invasion verlassen hatte, aber später aufgrund begrenzter beruflicher Möglichkeiten im Ausland zurückkehrte. Der Artikel erwähnt, dass seit Februar 2022 mehr als 600.000 Menschen Russland verlassen haben, jedoch einige ihre Meinung inzwischen geändert haben.

Gemäß den Daten von Rosstat, der staatlichen Statistikbehörde in Russland, zur Entwicklung der Migration nach Russland ist die Zahl im Jahr 2023 um 203.600 gestiegen, im Vergleich zu 2022 (61.900 Menschen), was einen deutlichen Anstieg darstellt. Laut dem russischen Forbes sind 15 Prozent der Russen zurückgekehrt.

Diskriminierung als Gegenargument für Europa-Sympathie

Sergey führt die Diskriminierung als ein weiteres Argument für seine Enttäuschung an. Er stößt in sozialen Medien auf Berichte von Russen, die im Ausland Diskriminierung und Mobbing erleben. Dies verstärkt seine Frustration und mindert die Attraktivität Europas für ihn. Seine Bedenken finden eine Bestätigung.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes erhält vermehrt Anfragen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Russische oder russischstämmige Personen in Deutschland berichten von Anfeindungen in sozialen Medien. Einige fühlen sich aufgrund politischer Sanktionen benachteiligt, etwa durch Banken, die sie aufgrund möglicher Sanktionsrisiken kontaktieren. Es gab auch Fälle, in denen russischen Staatsbürgern der Zugang zu Dienstleistungen verweigert wurde, beispielsweise in Arztpraxen oder in Restaurants.

Die Macht der Gemeinschaft: Eine Meinung, mehrere Unterstützer

Sergey steht mit seiner Meinung nicht allein da. Elizaveta* äußerte ähnliche Gedanken. Sie hat zwei Zuhause: eines in den Niederlanden und eines in Russland. In Russland geboren wohnte sie sieben Jahre als Erwachsene in den Niederlanden. Dank ihrer zwei Staatsbürgerschaften kann sie frei wählen, wo sie leben möchte: in Russland oder in einem europäischen Land. Nun ist sie in Moskau und möchte dort bleiben.

Sowohl Elizaveta als auch Sergey haben bemerkt, dass man oft über europäische Toleranz spricht. In den Niederlanden habe dies Elizaveta jedenfalls nicht erlebt.

Vielleicht habe Russland einfach einen eigenen Charme, den Europäer nicht so leicht nachvollziehen können. Das zeigt auch die Geschichte von Marie*, die 63 Jahre alt ist und vor über 20 Jahren von Russland nach Deutschland umgezogen ist. Sie hat eine lange und komplizierte Geschichte, die stark mit der Geschichte von Königsberg (jetzt Kaliningrad) verbunden ist.

Nach der Offensive der Roten Armee im Januar 1945 war Ostpreußen abgeschnitten. Die Menschen flohen über die Ostsee nach Königsberg und weiter nach Pillau (jetzt Baltijsk). Dort begann die größte Rettungsaktion über See aller Zeiten. Die Marine transportierte Soldaten und Zivilisten, darunter Frauen mit Kindern und Schwangere, nach Westen. Maries Mutter war ein solcher Flüchtling und trug Marie bereits im Bauch.

Als Erwachsene bekam Marie einen Brief. Mit Tränen in den Augen las sie Zeile um Zeile - und konnte es nicht glauben: Im Brief stand, dass sie in Russland rehabilitiert sei. „Warum? Was habe ich getan, um rehabilitiert zu werden?“, fragt Marie - und fügt hinzu: „Klar ist, dass ich Russland liebe! Immer noch. Ich bin dort geboren und habe lange dort gelebt …“

*Alle Namen wurden im Interesse der Personen, die Ihre Meinung geäußert haben, geändert. Diese Ansicht ist lediglich eine unter vielen und repräsentiert nicht zwangsläufig die vorherrschende Meinung. Der Artikel bietet einen Einblick in die Vielfalt der verschiedenen Standpunkte, die derzeit in Russland vertreten werden. Die Überzeugungen der Befragten können von denen der Redaktion abweichen.

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Iana Roth ist Redakteurin bei den DWN und schreibt über Steuern, Recht und HR-Themen. Zuvor war sie als Personalsachbearbeiterin tätig. Davor arbeitete sie mehrere Jahre als Autorin für einen russischen Verlag, der Fachliteratur vor allem für Buchhalter und Juristen produziert.


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