„Wir bauen Bürokratie ab, und zwar Schicht für Schicht“, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Mitte März in seiner wöchentlichen Videobotschaft. Die Wirtschaft werde durch Regierungsbeschlüsse entlastet und spare mit dem Bürokratieentlastungspaket jährlich drei Milliarden Euro. Nicht nur der Kanzler, die gesamte Ampelkoalition rühmt sich, mehr Bürokratie abzubauen als jede Bundesregierung zuvor.
Bürokratische Belastungen auf dem Höchststand
In der Wahrnehmung von Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht das anders aus. „Die bürokratischen Belastungen haben für die Unternehmen ohne Zweifel einen besorgniserregenden Höchststand erreicht“, so der Experte für Mittelstandspolitik.
Seit Jahrzehnten gibt es kaum ein größeres Problemfeld, über das die deutsche Wirtschaft mehr klagt als über die hohe Bürokratiebelastung. Nach wie vor ringen hiesige Unternehmen mit einer Unmenge regulatorischer Hürden in Form von Gesetzen und Vorschriften. Hinzukomme eine zunehmende mangelhafte Qualität in der Gesetzgebung, so IW-Mann Röhl. „Immer mehr Gesetze werden ohne ausreichende Prüfung auf ihre Praxistauglichkeit beschlossen. So entstehen komplexe und unverständliche Vorschriften.“
IW-Mittelexperte Röhl: "Drei Faktoren sind zentral für zu viel Bürokratie
Laut Röhl sind vor allem drei Faktoren für die hohe Bürokratiebelastung verantwortlich. Erstens gebe es hierzulande ein starkes Streben nach Einzelfallgerechtigkeit. Bei pauschalen Regeln falle immer jemand aus dem Rahmen. "Davor haben wir in Deutschland eine Heidenangst. Die Konsequenz ist, dass wir für jeden noch so speziellen Fall eine detaillierte Vorschrift einführen.“ Das führe jedoch zu extrem komplizierten Gesetzen wie dem unglücklichen Heizungsgesetz, in dem jedes Detail geregelt sei.
Der zweite Faktor sei die zunehmende Forderung der Politik, soziale und ökologische Aspekte in die Gesetzgebung zu integrieren, Stichwort Social Responsibility. „Wenn Unternehmen nun genau nachweisen müssen, dass zum Beispiel ihre Lieferketten fair gestaltet sind, führt das logischerweise zu deutlich mehr Bürokratie.“
Der Förderalismus sei der dritte Faktor. Dieser erschwere es, einfache Regeln aufzustellen, so Röhl, da neben dem Bund auch die Länder und teilweise die Kommunen Gestaltungsspielräume hätten. „Ein aktuelles Beispiel ist die Grundsteuer, bei der es ein Bundesmodell, ein Bundesmodell mit Abweichungen und ein eigenes Ländermodell gibt.“
Bremsklotz Genehmigungsverfahren
Zusätzlich bremsen komplexe und langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren die Wirtschaft aus. „Der Prozess von der Antragseinreichung bis zur Genehmigung bei Bauvorhaben dauert heute durchschnittlich über ein Jahr“, sagt Röhl. „Die Gründe dafür sind erstens, dass die Ämter überlastet sind. Zweitens, dass sie zahlreiche Gutachten anfordern, um sich rechtlich abzusichern. Und drittens, dass die Vorgaben kompliziert sind.“
Notwendig sei es daher, kleine und mittlere Unternehmen von vielen Pflichten zu befreien. „Häufig heißt es in der Politik: Die Regeln gelten nur für große Betriebe ab 1.000 oder 3.000 Beschäftigten. Aber in Wirklichkeit geben die großen Unternehmen die Vorschriften eins zu eins an ihre Zulieferer oder Dienstleister weiter.“ Das überfordere viele kleine und mittlere Betriebe und erschwere den Bürokratieabbau im Mittelstand.
Mangelnde Digitalisierung beschleunigt Bürokratiebelastung
Eine weitere Hauptursache für die hohe Bürokratiebelastung, so Röhl, sei die mangelnde Digitalisierung der Verwaltung. Laut Onlinezugangsgesetz (OZG) hätten Ende 2022 insgesamt 575 Leistungen für Bürger und Unternehmen online verfügbar sein sollen. Aktuell sind es lediglich 148. „Auf der anderen Seite werden komplizierte analoge Prozesse häufig in die digitale Welt übertragen, ohne sie zu vereinfachen. Nun ist der Prozess zwar digital, Entlastung bringt er aber nicht“, beklagt Röhl.
Das es auch anders geht zeigen die Niederlande oder die skandinavischen Länder, wo viele Themen mit mehr Pragmatismus angegangen werden. „Diese Staaten schaffen es für gewöhnlich, einfachere und dennoch effektive Regeln aufzustellen“, lobt Röhl. „Davon sollten wir uns eine Scheibe abschneiden und von der extremen Einzelfallgerechtigkeit Abstand nehmen.“
Ampel trägt Mitschuld an der Misere
Dass es in den Nachbarländern fast überall besser läuft, dafür hat sich die Bundesregierung Ende Februar auf 176 Seiten auch selbst die Rechnung ausgestellt. Im jüngsten Jahreswirtschaftsbericht, den Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am 21. Februar in Berlin vorgestellt hat, senkte die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr von 1,3 auf 0,2 Prozent.
Als ursächlich dafür nannte der Minister Kaufkraftverluste durch die Inflation, hohe Zinsen sowie einen Welthandel auf historisch niedrigem Niveau an. Den größten Handlungsbedarf sieht der Minister jedoch bei bürokratischen Hürden. Eine Mitschuld an der wirtschaftlichen Misere trage daher auch die Ampelregierung, die durch ihre zahlreichen Querelen das Vertrauen der Wirtschaft verspielt habe, so Habeck.
„Der deutsche Gesetzgeber neigt zum Goldplating“
Ob das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV), verabschiedet am 30. August 2023, der Pakt zur Beschleunigung von Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsverfahren, liebevoll Beschleunigungspakt genannt und besiegelt am 6. November 2023, oder das Gesetz zur Digitalisierung und zum Abbau von Bürokratie, verabschiedet am 13. März 2024 – Zyniker könnten unterstellen, dass die Regierung für jedes zu beseitigende bürokratische Problem ein neues Gesetz erlässt – in der Hoffnung, die Hydra Bürokratie zu bändigen. Aber wie bei jeder Hydra wächst für jeden abgeschlagenen Kopf schnell ein neuer nach.
Angesichts einer Gesetzesflut, die scheinbar jedes bürokratische Problem mit weiteren Vorschriften zu bekämpfen versucht, mögen sich viele Unternehmer fragen, ob nicht der Staat die eigentliche Belastung darstellt. So enthalte etwa das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz sinnvolle Punkte. Doch das Problem bleibe bestehen, so Röhl: Von den 400 Vorschlägen, die Verbände und Unternehmen in den Gesetzgebungsprozess eingebracht haben, wurde nur ein Bruchteil übernommen.“ Die Politik drehe an kleinen Stellschrauben, statt das große Ganze anzugehen. „Hinzu kommt, dass der deutsche Gesetzgeber dazu neigt, die Brüsseler Vorgaben noch zu übertreffen zu wollen, das sogenannte Goldplating.“
IW-Experte Röhl plädiert daher für deutlich ambitioniertere Ansätze, um die Unternehmen spürbar zu entlasten. „Sonst klafft weiterhin eine große Lücke zwischen dem politischen Bekenntnis zum Bürokratieabbau und dem konkreten Handeln.“