Finanzen

Ex-Bundesbankchef Axel Weber: Die Gefahr vorzeitiger Zinssenkungen der EZB

Lesezeit: 3 min
03.06.2024 18:00
Die Europäische Zentralbank steht kurz davor, einen neuen Zinssenkungszyklus einzuleiten, nachdem die Inflationsraten im Euroraum deutlich gesunken sind. Allerdings machen unzuverlässige Prognosen und der immer noch hohe aktuelle Inflationsdruck dieses Vorhaben zu einem gefährlichen Spiel. Eine voreilige Lockerung könnte die wirtschaftliche Stabilität gefährden und die Glaubwürdigkeit der EZB untergraben.
Ex-Bundesbankchef Axel Weber: Die Gefahr vorzeitiger Zinssenkungen der EZB
Die Unsicherheit bei der Vorhersage der Inflation über einen langen Zeitraum und die anhaltenden geopolitischen Risiken könnten zu ungenauen Prognosen der EZB führen (Foto: dpa).
Foto: Boris Roessler

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Nach dem Rückgang der Inflationsrate in der Eurozone von einem Höchststand von 10,6 % im Oktober 2022 auf 2,6 % im Mai 2024 ist die EZB zuversichtlich, dass der Inflationsdruck in den kommenden Quartalen weiter nachlassen wird. Gemäß ihren Prognosen vom März erwartet die EZB, dass die Inflationsrate von durchschnittlich 2,3% im Jahr 2024 auf 2,0% im Jahr 2025 und 1,9% im Jahr 2026 sinken wird. Folglich wird an den Märkten damit gerechnet, dass die EZB am 6. Juni ihre Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte senken wird. Die Märkte sehen dies als den Beginn einer Reihe von Zinssenkungen, welche im Laufe der nächsten zwei Jahre zu einem deutlichen Rückgang des Zinssatzes für die Einlagefazilität von derzeit 4,0% führen wird. Da dies erst das fünfte Mal seit ihrer Gründung ist, dass die EZB einen neuen Zyklus von Zinssenkungen einleitet, sind die Signalwirkung und das Timing dieses Schrittes besonders bedeutsam.

Während eine vorausschauende Geldpolitik grundsätzlich erstrebenswert ist, kann sie auch problematisch sein, insbesondere aufgrund der Unsicherheit von Wirtschaftsprognosen. Die Vorhersage der Inflation über einen Horizont von mehr als einem Jahr und über Basiseffekte hinaus war immer schon schwierig, und die Prognoseunsicherheit hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. Das Versäumnis der EZB, den jüngsten Inflationsanstieg rechtzeitig und effektiv zu adressieren, ist teilweise auf ungenaue Prognosen zurückzuführen.

Inflations-Faktoren schwer zu modellieren

Die anhaltenden Auswirkungen pandemiebedingter Maßnahmen, wie aufgeblähte Zentralbankbilanzen und hohe Haushaltsdefizite, in Verbindung mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland, sind schwer zu modellieren und vorherzusagen. Zusätzliche geopolitische Risiken, einschließlich des Nahostkonflikts und eskalierender Spannungen zwischen den USA und China, verkomplizieren den Inflationsausblick weiter, wobei die meisten Faktoren ein Inflationsrisiko nach oben darstellen.

Strukturelle Veränderungen deuten ebenfalls auf eine höhere Inflation hin. Anspannungen an den Arbeitsmärkten, welche durch die Alterung der Bevölkerung getrieben werden, umfangreiche Investitionen in die Energiewende und Energiesicherheit, in die Verteidigung, aufgrund der Deglobalisierung und die zu erwartenden Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine tragen alle zu Inflationsdruck bei.

Modellbasierte Prognosen neigen konstruktionsbedingt dazu, mittelfristig zu historischen Durchschnittswerten zurückzukehren. Gewisse Modelle sind sogar derart spezifiziert, dass die Inflationsprognosen langfristig automatisch zu den Zielen der Zentralbank konvergieren. Die rückläufigen Inflationsprognosen der EZB reflektieren somit zumindest teilweise lediglich die Modellannahmen.

Die jährliche Inflationsrate in der Eurozone liegt derzeit weiterhin über 2%, und die jüngsten Trends sind besorgniserregend. Betrachtet man das Niveau der Verbraucherpreise anstelle der jährlichen Veränderungsrate, zeigt sich, dass die Verbraucherpreise nach einem leichten Rückgang Ende 2023 im Jahr 2024 wieder beschleunigt gestiegen sind und in diesem Jahr mit einer annualisierten Rate von 3,1 % zugenommen haben (gemessen am saisonbereinigten harmonisierten Verbraucherpreisindex).

Bei einer Jahresteuerungsrate von über 2% und einer Beschleunigung in diesem Jahr, bei einem allgegenwärtigen und hauptsächlich vom Dienstleistungssektor getriebenen Inflationsdruck, bei einem aktuellen Anstieg der Tariflöhne um 4,7 % und bei einer rekordtiefen Arbeitslosenquote könnte die Einleitung eines Zinssenkungszyklus einen weiteren schweren Fehler bedeuten.

Geldpolitische Risiken durch Prognosefehler

Die EZB hat bereits in den Jahren 2021/2022 den Fehler gemacht, ihre Geldpolitik zu sehr auf unzuverlässige Prognosen zu stützen. Die EZB könnte kurz davorstehen, diesen Fehler zu wiederholen, indem sie einen Lockerungszyklus auf der Grundlage übermäßig optimistischer Projektionen einleitet. Sich auf unzuverlässige Prognosen zu verlassen und die aktuellen wirtschaftlichen Realitäten zu ignorieren, ist keine vorausschauende Politik, sondern eine hoffnungsbasierte Politik.

Prognoseunsicherheit stellt eine erhebliche Herausforderung für die Geldpolitik dar. Erfolgreiche Geldpolitik erfordert Voraussicht und basiert auf Prognosen. Wenn jedoch die Zuverlässigkeit der Prognosen schwindet, wird effektives Risikomanagement entscheidend. In einem Umfeld hoher Unsicherheit muss die Geldpolitik vor allem schwerwiegende Fehler vermeiden.

Die EZB kann grundsätzlich zwei Fehler machen: eine zu restriktive Politik oder eine zu expansive Politik. Eine zu restriktive Politik könnte zu einer Rezession und zu Deflation führen, sowie zu Turbulenzen auf den Finanz- oder Immobilienmärkten. Obwohl unerwünscht, stellt dieses Szenario keine existenzielle Bedrohung für die Eurozone dar. Die EZB hat ausreichend Spielraum, Instrumente und Erfahrung, um bei Bedarf gegen Deflation vorzugehen.

Im Gegensatz dazu könnte eine voreilige Lockerung die Inflation neu entfachen, was die EZB zwingen würde, ihre anfänglichen Zinssenkungen rückgängig zu machen und die Zinsen womöglich auf höhere Niveaus als heute anzuheben. Dies könnte die Stabilität der Eurozone bedrohen, da hoch verschuldete Mitgliedstaaten mit nicht tragbaren Schuldendynamiken konfrontiert sein könnten, und die Anleihemärkte deren Fähigkeit zum Schuldendienst infrage stellen könnten. Druck von der Regierung auf die Geldpolitik könnte dann zu fiskalischer Dominanz führen, also einer Situation, in der sich die Geldpolitik der Fiskalpolitik unterordnet. Wenn dann die Geldpolitik die Inflationsbekämpfung vernachlässigt, könnte dies zu einem deutlichen Anstieg der Inflation führen.

In unserer Ansicht ist anhaltende Inflation aufgrund einer übermäßig expansiven Politik das gefährlichere Szenario. Es ist das Szenario, das die EZB riskiert, wenn sie jetzt beginnt, die Zinsen zu senken. Eine voreilige Lockerung könnte ihre Glaubwürdigkeit untergraben und zukünftige Inflationsrisiken erhöhen. Auch wenn dies breit eingepreist ist, sollten Zentralbanken darin keine Bestätigung Ihrer Geldpolitik sehen oder sich gar von den Märkten leiten lassen.

Aus heutiger Sicht ist eine geldpolitische Lockerung verfrüht. Sie vernachlässigt die Asymmetrie der Risiken und vertraut blind den eigenen, problematischen Inflationsprognosen. Eine Lockerung zum aktuellen Zeitpunkt wäre eine riskante Wette.

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

        ***

Axel A. Weber ist ehemaliger Präsident der Deutschen Bundesbank (2004-11).


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