Die Verhandlungen zur Besetzung der EU-Spitzenposten nach der Europawahl gestalten sich wider Erwarten als spannender Nervenkrimi. Aus Verhandlungskreisen wurde berichtet, dass sich die drei großen europäischen Parteienfamilien nach dem EU-Gipfel am Montagabend zwar darauf geeinigt haben, dass die deutsche CDU-Politikerin Ursula von der Leyen weitere fünf Jahre Präsidentin der für EU-Gesetzgebungsvorschläge zuständigen EU-Kommission bleiben soll. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie lange der frühere portugiesische Regierungschef António Costa die Position des EU-Ratspräsidenten besetzen soll.
Streit um Amtszeiten
Das Mitte-Rechts-Bündnis EVP will Costa laut Diplomaten nur für zweieinhalb Jahre unterstützen. Begründet wird dies damit, dass die EVP bei der Europawahl mit Abstand die stärkste politische Kraft wurde und die Möglichkeit haben sollte, den Ratschef-Posten in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode zu besetzen. Aus EVP-Kreisen wird dem kroatischen Ministerpräsidenten Andrej Plenković ein großes Interesse an der Spitzenposition nachgesagt.
Der EU-Ratspräsident wird offiziell nur für zweieinhalb Jahre gewählt, nur eine informelle Absprache könnte Costa den Job für fünf Jahre sichern. Diese Position ist bedeutend, weil der EU-Ratspräsident die Europäischen Räte, auch EU-Gipfel genannt, mit den Staats- und Regierungschefs vorbereitet und leitet. Zusätzlich vertritt der Ratschef wie der Kommissionschef die EU bei internationalen Gipfeltreffen wie G7 oder G20.
Namen gelten als fix
Laut Verhandlungsteilnehmern verhinderte der Streit über die Amtszeit, dass die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder in der Nacht zum Dienstag ein Gipfeltreffen ohne finale Einigung beendeten. Das Personalpaket sieht auch vor, dass die liberale estnische Regierungschefin Kaja Kallas den Spanier Josep Borrell als EU-Chefdiplomaten ablöst. Zudem soll die maltesische Mitte-Rechts-Politikerin Roberta Metsola mindestens die nächsten zweieinhalb Jahre Präsidentin des Europäischen Parlaments bleiben.
Ein Kompromiss soll spätestens beim regulären Juni-Gipfel erzielt werden. Bis dahin werden weitere Gespräche der Chefunterhändler der drei großen Parteienfamilien erwartet. Für die Sozialdemokraten sind dies Bundeskanzler Olaf Scholz und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez, für die Liberalen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sowie für die EVP der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis.
Scholz äußerte sich vor dem Gipfel optimistisch, dass eine schnelle Einigung erzielt werden könne. Er sagte, die Europawahl habe eine "stabile Mehrheit" für das Mitte-Rechts-Bündnis EVP, die Sozialdemokraten und die Liberalen gebracht. Er sei sicher, dass man rasch eine Verständigung zwischen den politischen Familien und Ländern erreichen könne. "Das wäre auch wichtig, (...) weil wir in schwierigen Zeiten leben. Und da ist es wichtig zu wissen, wie es weitergeht mit Europa", ergänzte der SPD-Politiker.
Rechte Parteien im Aufwind
Druck entsteht wegen des guten Abschneidens rechter Parteien bei der Europawahl. Damit von der Leyen ohne deren Unterstützung im Europäischen Parlament zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt werden kann, braucht es eine Einigung von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen. Zusammen haben die Parteien etwa 400 der 720 Sitze im Parlament. Kanzler Scholz sagte ohne Namen zu nennen: "Im Parlament darf es keine Unterstützung der Kommissionspräsidentschaft geben, die sich auf rechte und rechtspopulistische Parteien stützt."
Diese Kommentare könnten von der EVP auch als Warnung verstanden werden, eine mögliche Zusammenarbeit mit der Partei Fratelli d'Italia der rechten italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zu prüfen. Von der Leyen hat eine lose Kooperation mit Meloni bislang nicht ausgeschlossen.
Orban sieht Wählerwillen ignoriert
Kritik an den Verhandlungen kam vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban, der 2021 mit seiner Partei nach einem Rechtsstaatlichkeitsstreit aus der EVP ausgetreten war und seitdem keiner Parteienfamilie mehr angehört. Orban schrieb, dass rechte Parteien bei der Europawahl stärker wurden, Linke und Liberale hingegen an Boden verloren hätten - dennoch habe sich die EVP mit den Sozialisten und Liberalen zusammengetan. "Heute haben sie einen Deal geschlossen und die Spitzenjobs der EU unter sich aufgeteilt. Sie scheren sich nicht um die Realität", schrieb Orban. "Der Wille des europäischen Volkes wurde heute in Brüssel ignoriert."
Orban traf sich am Rande des Gipfels sowohl mit Meloni als auch mit dem früheren polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki. Thema war unter anderem die Frage eines möglichen Zusammenschlusses der europäischen Rechten im Europaparlament. Sollte auch die französische Partei Rassemblement National um Marine Le Pen beteiligt werden, könnte die zweitstärkste Fraktion im Parlament entstehen.