Politik

Soziale Pflegeversicherung: Stehen wir kurz vor dem Kollaps?

Der Pflegeversicherung droht ein Milliardendefizit. Ohne grundlegende Reformen drohe der Kollaps des Systems, warnt Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes, und fordert, die Pflege auf eine neue Grundlage zu stellen. Unterdessen verschärft der anhaltende Haushaltsstreit in der Ampel-Koalition die Krise weiter.
26.06.2024 16:45
Lesezeit: 4 min
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Knapp 30 Jahre nach Einführung der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist die Situation ernüchternd: Finanzierungslücken, fehlende Pflegeangebote und eine steigende Zahl Pflegebedürftiger stellen die SPV vor immense Herausforderungen. „Pflegebedürftige haben zwar Anspruch auf Leistungen, aber keine Angebote vor Ort“, sagt Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbandes.

Wer einmal pflegebedürftig sei, bleibe es wahrscheinlich ein Leben lang. „Unsere Hochrechnungen zeigen bereits für 2024 eine Finanzierungslücke von gut einer Milliarde Euro und einen weiteren Anstieg in den Folgejahren, so Klemm. Nichtstun käme uns alle teuer zu stehen – finanziell, aber auch in der Versorgung. „Bildlich gesprochen steht das Haus der Pflegeversicherung in Flammen.“

BKK-Vorständin Klemm: „Pflegekrise hat mehrere Ursachen“

Nach Berechnungen der Betriebskrankenkassen droht der SPV spätestens im kommenden Jahr ein Milliardendefizit. Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) hat bereits reagiert und mit der Absenkung des Ausgabendeckungsgrades ab Juli 2024 auf die Mittel aller Pflegekassen zurückgegriffen, um die Liquidität des SPV-Ausgleichsfonds zu sichern. Doch ohne eine grundlegende Trendwende seien weitere Beitragssteigerungen und eine sich verschärfende Ausgabendynamik unausweichlich, warnen Pflegeexperten.

Die Ursachen für die aktuelle Krise sieht Klemm in mehreren Faktoren: „Zum einen steigt die Zahl der Pflegebedürftigen aufgrund des demografischen Wandels und des 2017 eingeführten neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Zum anderen wird die SPV durch versicherungsfremde Leistungen stark belastet.“ Dazu zählen unter anderem die Sozialbeiträge für Pflegepersonen und die bislang nicht erstatteten Mehrausgaben durch die Corona-Pandemie.

Darüber hinaus verweist Klemm auf die finanzielle Belastung durch die Ausbildungsumlage und die Sozialbeiträge für Pflegepersonen, die ebenfalls aus Mitteln der SPV bezahlt werden. „All dies sind nach Auffassung des BKK-Dachverbandes gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die aus Steuermitteln finanziert werden sollten - wie es im Übrigen auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung versprochen wurde“, betont Klemm.

Die Pflegekrise in Zahlen

  • Beitragssatzentwicklung: Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung wurde in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Von ursprünglich 1,7 Prozent im Jahr 1995 stieg er auf aktuell 3,05 Prozent für kinderlose Versicherte und 3,4 Prozent für Versicherte mit Kindern.
  • Pflegekosten: Die Gesamtkosten für die Pflegeversicherung belaufen sich auf rund 47 Milliarden Euro pro Jahr. Im Jahr 2010 lagen die Kosten noch bei etwa 22 Milliarden Euro pro Jahr.
  • Zahl der Pflegebedürftigen: Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland ist von rund 2,3 Millionen im Jahr 2010 auf etwa 4,1 Millionen im Jahr 2023 gestiegen.
  • Anzahl der Pfleger: Die Zahl der in der Pflege tätigen Personen hat sich in den letzten Jahren wie folgt entwickelt:
    • 2010: etwa 900.000
    • 2015: etwa 1,1 Millionen
    • 2019: etwa 1,2 Millionen
    • 2023: etwa 1,5 Millionen​

Quellen: Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Statistisches Bundesamt (Destatis)

BKK-Forderung nach dauerhaftem Bundeszuschuss

Im BKK-Thesenpapier, das der Dachverband Anfang Mai in Berlin vorstellte, sieht BKK-Vorständin Klemm angesichts des Status quo der Versorgung hierzulande deshalb die Notwendigkeit, die SPV auf eine grundlegend neue Basis zu stellen, als eine der vordringlichsten Aufgaben an. „Systematik und Zielsetzung der SPV müssen grundlegend überarbeitet werden. In ihrer jetzigen Ausgestaltung wird sie den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen nicht mehr gerecht.“

Besonderes Augenmerk legt das BKK-Papier auf die häusliche Pflege, die nach wie vor überwiegend von Angehörigen geleistet wird. „Pflegende Angehörige müssen massiv entlastet und unterstützt werden, denn sie sind das Rückgrat der pflegerischen Versorgung in Deutschland“, fordert Klemm. Die derzeitige Fokussierung auf stationäre Versorgungsstrukturen spiegele nicht die Versorgungsrealität wider. Das müsse sich ändern.

Darüber hinaus fordert BKK-Chefin Klemm einen dauerhaften Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung aus Steuermitteln: „Wir sehen die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ein Bundeszuschuss würde die Lasten auf breitere Schultern verteilen und nicht allein der Versichertengemeinschaft aufbürden.“ Dies könnte helfen, den Beitragssatz für die nächsten Jahre stabil zu halten und ein kurzes Zeitfenster für grundlegendere Reformen zu gewinnen.

Pflegelohn für pflegende Angehörige?

Ein weiterer Punkt des Papiers ist die Entlastung und gesellschaftliche Wertschätzung pflegender Angehöriger. Klemm schlägt vor, dass pflegende Angehörige in bestimmten Lebenssituationen einen eigenen Anspruch auf ein Pflegegehalt erhalten sollen. „Die Höhe der Zahlung sollte sich am Pflegeaufwand und der reduzierten Arbeitszeit orientieren und nicht wie bei einer Lohnersatzleistung am vorherigen Einkommen der pflegenden Person“, erläutert sie. Auch die volle Anrechnung von Pflegezeiten bei der Rentenberechnung sei notwendig, um die soziale Absicherung pflegender Angehöriger zu verbessern.

Darüber hinaus seien Unterstützungsstrukturen wie Tages- und Nachtpflege sowie Kurzzeit- und Verhinderungspflege von großer Bedeutung. „Pflegende Angehörige haben keine Rechte und nur geringe Ansprüche, obwohl sie die Hauptlast der Pflege tragen. Das muss sich ändern“, fordert die BKK-Chefin.

Für die Pflege(fach)kräfte fordert Klemm mehr Autonomie und die Einführung der Advanced Practice Nurse (APN) in Deutschland. „Die Infantilisierung der Pflege muss ein Ende haben. Wir brauchen international mehr Autonomie für den Beruf“, sagt sie. „Entscheidend ist auch, dass das vorhandene Personal nicht durch schlechte Arbeitsbedingungen ausbrennt. Die Unternehmen müssen in betriebliches Gesundheitsmanagement und Gesundheitsförderung investieren.

Haushaltsstreit der Ampel verschärft Pflege-Finanzierung zusätzlich

Klemm betont, dass kurzfristig die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Maßnahmen umgesetzt werden müssen, insbesondere die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln. Dies würde dazu beitragen, die finanzielle Situation der SPV zu stabilisieren. „Kurzfristig müssen die versicherungsfremden Leistungen von der Solidargemeinschaft getragen werden, um die derzeit schwierige Finanzsituation zu stabilisieren. Mittelfristig ist eine Finanzierungs- und Strukturreform der SPV notwendig“, so der BKK-Vorstand.

Ob die finanziellen Forderungen der BKK-Chefin derzeit Gehör finden, ist vor dem Hintergrund des anhaltenden Haushaltsstreits der Ampel-Koalition allerdings fraglich. So fordert Finanzminister Christian Lindner (FDP) deutliche Kürzungen in den Etats mehrerer Ministerien, vor allem im Sozialressort. „Wir haben die Landezone noch nicht erreicht“, sagte er der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. SPD-Chefin Saskia Esken forderte dagegen „massive Investitionen“ und bezeichnete Lindners Sparkurs im „Tagesspiegel“ als „historischen Fehler“. Der Haushalt für das kommende Jahr soll am 3. Juli vom Bundeskabinett beschlossen werden.

Skeptisch äußerte sich Klemm zum Vorschlag der SPD-Bundestagsabgeordneten Heike Baehrens, die gesetzliche und private Pflegeversicherung zusammenzulegen. „Diesem vermeintlich radikalen Vorschlag räumen wir – realistisch betrachtet – keine ernsthaften politischen Erfolgsaussichten ein“, so die BKK-Chefin. Notwendig sei stattdessen ein finanzieller Ausgleichsmechanismus zugunsten der SPV, wie er schon im Koalitionsvertrag von 2005 vorgesehen war.

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