Politik

Nach Joe Bidens großem Schritt: Das Rennen in den USA ist wieder total offen

Lesezeit: 5 min
22.07.2024 05:59  Aktualisiert: 22.08.2024 05:59
Joe Biden hat letztlich doch auf seine Familie und enge Freunde gehört und am Sonntag endlich erklärt, er werde nicht noch einmal bei den Wahlen für die US-Präsidentschaft antreten. Biden unterstützt nun seine Stellvertreterin Kamala Harris aus Kalifornien und versucht ihr zugleich beim Konvent der Demokratischen Partei im August die bestmögliche Unterstützung seiner Delegierten zu versichern - vor allem seine Spenden. Harris kann jetzt unbeschwert das Ruder rumreißen und Team Trump/Vance in die Mangel nehmen. Es wird sehr spannend!

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Es gibt Stimmen bei den Republikanern, die bereits am Tag der Bekanntgabe hinter vorgehaltener Hand Donald Trumps Entscheidung, J.D. Vance als seinen „Running Mate“ bei den Wahlen zu nominieren, für einen „verhängnisvollen Fehler“ hielten. Statt einen Mann der Mitte auszuwählen, glaubt Trump, die US-Wähler mit einem politischen Extremisten auf seine Seite ziehen zu können - ein Mann mit sehr schockierenden Ansichten aus Sicht des normalen Main-Street-Amerikas.

Schon beim Parteitag wurde klar, dass J.D. Vance die falsche Wahl für Donald Trump ist

„He should have known better“, sagt man in derlei Situationen in den USA. Amerikaner entscheiden am Wahltag im November nicht nur, wer Präsident ist, sondern denken von jeher „einen Herzschlag weiter“. Bei der Vorstellung, dass Vance dem gleichfalls nicht sonderlich fit wirkenden Donald Trump unmittelbar nachfolgen könnte, sollte der 78-Jährige (sic!) womöglich eine Herzattacke erleiden, dürfte in den Vereinigten Staaten nahezu jeden Average-Joe gruseln. Seit dem Attentat an John F. Kennedy im Jahre 1963 weiß Amerika nur zu genau, wie schnell Dinge passieren können. Auf den Vize kommt es bei den Wahlen genau so an - in einem dermaßen gewalttätigen Land wie Amerika.

Während in Deutschland bei vielen sogleich der Reflex hochkam, dass Kamala Harris als Vize so unterbelichtet geblieben ist in ihrer Amtszeit, dass dies für Trump das Rennen nun noch leichter macht. Das ist ein Irrtum: Vize-Präsidenten stehen grundsätzlich im Schatten ihres Präsidenten - so war es auch bei Barack Obama und seinem Stellvertreter Biden. Eine Ausnahme war bei den Republikanern einzig der umtriebige Dick Cheney, der als Einflüsterer des intellektuell beschränkten George W. Bush agiert hat und mehr Macht und Einfluss innehatte, als ihm von den Wählern an den Urnen zugestanden worden war.

Enthusiasmus bei der demokratischen Wählerbasis könnte entfacht werden

Deswegen kommt es in den nächsten Tagen auch so sehr darauf an, wen Kamala Harris wiederum jetzt als ihren Partner auswählt, um die große breite Mitte der Wähler anzusprechen, die in den Umfragen der letzten Monate immer wieder beteuert haben, dass sie weder Biden noch Trump wählen wollen - wegen des Alters und der daraus resultierenden Schwächen und Unzulänglichkeiten.

Gretchen Whitmer, Gouverneurin in Michigan, wäre eine gute Wahl. Doch zwei Frauen an der Spitze sind aus taktischen Erwägungen nicht das Optimum. Cory Booker aus New Jersey wäre als schwarzer Kandidat, aus ähnlichen Erwägungen, auch nicht der richtige Mann. Denn Kamala Harris aus Oakland bedient als Tochter eines Jamaikaners und einer tamilischen Mutter aus dem indischen Madras bereits hinreichend die sogenannte Minderheiten-Karte. J.B. Pritzker, der Gouverneur aus Illinois, wäre wohl keine schlechte Wahl, könnte aber als finanziell unabhängiger und unberechenbarer Milliardär aus anderen Gründen zum Problem für Kamala Harris werden.

Roy Cooper, Gouverneur von North Carolina, wäre eine kongeniale Lösung. Er tickt wie Harris, hat wie sie als Staatsanwalt Erfahrungen gesammelt und gilt (um die beste Mischung bereitzustellen) als Südstaatler und weißer 67-Jähriger zu den Urgesteinen der Partei - ein jüngerer Joe Biden, wenn man so sagen will. Wobei Staaten wie North Carbonia und auch Georgia wahrscheinlich bereits wegen der Spitzenkandidatin Kamala Harris jetzt von ganz allein zum demokratischen Lager neigen werden.

Für Josh Shapiro spricht, dass er als Gouverneur im Pennysylvania sehr populär ist und damit in einem der „Swing States“, auf dessen Wahlmänner es womöglich ankommen wird, sollte das Rennen mit Donald Trump weiterhin eng bleiben in den Umfragen.

Bill und Hillary Clinton haben ihre Unterstützung für Vize-Präsidentin Harris ausgesprochen

Unterdessen sammeln sich die Unterstützer und Befürworter. Ex-Präsident Bill Clinton und seine Frau Hillary Rodham-Clinton haben sich am Sonntag sogleich mit einem Statement hinter Kamala Harris gestellt. Nur von Nancy Pelosi fehlt noch das Endorsement.

Die Diskussion um die Eignung für das Amt hat sich an diesem Wochenende jedenfalls kolossal gedreht. Die Sache mit dem Alter und der Gebrechlichkeit könnte sich nun gegen Donald Trump selbst wenden, dessen Rede auf dem Parteitag der Republikaner aus Beobachter-Sicht so irre und völlig diffus war, dass man sich eher um Trumps Zurechnungsfähigkeit Sorgen machen sollte. Vor allem können die Demokraten jetzt endlich geschlossen die Moralkarte ausspielen und Trump als den Verbrecher outen, der er aus der Sicht von zig Millionen Amerikanern in Wirklichkeit ist.

Der Sturm des Mobs auf das Kapitol am 6. Januar 2021, den Trump befeuert hat mit seinen Worten, Taten und durch Unterlassung wird in den nächsten Wochen die Gretchenfrage in den Zwiegesprächen zwischen guten Freunden, Ehepartnern und Familienangehörigen sein, wenn diese in Vorbereitung der Wahlen die Lage eruieren und für sich auswerten.

Trump kann sagen was er will, die Amerikaner wissen, dass Joe Biden nicht nur ihren Respekt verdient hat, als Präsident nach Trump und in den Corona-Zeiten, vor allem jedoch für seine klare Kante im Ukraine-Konflikt und seiner unverbrüchlichen Rückendeckung für die Nato-Alliierten. Und nicht zuletzt, weil er uneigennützig und ehrlich den Weg freigemacht hat für seine Nachfolgerin. „Er hat wieder einmal sein Land vor sich selbst gestellt“, daran erinnerte Chris Coons, der Senator aus Joe Bidens Heimatstadt Delaware. Auch er erklärte am Sonntag sogleich seine Unterstützung für Harris. Zur Frage ihres Running Mates wollte sich am Wochenende noch niemand recht aus dem Fenster lehnen. Coons: „Heute geht es zunächst um das Vermächtnis Präsident Bidens.“

Eine klare Position haben gestern fast alle namhaften demokratischen Politiker auch zu der vom Trump-Lager prompt aufgeworfenen Frage, ob der Präsident nicht umgehend zurücktreten müsste, wenn er selbst einräumt, nicht mehr in der Lage zu sein, weitere viere Jahre als Präsident zu dienen. Das sei „ein geradezu lächerlicher Versuch“, nach dem noblen und respektablen Schritt Bidens sofort „wieder dreckige Wäsche“ zu waschen.

Umstrittene Abtreibungs-Frage könnte Frauen am Wahltag zu Harris und den Demokraten treiben

Trump reagierte auf die Nachrichten mit den Worten, Biden gelte „mit Abstand als der schlechteste Präsident der US-Geschichte“. Das wird die Mehrzahl der Bürger freilich so nicht sehen. Ganz im Gegenteil: Die Wirtschaft ist intakt, der Arbeitsmarkt robust, nur der Kandidat zu alt.

Gut möglich jedoch, dass in Reihen der Republikaner sich schon bald erste Zeichen von Panik bemerkbar machen werden. Bereits gestern hieß es, dass schlagartig, die Spenden für das demokratische Wahlkampf-Konto zu sprudeln begonnen haben. Wenn Harris es schaffen sollte, sich in den nächsten vier Monaten inhaltlich zu profilieren, könnte dies einen Ruck in Amerika auslösen, den die Rednecks und Hillbillies hinter Trump und J.D. Vance nicht einkalkuliert haben und sich wohl auch nicht vorstellen können in ihrer beschränkten Sicht aus den Untiefen des rotgefärbten Fly-over-Countries. Korrespondenten rechnen bereits fest damit, dass Harris die Frage der Abtreibung in den Mittelpunkt ihren Wahlkampfs stellt und damit die Frauen auf ihre Seite ziehen können. Die Lager werden damit aufgebrochen und neu verteilt. Als Frau und Minderheiten-Vertreterin wird sie jetzt auch mehr junge Leute auf ihre Seite ziehen. Das Early Voting beginnt im September 2024 - weit vor dem Wahltag am 5. November.

106 Tage sind es noch bis zum Tag der Entscheidung, nicht sehr viel Zeit! Es kommt also wieder einmal auf die Aktivierung der jeweiligen Basis an und darauf, wer es besser hinbekommt, das Vertrauen in der Mitte Amerikas zu gewinnen. Bei der letzten Wahl war es eben ausdrücklich nicht Trump, was den Mann scheinbar in den Wahnsinn getrieben hat, wenn er bereits darüber philosophiert, nur ein Wahlergebnis zu seinen Gunsten akzeptieren zu wollen oder notfalls ein weiteres Mal gewalttätige Ausschreitungen in Kauf zu nehmen. „Er wäre gern Diktator für einen Tag nach der Wahl“, hat Trump ernsthaft von sich gegeben. Die breite Masse gut gebildeter und vernünftiger Amerikaner wird sich das nicht zweimal sagen lassen. Das Rennen ist wieder offen!

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.


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