Angesichts des gerade zu Ende gegangenen G7-Gipfels, der den verminderten Status der Gruppe deutlich gemacht hat, ist die Frage angebracht, wo die Macht in der heutigen Welt liegt. Die Vereinten Nationen haben 193 Mitgliedstaaten (der jüngste, der 2011 beigetreten ist, ist der gebeutelte Südsudan), von denen alle, wie Generalsekretär António Guterres 2016 sagte, technisch verpflichtet sind, „den Werten der UN-Charta: Frieden, Gerechtigkeit, Respekt, Menschenrechte, Toleranz und Solidarität“ zu folgen. Doch während jedes Land in der Generalversammlung eine Stimme hat, würde niemand behaupten, dass jedes Land auch das gleiche Gewicht hat.
Die beherrschende Rolle haben stattdessen die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – die USA, China, Russland, Frankreich und das Vereinigte Königreich – inne, die jeweils gegen alles, was die übrigen 192 Mitglieder womöglich wollen, ihr Veto einlegen können. Das ist der Grund, warum Israel, dank der Unterstützung der USA, unzählige UN-Resolutionen ignorieren kann, und warum Syrien dank der Unterstützung Russlands und Chinas vor einem Jahrzehnt ohne Weiteres Sanktionen wegen seines Einsatzes von Chemiewaffen entging.
Aufgrund der von ihnen ausgeübten überproportionalen Macht ist den ständigen Mitgliedern ein altes, entschieden britisches Großreichsverständnis gemein. Während die Verfasser zweier kürzlich erschienener Bücher über große Reiche, Lawrence James und Nandini Das, sich nicht dazu äußern, wie die UN reformiert werden könnte – oder sollte –, vermute ich, dass sie dem zustimmen würden.
In „The Lion and the Dragon“ verfolgt James – ein hochproduktiver Historiker, der sich mit der Rolle des Vereinigten Königreichs in der Welt befasst – die Beziehungen Großbritanniens zu China vom Opiumkrieg im 19. Jahrhundert bis zur Rückgabe Hongkongs und den heutigen Spannungen über Taiwan. In „Courting India“ konzentriert sich die Professorin an der Universität Oxford Nandini Das auf die Anfänge des britischen Reiches und dessen gierige Ausweitung auf das damalige Mogulreich in Indien.
Diese Geschichte zeigt, dass das Konzept des Großreichs immer noch sehr präsent ist. Obwohl sich den Amerikanern, die stolz darauf sind, die Herrschaft König George III. abgeschüttelt zu haben, bei dem Gedanken daran tendenziell die Nackenhaare aufstellen, ist ihre eigene militärische, technologische und wirtschaftliche Macht genauso imperial und allgegenwärtig wie einst die territoriale Dominanz Großbritanniens. Wie James anmerkt, können wir der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Pax Americana für die meist stabilen internationalen Beziehungen danken, die während des treffend benannten Kalten Krieges mit den Sowjets (und deren eigenen Großreich) herrschten.
Eine ewige Frage besonders in Zeiten geopolitischer Umbrüche ist nicht nur, wie große Reiche entstehen, sondern auch, wie sie verfallen. Obwohl Großbritannien und Frankreich weiterhin den Erinnerungen an ihre Großreiche frönen, haben sie längst akzeptiert, dass sie heute bestenfalls „Mittelmächte“ sind. Seit der Suez-Krise von 1956, als die Drohung mit US-Sanktionen Großbritannien, Frankreich und Israel zum Rückzug vom Suezkanal in Ägypten zwang, ist Großbritannien in internationalen Angelegenheiten unterwürfig dem von den USA vorgegebenen Kurs gefolgt. (Die Weigerung des britischen Premierministers Harold Wilson, in den 1960er Jahren Truppen nach Vietnam zu schicken, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.) Gleichzeitig suchte Frankreich Trost im kollektiven Zusammenschluss der späteren Europäischen Union.
Was die übrigen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates angeht, so befindet sich Wladimir Putins Russland auf einer hoffnungslosen Mission, den Zusammenbruch der Sowjetunion (das in seiner Einschätzung „größte geopolitische Unglück“ des 20. Jahrhunderts) rückgängig zu machen und das Reich Peters des Großen wiederherzustellen; und China übt nach eigener, nicht unbegründeter Einschätzung bereits einen weltweiten Einfluss aus, der mit dem des amerikanischen Großreichs konkurriert.
Chinas Streben nach Supermachtstatus resultiert nicht nur aus aktuellen wirtschaftlichen und politischen Realitäten, sondern auch aus seinem tief verwurzelten Groll über das „Jahrhundert der Demütigung“ (1839-1949), das es durch die europäischen (und japanischen) imperialen Mächte erlitt. Ähnliche Gefühle befeuern natürlich auch Putins Revanchismus sowie die Ablehnung diplomatischer Annäherungsversuche Großbritanniens nach dem Brexit durch den indischen Premierminister Narendra Modi. Um es mit den oft zitierten Worten William Faulkners zu sagen: „Die Vergangenheit ist nie tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“
Reise nach Indien
Die banale Antwort auf die Frage, warum große Reiche fallen, ist, dass sie Opfer ihres eigenen Erfolgs werden und irgendwann zu groß, zu korrupt und zu erschöpft sind, um sich gegen energische Neuankömmlinge zu wehren. Wie der arabische Philosoph und Historiker Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert argumentierte, ähneln große Reiche lebenden Organismen: Sie wachsen, reifen und sterben.
Das’ hervorragend recherchiertes Buch zeigt, dass das Mogulreich bei der Ankunft der Briten im 17. Jahrhundert fast den Zustand der Reife erreicht hatte. Seine muslimischen Herrscher, die ihre Wurzeln in Zentralasien hatten, sind faszinierende Gestalten. Der Kaiser Jahangir, ein großzügiger Förderer der Künste, war dem Opium und dem Wein verfallen, während seine Frau Nur Jahan erheblichen politischen Einfluss ausübte. Der Sohn des Kaisers, Shah Jahan, war ein „König der Welt“, dessen Liebe zu seiner Frau Mumtaz Mahal im Taj Mahal dauerhaft verewigt ist. Das Indien der Moguln war sowohl ein Ort immensen Reichtums als auch eine Bastion religiöser Toleranz (anders als Europa mit seiner jahrhundertelangen Inquisition gegen Muslime, Juden und Ketzer).
Im Gegensatz dazu steckte das britische Reich gerade erst in den Kinderschuhen, als sein Zusammenstoß mit dem Mogulreich begann. In „Courting India“ zeichnet Das ein lebendiges Bild der – meist mehr erduldeten als genossenen – Erfahrungen von Thomas Roe, dem Botschafter des britischen Königs James I. am Mogulhof. Darüber hinaus liefert sie eine reichhaltige Beschreibung des aus dem ersten elisabethanischen Zeitalter hervorgehenden jakobinischen Englands, das damals mit Portugal, Spanien, Frankreich und Holland um die Macht rang.
Roes eigene Tagebücher sind eine wichtige Primärquelle, und Gleiches gilt für die kulturellen Interpreten der damaligen Zeit, von William Shakespeare bis hin zum Dichter John Donne (einem Freund Roes). Ihre Heimat war ein England voller Energie, das sein Glück in Amerika und im Indischen Ozean suchte, dabei jedoch bei Weitem nicht so kultiviert war, wie Höflinge wie Roe glaubten.
Tatsächlich war Roe fast eine Karikatur des Engländers im Ausland. Er weigerte sich, eine Sprache zu lernen, die ihm bei seiner Mission hätte helfen können (sei es Persisch oder Türkisch), und bestand selbst im indischen Sommer darauf, dass er und seine Bediensteten englische Wolle und Seide trugen. Während er die pragmatische Toleranz der Mogulgesellschaft im Laufe der Zeit bewundern lernte, blieb er von der Überlegenheit Englands und des protestantischen Christentums überzeugt. Niemals hätte er sich erlaubt, „sich den Eingeborenen anzupassen“.
Roe war nicht nur König James gegenüber rechenschaftspflichtig, sondern auch seinem Geldgeber, der East India Company, die ihre Charta im Jahre 1600 von Elizabeth I. erhalten hatte. Das bedeutete, dass er ständig mit der knauserigen Gesellschaft (deren Händler immer neidisch auf ihn waren) um Geld feilschte und sich mühte, das zügellose Verhalten der englischen Matrosen in den indischen Häfen zu dämpfen oder zumindest Ausreden dafür zu finden.
Jahrhundert der Demütigung
Zwei Jahrhunderte später hielt die East India Company, so wie sie in James’ Buch dargestellt ist, immer noch an den seinerzeit von Roe vertretenen Annahmen fest. Die Überlegenheit und Integrität des christlichen Großbritanniens wurden nicht in Frage gestellt und standen weiterhin in krassem Gegensatz zu „asiatischer Gier und Despotismus“. Die größte Veränderung war derweil der Zusammenbruch des Mogulreichs.
Das Indien der Moguln – Ende des 17. Jahrhunderts das reichste Land der Welt – wurde durch interne Zwietracht und persische und afghanische Invasionen stetig geschwächt. Im Jahr 1857 löste die East India Company das Mogulreich offiziell auf, wodurch Königin Victoria im folgenden Jahr die direkte britische Herrschaft („Raj“) über den indischen Subkontinent etablieren konnte.
In Anlehnung an Ibn Chaldun lässt sich sagen: Das Großbritannien des 19. Jahrhunderts war kein Kind mit imperialen Ambitionen mehr; es war jetzt ein Erwachsener mit der ganzen Energie und Rücksichtslosigkeit, die erforderlich waren, um seinen Einfluss weltweit auszudehnen. Als Solcher hatte der britische Löwe keine Hemmungen, den chinesischen Drachen zu entehren. Im Rückblick auf diese Zeit ist es daher leicht verständlich, warum der chinesische Präsident Xi Jinping so entschlossen ist, das Jahrhundert der Demütigung aus dem nationalen Gedächtnis zu löschen.
Jenes Jahrhundert begann 1839 mit dem Ersten Opiumkrieg. Als China versuchte, den Import von Opium aus Bengalen durch die East India Company zu unterbinden, reagierte Großbritannien mit all seiner (industrialisierten) militärischen Macht. Im Jahr 1842 hatten britische Kriegsschiffe und Soldaten jeden Widerstand niedergeschlagen und den chinesischen Qing-Kaiser gezwungen, den Vertrag von Nanjing zu unterzeichnen. Dieser öffnete China für den internationalen Handel und stellte sicher, dass britische Bürger in „Vertragshäfen“ britischem und nicht chinesischem Recht unterlagen. Eine weitere Folge des Krieges war, dass Großbritannien Hongkong übernahm, das es bis 1997 im Besitz hielt.
Während Das Indien hauptsächlich durch Roes Augen beschreibt, ist James bestrebt, ein Gleichgewicht zwischen britischen Handlungen und chinesischen Reaktionen darzustellen. Dabei betont er, dass China nicht allein auf den britischen Imperialismus reagierte. Schließlich war dies eine Zeit, in der „ein Geist des räuberischen Imperialismus...die Außenministerien von Russland, Frankreich, Deutschland und Japan, Chinas neu industrialisiertem Nachbarn, durchwehte“. In ihrem wirtschaftlichen Ehrgeiz betrachteten alle vier „China als ein Landmassiv, das so wie das zeitgenössische Afrika aufgespalten und verteilt werden sollte“.
Doch sind diese anderen imperialen Projekte durchaus keine Entschuldigung für das Verhalten Großbritanniens. James’ Argument, dass „Großbritannien widerwillig in die komplexe Geopolitik des Imperialismus der Großmächte im Fernen Osten hineingezogen wurde“, ist schlicht nicht überzeugend. Als führende Seemacht der Welt und Heimat der Industriellen Revolution war Großbritannien im Spiel der Geopolitik bereits bewandert und durchaus bereit, seine Interessen in China zu schützen, nicht zuletzt, weil dies auch seine Interessen in Indien schützen würde.
Im 18. Jahrhundert hatte die Qing-Dynastie von ihren mandschurischen Wurzeln aus ein Reich errichtet, das sich von der Mongolei und Tibet bis zum Pazifik erstreckte. Doch im 19. Jahrhundert war dieses zu erschöpft, um dem Druck nicht nur der anderen imperialen Mächte, sondern auch des eigenen Volkes standzuhalten.
„Jahrhundert der Demütigung“ verweist immer auf ausländische Interventionen, doch genauso wichtig waren innere Demütigungen wie der Taiping-Aufstand von 1850-64, bei dem etwa 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren, und der Boxeraufstand von 1899-1901. Das „Mandat des Himmels“ glitt der Dynastie offensichtlich aus den Händen. Sie endete schließlich 1912, als der im Westen ausgebildete Sun Yat-sen nach kurzer Revolution die Republik China gründete.
Thukydides-Falle
Heute gilt dieser Name nur noch für die Insel Taiwan, während Xi über die 1949 nach dem Sieg der Kommunistischen Partei Maos über die Nationalistischen Streitkräfte Chiang Kai-sheks gegründete Volksrepublik China herrscht. Seit den 1970er Jahren haben die meisten Länder – einschließlich der beiden rivalisierenden Chinas – die Fiktion akzeptiert, dass die Namen Republik und Volksrepublik sich auf ein einziges Land beziehen.
Aber es gibt eine ständige Angst, dass Taiwan formell seine Unabhängigkeit erklären und die Fiktion zerstören könnte, was eine Invasion vom Festland provozieren würde. Glaubt man Präsident Joe Biden, würden die USA dann zur Rettung Taiwans kommen und das Südchinesische Meer würde einen chinesisch-amerikanischen Krieg mit weitreichenden regionalen und globalen Konsequenzen erleben.
Angesichts seines Fokus auf Großbritannien und China widmet James den „düsteren“ Prognosen US-amerikanischer Analysten über einen zukünftigen Krieg um Taiwan verständlicherweise nur eine Handvoll Absätze am Schluss des Buches. Darüber hinaus behandelt er in den vorangegangenen Kapiteln sachkundig andere Fälle, in denen zwischen rivalisierenden regionalen Mächten Konflikte ausbrachen. Dazu gehören der chinesisch-japanische Krieg von 1894, der zur japanischen Besetzung Taiwans führte, der russisch-japanische Krieg von 1904, die blutige Expansion Japans in den 1930er Jahren und natürlich der Angriff Japans auf Pearl Harbor, der die USA in den Zweiten Weltkrieg brachte.
Die große Gefahr ist heute, dass China und Amerika genauso sehr durch Zufall wie durch Absicht in einen Krieg geraten könnten. Graham Allison von der Universität Harvard hat diesbezüglich vor der „Thukydides-Falle“ gewarnt – eine Anspielung auf den Peloponnesischen Krieg, in dem Sparta, der herrschenden Hegemonialmacht, ein Krieg mit der aufstrebenden Macht Athen „bestimmt war“.
In einer Welt, die so viele multilaterale Institutionen hervorgebracht hat – von der Welthandelsorganisation bis zur G20 – ist es verlockend, Allisons Argument als Panikmache abzutun. Doch gab es in den letzten 500 Jahren 16 Fälle, in denen eine herrschende Macht einer aufstrebenden Macht gegenüberstand, und nur in vieren davon wurde ein Krieg vermieden. Der bekannteste davon war der Aufstieg der USA, die im frühen 20. Jahrhundert Großbritannien als führende Weltmacht ablösten.
Beachtenswert ist James’ Hinweis, dass China von Großbritanniens Votum zum Austritt aus der Europäischen Union 2016 „schockiert“ war. Die von den chinesischen staatlich kontrollierten Medien verbreitete Botschaft lautete, dass das Vereinigte Königreich einer „Verlierermentalität“ nachgegeben habe. Die derzeitige chinesische Führung hat offensichtlich nicht die Absicht, Schwäche zu zeigen.
Die gute Nachricht ist, dass die politischen und militärischen Führungen auf beiden Seiten des Pazifiks sich der Risiken bewusst sind. Wie Xi 2015 auf seinem ersten Staatsbesuch in Amerika sagte: „So etwas wie die sogenannte Thukydides-Falle gibt es auf der Welt nicht. Aber wenn große Länder immer wieder strategische Fehleinschätzungen treffen, können sie derartige Fallen für sich selbst schaffen“. Die schlechte Nachricht ist freilich, dass alle Länder zu „Fehleinschätzungen“ neigen.
War es zum Beispiel ein Fehler, dass das imperialistische Großbritannien 1917 mit der Balfour-Erklärung den Zionismus unterstützte? Angesichts all der Kriege im Nahen Osten, die auf die Gründung Israels folgten, könnte manch einer sehr wohl dieser Ansicht sein. Aber versuchen Sie mal, das den Überlebenden der antisemitischen Pogrome des 19. Jahrhunderts und des Holocaust zu erzählen.
Die Uhr tickt
Vor fast einem halben Jahrhundert veröffentlichte John Bagot Glubb, ein britischer General, der von 1939 bis 1956 die jordanische Armee befehligte, ein Buch mit dem Titel „The Fate of Empires and Search for Survival“. Seine These war im Wesentlichen dieselbe wie die von Ibn Chaldun, nur mit der zusätzlichen Behauptung, dass fast alle großen Reiche über einen Zeitraum von etwa 250 Jahren aufsteigen und fallen. Abgesehen von den offensichtlichen Fehlern in Glubbs Arithmetik (das Osmanische Reich endete sicherlich nicht 1570) sollte man die Kernidee nicht leichtfertig verwerfen. Schließlich beziffern Historiker die Lebensdauer der Qing-Dynastie heute auf 267 Jahre, und das Mogulreich aus Das’ Buch begann nach nur zwei Jahrhunderten, Territorien zu verlieren.
Ein Pessimist könnte darauf verweisen, dass das heutige China mit dem kommunistischen Sieg 1949 begann und die quasi-imperiale Macht der USA vor 201 Jahren mit der Monroe-Doktrin. Womöglich ist die Zeit nicht auf Seiten jener, die ihr Vertrauen in die USA als Verteidiger der Demokratie und „liberaler westlicher Werte“ setzen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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