Weltwirtschaft

Indienexperte: „Modis Pläne entscheiden über den Erfolg Indiens“

Lesezeit: 4 min
17.08.2024 17:19
Indien gilt als das neue China. Ein Eindruck, der sich beim Blick auf den MSCI India bestätigt: Seit 2021 hat der Index um 72,2 Prozent zugelegt. Wieviel Substanz der Indien-Hype letztlich hat, hängt vor allem von Premierminister Narendra Modi ab, sagt Indienexperte Oliver Schulz.

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11 Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr - Indien legt seit 25 Jahren beeindruckende Wirtschaftszahlen vor. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für das Jahr 2024 ein Bruttoinlandsprodukt von 3,94 Billionen US-Dollar, womit Indien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt bleibt. „Heute die Nummer fünf, bald die Nummer drei“, erklärte die indische Finanzministerin Nirmala Sitharaman bereits Ende 2022 selbstbewusst, als Indien seine ehemalige Kolonialmacht Großbritannien an Wirtschaftskraft überholte. Diese positive Entwicklung wird jedoch von einer Reihe von Herausforderungen begleitet.

Armut vs. Hightech: Zwei Welten in einem Land

Indienexperte Oliver Schulz weist darauf hin, dass der Vergleich mit China nicht ganz zutreffend ist. „Die beeindruckenden Wachstumszahlen Indiens basieren hauptsächlich auf absoluten Werten. In relativer Betrachtung lag Indien wirtschaftlich gesehen stets weit hinter China zurück“, so der Autor des 2023 erschienenen Buches ‚Neue Weltmacht Indien‘. Besonders im industriellen Sektor habe Indien weiterhin erhebliche Probleme, so Schulz. Rund 40 Prozent der Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft, viele davon als Subsistenzbauern, die von der Hand in den Mund leben.

Und es gibt noch grundlegendere Probleme. Der Anteil armer Menschen an der indischen Bevölkerung hat in den vergangenen Jahren zwar abgenommen, doch das Niveau ist immer noch hoch. Indien belegte im Welthunger-Index 2023 den 111. Platz von 125 Ländern. Eine andere Statistik beschreibt die Lage weniger dramatisch: Laut dem Multidimensional Poverty Index (MPI) der Vereinten Nationen, der die Bereiche Gesundheit, Bildung und Lebensstandard untersucht, liegt das Land immerhin im Mittelfeld. Mit 14,96 Prozent der Menschen, die 2023 in Armut lebten, hat er sich demnach stark verbessert. Doch auch nach diesem Index hatte Indien unter den BRICS-Staaten den höchsten Bevölkerungsanteil in Armut, gefolgt von Südafrika (6,3 Prozent), China (3,9 Prozent) und Brasilien (3,8 Prozent).

Milliarden-Investitionen in Flughäfen und Schienennetze

Um diese Herausforderungen anzugehen, hat die indische Regierung begonnen, massiv in die Infrastruktur zu investieren. „Allerdings sind die Ergebnisse oft enttäuschend“, so Indiologe Schulz, denn Korruption und eine ineffiziente Bürokratie würden den Fortschritt erheblich verlangsamen. Dennoch investiert der Privatsektor weiterhin Milliardensummen in die Infrastruktur des Landes.

So hat Air India im größten Flugzeugdeal der Geschichte Anfang 2023 250 Jets bei Airbus und fast 300 weitere beim US-Rivalen Boeing bestellt. „Damit will sich Indien mit seinen neu ausgebauten Großflughäfen als internationales Drehkreuz vor allem in Konkurrenz zu Dubai und Doha etablieren“, sagt Schulz.

Zudem hat die indische Regierung von Premierminister Narendra Modi von der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) in den vergangenen Jahren massiv in den Ausbau von Straßen, Schienen und Häfen investiert. Dazu passt, dass die deutsche Reederei Hapag-Lloyd mit 40 Prozent bei J. M. Baxi Ports & Logistics Ltd. eingestiegen ist, einem der führenden indischen Terminal- und Transportdienstleister. Und immer wieder werden milliardenschwere Autobahnausbauprojekte wie das Goldene Viereck zwischen Neu Delhi, Kolkata, Chennai und Mumbai auf den Weg gebracht, während die staatliche Eisenbahngesellschaft Indian Railways im Februar 2023 für drei Milliarden Euro 1.200 neue Lokomotiven bei Siemens Mobility bestellt hat.

Im letzten Haushalt vor den Parlamentswahlen 2024 lag der Schwerpunkt daher erneut auf der Infrastruktur. Denn die Modi-Regierung plant weitere Eisenbahnprojekte in Höhe von 24 Milliarden US-Dollar. Finanzministerin Sitharaman kündigte zudem Investitionen in den Bau von 50 neuen Flughäfen an, um die regionale Anbindung der Bundesstaaten untereinander zu verbessern. Schulz schränkt jedoch ein: „Stromnetze, Wasserversorgung und Kommunikationsinfrastruktur können in vielen Regionen nicht mit dem wirtschaftlichen Fortschritt Schritt halten.“

72,2 Prozent Plus seit 2021: Der MSCI India

Der MSCI India hat seit 2021 um beeindruckende 72,2 Prozent zugelegt. Diese Entwicklung werde laut Sunil Tirumalai, Analyst bei UBS, durch mehrere Faktoren angetrieben, etwa eine starke Inlandsnachfrage, günstige demografische Bedingungen sowie politische Reformen. Für Tirumalai trage vor allem das robuste Wirtschaftswachstum Indiens maßgeblich zu diesem Anstieg bei. „Die steigende Kaufkraft der wachsenden Mittelschicht und die fortlaufenden Investitionen in die Infrastruktur haben das Vertrauen der Investoren gestärkt“, so Tirumalai. Zudem haben gestiegene ausländische Direktinvestitionen und das Wachstum im Technologiesektor signifikante Beiträge geleistet.

Reformen vs. Bürokratie: Ein langer Weg

Indiens Wirtschaft hat in den vergangenen drei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht, insbesondere seit der Liberalisierung von Handel und Investitionen in den frühen 1990er Jahren. Diese Reformen, initiiert von Politikern der Kongresspartei, haben die zuvor sozialistisch geprägte Wirtschaft geöffnet und eine kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. „Seitdem tut sich viel in Indien. Es bewegt sich, aber es bewegt sich sehr, sehr langsam“, bemerkt Indiologe Schulz.

Ein entscheidender Schritt in dieser Entwicklung war die Reduzierung der Zölle zwischen den indischen Bundesstaaten, eine Maßnahme der aktuellen BJP-Regierung. Bis dahin gab es an den Grenzen der Bundesstaaten kilometerlange Lkw-Staus – diese Zeiten seien nun vorbei, so Schulz. „Das ist eine Errungenschaft der BJP, dass sie es geschafft haben, die Zölle zwischen den Bundesstaaten in erheblichem Maße zu reduzieren.“

„Die Strategie von Modi wird entscheidend sein“

Indien-Experte Oliver Schulz sieht deshalb gute wirtschaftliche Perspektiven für das Land. „Indien hat sich seit Anfang der 1990er Jahre kontinuierlich nach oben entwickelt.“ Zwar verlangsame die Demokratie in Indien oftmals den Reformprozess, aber sie stabilisiere ihn auch. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) traut dem bevölkerungsreichsten Land der Erde weiterhin erhebliches Wachstum zu. Laut Prognosen könnte Indien bereits 2027 auf Rang vier aufrücken und Deutschland überholen. Einige Ökonomen schätzen, dass Indien bis 2030 den dritten Platz hinter den USA und China erreichen könnte.

Trotz der zahlreichen Herausforderungen und der langsamen Fortschritte bleibt Indien ein Land mit großem ökonomischen Potenzial. „Positiv ist, dass die Entwicklung eine kontinuierliche ist“, fasst Schulz die aktuelle Situation zusammen. Der Vergleich mit China mag hinken, doch Indien habe seine eigene Dynamik und ein Potenzial, das es in den kommenden Jahren weiter entfalten dürfte. „Indien hat gute Chancen, seine Bedeutung als internationale Wirtschaftsmacht auszubauen, Wie substantiell der Indien-Hype am Ende tatsächlich ist, hängt allerdings maßgeblich von der Wirtschaftsstrategie von Premier Modi ab.“



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