Die Protokolle des Robert-Koch-Instituts aus der Corona-Zeit ist so etwas wie die Buchhaltung der Pandemie. Es gibt Menschen, die halten die überlieferten Aktenvermerke, auch als RKI-Files bezeichnet, für ein dunkles, gut gehütetes Geheimnis der Regierung. Doch weder werden sie verheimlicht, noch schlummern da Kenntnisse im Verborgenen. Sie beschreiben eine Ausnahmesituation, in der es Lichtblicke gab und manch düstere Stunden. Böse Schnitzer sind da den Verantwortlichen unterlaufen, viele Warnungen der Virologen in den Wind geschlagen worden. Eine Blaupause für die Krise gab es nicht, deshalb sind Sachen schief gegangen. Sie aufzuarbeiten ist auf jeden Fall sinnvoll, um aus den Fehlern für die Zukunft zu lernen.
Das Problem ist: Die Sache ist offenbar für viele Betroffene, Enttäuschte, Ausgegrenzte und Alleingelassene so schmerzhaft gewesen, dass Ihnen eine Entschuldigung nicht ausreicht. Wie der HNO-Arzt aus Berlin, der auf meine Einlassung „Wir werden uns da sicherlich einiges verzeihen müssen!“ wütend entgegnete, „er wolle niemandem auch nur irgendetwas verzeihen“, er verlange vielmehr Aufklärung und Konsequenzen. Ich war einigermaßen baff, hatte mit seiner tiefsitzenden Verärgerung nicht mal im Ansatz des Gesprächs gerechnet.
Verzeihen und entschuldigen reicht nicht
So muss es vielen Menschen in Gesprächen ergangen sein. Darauf deutet ein gemeinschaftlicher Text hin, den namhafte Wissenschaftlerinnen jetzt gemeinsam verfasst haben, um die öffentliche Diskussion rund um die RKI-Protokolle und die Corona-Pandemie herauszufordern. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler, die Schriftstellerin Juli Zeh („Unterleuten“), die Strafrecht-Professorinnen Elisa Hoven aus Leipzig sowie Frauke Rostalski aus Köln.
Sie blicken kopfschüttend zurück:
„Viel wurde vergessen, noch mehr verdrängt. Aus heutiger Sicht scheinen die Erinnerungen an die Corona-Zeit fast wie ein surrealer Traum. Sind wirklich Ordnungshüter mit Zollstöcken die Hamburger Elbpromenade entlanggelaufen, um die Abstände zwischen Spaziergängern zu messen? War es tatsächlich so, dass ungeimpfte Mütter ihre Kinder nicht zum Schwimmkurs bringen durften? Gab es abgesperrte Parkbänke, Wandern im Uhrzeigersinn und Joggen mit Maske? Vollbartverbote, damit Medizinstudenten ihre Masken richtig aufsetzten? Bundesländer, die ihre Grenzen schlossen?“
Warum also dieser Rückblick? Die Impfpflicht hat es in Deutschland (anders als etwa in Österreich) nie gegeben, auch wenn dies teils heftig gefordert wurde von einigen Politikerin. Selbst die Risiko-Gruppe der über 60-Jährigen soll unterdessen selbst entscheiden. Einschränkungen gab es, und musste es wohl auch geben für bestimmte Berufsgruppen, vor allem der unterschiedlich eingeschränkte Bewegungsfreiraum wurde schmerzhafter Eingriff empfunden.
Waren die Bilder aus Bergamo eine Illusion
Waren das jedoch Verstöße gegen Grundrechte? Steht das in den RKI-Protokolle? Dass die Pandemie im Nachhinein nicht so schlimm war und auch ohne die Restriktionen gegangen wäre? Das kann eigentlich niemand ernsthaft behaupten, angesichts von über 50.000 und vermutlich sogar mehr Todesopfern, wie erst jetzt deutlich wird, angesichts der Auswertung aller Todesscheine aus den beiden Corona-Jahren. Die schrecklichen Bilder aus Bergamo nur eine unwirkliche Illusion?
Weshalb glauben die Querdenker, nachträglich, im Recht zu sein und darauf auch weiterhin zu beharren? „Was in der Corona-Zeit passiert ist, hat tiefe Spuren hinterlassen – bei Einzelnen, aber auch in der Gesellschaft im Ganzen. Nicht nur, weil sich viele Maßnahmen als sinnwidrig erwiesen haben. Oder weil es verschiedene Meinungen darüber gab, mit welchen Mitteln der Pandemie Einhalt geboten werden sollte. Der entstandene gesellschaftliche Schaden wurzelt auch in dem Gefühl, dass weder mit Fehlern noch mit Kontroversen angemessen umgegangen wurde – und wird“, lautet der Befund der vier Damen in ihrem Diskussionsbeitrag. Doch warum sollen verantwortliche Politiker wie Jens Spahn oder Karl Lauterbach zu Kreuze kriechen für die Verantwortung, die erst eingefordert und dann auch dankenswerterweise von der Politik übernommen worden ist.
Zeh, Flaßpöhler, Holen und Rostalski hingegen finden eine Enqeute-Kommission ist quasi immer fällig im Parlament, wenn jemand eine falsche Entscheidung getroffen hat - so wie beim Abzug von Militär und Zivilkräften aus Afghanistan. Die vier Verdenkerinnen verstehen unter einem gepflegten Diskurs allerdings auch etwas ganz anderes, als die vielen wütenden Bürger, die in beinahe jedem öffentlichen Forum einen Shitstorm hinterlassen.
Mit Juli Zeh et al. lässt sich reden, wenn sie beteuern: „Dabei ist es eigentlich unnötig, sich vor kritischer Revision zu fürchten. Aufarbeitung besteht gerade nicht darin, triumphierend „Siehste!“ zu schreien. Dass Fehler unterlaufen, ist grundsätzlich erwartbar, wenn es gilt, auf eine neue, noch unbekannte Herausforderung zu reagieren. Es ist aber wichtig, diese Fehler zu erkennen und zu verstehen, aus welchen Gründen sie gemacht wurden. Daraus lässt sich etwas lernen. Für die Krisen, die noch kommen werden.“ Das ist ein guter Gedanke. Denn in diesem Sommer werden einige Bürger schon wieder nervös, wenn das Robert-Koch-Institut pflichtschuldig über vermehrte Corona-Gefahren während der Sommergrippe informiert und warnt. Während umgekehrt viele Menschen behaupten, wir seien alle immun gegen das Virus.
Nicht Nachtreten, aufeinander zugehen
Dennoch ist das Anliegen ernst zu nehmen und grundsätzlich richtig:
„Eine Reflexion von Entscheidungen und Kommunikation in der Pandemie ist kein Nachtreten, sondern ein notwendiger Schritt aufeinander zu, im Interesse des gesellschaftlichen Friedens. Niemand sollte unterschätzen, wie stark die Zeit der Pandemie das Vertrauen vieler Bürger in den Staat und seine Institutionen beschädigt hat. Wer aufarbeitet, zeigt, dass es ihm ernst damit ist, Verantwortung zu übernehmen und es in Zukunft besser zu machen. Es geht darum, sich gemeinsam zu überlegen, wie wir als Gesellschaft miteinander leben und sprechen wollen.“
Verdächtig ist, wenn die persönlichen Erkenntnisse der Autorinnen aus der kursorischen Sichtung der in die Öffentlichkeit gelangten Aktenvermerke bereits vor allen anderen maßgeblich Beteiligten zu bewerten scheinen:
„Die RKI-Protokolle und auch das bereits 2020 öffentlich gewordene Strategiepapier des Bundesinnenministeriums offenbaren ein äußerst zweifelhaftes Verständnis der Politik von ihrer Rolle und ihrem Verhältnis zu den Bürgern. In den geleakten Papieren tritt immer wieder ein Menschenbild zutage, das mit der demokratischen Idee vom mündigen Bürger wenig zu tun hat. Schon das Strategiepapier des Bundesinnenministeriums vom März 2020 geht davon aus, der Staat müsse ‚Urängste‘ triggern, um die Menschen zum Befolgen der Corona-Maßnahmen anzuhalten: ‚Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls.‘“
Schlagworte „Pandemie der Ungeimpften“ aus den damals fast täglichen Talkshow-Auftritten der Heerscharen von Virologen und Wissenschaftlern, die allesamt die Politik beraten wollten, werden jetzt als ebenso pointierte Waffen gegen die Verantwortlichen in Stellung gebracht. Im Beitrag heißt es dazu, wie folgt:
„Obwohl das RKI die Rede von einer ‚Pandemie der Ungeimpften‘ als fachlich ‚nicht korrekt‘ einstuft, wird dieser Fehler nicht aufgedeckt. Denn: ‚Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.‘ Das Ziel hinter dieser Kommunikationsstrategie ist aus Sicht der Politik nachvollziehbar: Möglichst viele Menschen sollten zur Befolgung der Maßnahmen und zu Impfungen bewogen werden. Aber wer dazu auf Einschüchterung, Manipulation oder falsches Framing zurückgreift, der behandelt den Bürger nicht als Souverän, in dessen Auftrag die Politik um die bestmögliche Lösung ringt. Er behandelt ihn als Teil einer zu dirigierenden und zu schützenden Masse, die es mit (fast) allen Mitteln auf Linie zu bringen gilt, um einen vermeintlich alternativlosen Weg durchzusetzen.“
Anweisungen nur aus Eigennutz - oder gar Gier
Ist es wirklich wahr, dass Spahn und andere Gesundheitspolitiker sich der Corona-Pandemie aus eigennützigen oder gar chauvinistischen Motiven angenommen haben - um mit Masken-Deals möglichst viele Geld zu scheffeln und korrupt an Provisionsgeschäften teilzuhaben oder gar nur eine Leiter hinauf in ihrer Karriereplanung erachtet haben? Offenkundig gab es solche Kandidaten in der Politik auch - aber die stehen wie Andrea Tandler von der CSU im Lande längst vor Gericht oder sind bereits strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden.
Die Schlussfolgerung lädt denn mal wieder alles auf dem geräumten Schreibtisch von Ex-Kanzlerin Angela Merkel ab, die mit dem Begriff „Alternativlosigkeit“ einst einen gewünschten politischen Weg als zwingend beschrieben und ihn dem demokratischen Entscheidungsprozess entzogen habe. Das hatte die CDU-Politikerin zwar auf die Griechenland-Hilfen der EU bezogen - zehn Jahre zuvor. Doch angeblich habe die Regierung es auch als Basta in Sachen Corona eingesetzt. Was stimmt ist freilich einzig die Tatsache: „Krisen mit hohem Zeit- und Handlungsdruck verstärken den Eindruck, es sei für Kontroversen keine Zeit, schon gar nicht für das Aushandeln von Kompromissen oder eine echte Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Vielmehr wächst die Sehnsucht nach dem einen richtigen Weg, der, von Experten vorgezeichnet, von allen gemeinsam zu beschreiten ist. Wer das nicht einsehen will, kann nichts anderes sein als uneinsichtig, dumm und egoistisch.“
Für die Damen war dies reaktionär und absichtlich demokratiefeindlich, wenn sie ihre Kritik so zusammenfassen: „In der demokratischen Staatsform liegt aber eine Klugheit, die die Einsichtsfähigkeit von Zeitgenossen gelegentlich übertrifft. Unter dem tatsächlichen oder gefühlten Krisendruck des laufenden Jahrzehnts werden immer häufiger Stimmen laut, die meinen, man könne den gegenwärtigen Herausforderungen nicht mit herkömmlichen demokratischen Verfahren begegnen. Man müsse die Demokratie neu erfinden oder vielleicht sogar ganz abschaffen.“ Doch wer hat wann bereits ernsthaft nach dem System Putin, Orban, Xi oder gar Trump gerufen bei uns in Deutschland? Nur die AfD!
Mit Querulanten konstruktiv diskutieren
Eines ist allerdings wahr und trefflich beobachtet worden im Corona-Streit: „In einem solchen Diskurs-Klima wird bald kein fruchtbarer Meinungsaustausch mehr möglich sein. Stattdessen werden Missverständnisse, Misstrauen und gegenseitige Ablehnung gedeihen und bis in die gemäßigten politischen Gefilde der Mehrheitsgesellschaft vordringen, wo sie künftig der Verständigung im Wege stehen und das Erreichen von Lösungen nicht etwa einfacher, sondern ungleich schwieriger machen.“ Wer die zunehmende Bürgerverdrossenheit schürt, ist freilich längst nicht ausgemacht. Mit Querulanten und Querdenkern zu diskutieren, ist unter den Bedingungen wirklich als Zumutung anzusehen.
Hierzu Flaßpöhler, Hoven, Rostalski und Zeh im O-Ton: „Regierende, die sich nicht trauen, auch einmal einen Fehler zuzugeben, einen Irrtum zu korrigieren, eine Entschuldigung anzubieten oder zu akzeptieren, wirken nicht souverän – und nicht vertrauenswürdig. Ihnen wird nicht zugetraut, verantwortungsvoll und angemessen mit einer Krise umzugehen. Das ist der Kern des reziproken Vertrauensgeschäfts: Demokratische Politik ist nur unter Gleichberechtigten möglich, unter Mündigen, die sich gegenseitig als solche anerkennen und auch so behandeln.“ Die Frage ist, wer sich das wirklich einmal zu Herzen nehmen sollte?