Kann Kamala Harris die Wahl noch gewinnen? Sie braucht dafür die Stimmen der Arbeiter, der Vergessenen, der Armen. Und die hat sie aktuell nicht. In Pennsylvania, Michigan und Wisconsin dürfte sich der Ausgang der Wahl entscheiden. Das sind drei von insgesamt sieben Swing States, auf die es ankommt und um die beide Parteien gerade erbittert ringen. Das Besondere an diesen drei Staaten: Hier geht es um die Stimmen der Abgehängten. Die Bundesstaaten liegen im ehemaligen „Manufacturing Belt“ oder „Steel Belt“ der USA. Der aber ist schon lange zum so genannten „Rust Belt“ verkommen. Die Stahl- und Automobilindustrie hier zählte einst zu den größten der Welt. Doch seit den 70er Jahren rostet die Region vor sich hin, versinkt Jahrzehnt für Jahrzehnt immer tiefer in Armut und Bedeutungslosigkeit. Wer noch Arbeit hat, bangt um diese. Viele Amerikaner dort hängen von staatlichen Zuwendungen ab, etwa in Form von Lebensmittelmarken. Sie fühlen sich vom Rest der USA vergessen. Und genau diese Menschen sind es, deren Stimmen am 5. November das entscheidende Zünglein an der Wahl-Waage sein könnten. Und womöglich nicht zu Gunsten der Demokraten.
Die Zeiten haben sich geändert
Schon 2016 ermöglichten die Wähler in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin im „Rostgürtel“ den Wahlsieg Trumps. Hier werben Demokraten und Republikaner nun lauthals um die Stimmen derjenigen, um die sonst keiner wirbt, die sonst allen egal sind. Noch stehen die Kandidaten dabei fast gleichauf, getrennt von nur zwei Prozentpunkten und damit deutlich innerhalb der Fehlertoleranz der Umfragen. Doch selbst das ist eigentlich schon eine Niederlage für die Demokraten, die das bessere Programm für die Menschen dort haben - aber es nicht gut an den Mann bringen können. Womöglich haben sie sich zu lang darauf verlassen, dass die Arbeiter schon von selbst wissen, was gut für sie ist und ihr Kreuz bei ihnen machen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Traditionell wählen die Menschen jene Partei, die am ehesten ihre wirtschaftlichen Interessen vertritt. Die Republikaner mit dem roten Elefanten stehen für die Konzernbosse, die Demokraten mit dem blauen Esel für den kleinen Mann, also für die Arbeiter. Für die ergibt es wenig Sinn, Trump zu wählen. Denn als der an der Macht war, machte er eine äußerst arbeitgeberfreundliche Politik - was er im Falle seiner Wahl wohl auch wieder täte. Damit dürfte es von Trump für die Arbeiter unterm Strich weniger Mitbestimmung geben, weniger Geld auf dem Lohnzettel, und dafür mehr Arbeit. Aber um Sinn geht es offenbar nicht bei diesen Wahlen. Sondern um Glauben, Ängste, Hoffnung.
Trump gewinnt Stimmen trotz seines Wahlprogramms
Das Spiel mit den Emotionen, das beherrscht Trump. Sein MAGA, „Make America Great Again!“, steht für eine rosarot verbrämte, nostalgische Vergangenheit Amerikas, die es so nie gab, und in der natürlich alles viel besser und einfacher war. Und MAGA steht zugleich für eine goldene Zukunft, die so zwar nie kommen wird, die aber verheißungsvoll klingt. Eine Fiktion, in der die Hochöfen wieder befeuert werden, die Fabrikhallen mit Leben und Arbeit und Lärm gefüllt, die Fließbänder angeworfen. So eine Fiktion kann Mut machen, wenn man sonst nichts hat. Doch nicht nur das. Trumps Story suggeriert obendrein: Selbst, wenn du noch so ein winzig kleines Lichtlein am Rande der amerikanischen Gesellschaft bist, von niemandem gebraucht wirst und von Alkohol, Opioiden und Essensmarken abhängst – du bist ein Mann, du bist ein Weißer, du bist ein Amerikaner. Darauf kannst du dir etwas einbilden! Trumpf zielt mit seinem dumpfen Rassismus und Machismus erfolgreich auf den gebeutelten Stolz der abgehängten Arbeiterschaft. Damit gewinnt er Stimmen - nicht wegen, sondern trotz seines Wahlprogramms.
Harris bietet keine Vision für die Arbeiter
Und Harris? Wofür steht sie? Die Rechte von Minderheiten? Die Interessen städtischer, gebildeter Eliten? Demokratie statt Totalitarismus? Was davon ist für jemanden in seinem harten Existenzkampf relevant? Vermutlich nicht allzuviel, wenn es ums nackte Überleben geht. Freilich, ihr politisches Programm ist faktisch besser für jemanden am unteren Ende der Gesellschaft: eine hoffentlich bezahlbare Krankenkasse, das Recht auf Abtreibung, die betriebliche Mitbestimmung durch Gewerkschaften. Doch auf ihrer Website richtet sich Harris explizit an die Mittelschicht, nicht an die Arbeiter. Ihr Wahlprogramm umfasst Punkte, die den Arbeitern ebenfalls zu Gute kommen: Kosten senken für alltägliche Bedürfnisse wie Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Lebensmittel, ebenso wie die Steuern für die mehr als 100 Millionen „arbeitende Amerikaner der Mittelschicht“. Doch die stolzgeschwellte Vision einer glorreichen Wiederkehr des rostfreien Stahlgürtels, die fehlt. Hinzu kommt, dass Kamala Harris nicht nur eine Frau ist, sondern auch dunkelhäutig. Was ihre Chancen bei den weißen Arbeitern zu schmälern scheint, die einer schwarzen Frau offenbar weniger zutrauen. Sogar bei den Latinos und Afroamerikanern holt Harris aktuell im Vergleich weniger Stimmen als damals Joe Biden, geschweige denn Obama. Auf der eher unbekannten Harris lastet zudem auch noch Bidens Erbe, der trotz der Erholung der US-Wirtschaft nach der Pandemie als Präsident der hohen Inflation gilt, die mit rund 25 Prozent ordentlich zu Buche schlägt.
Trump ist attraktiv für den kleinen, weißen Mann
Donald Trump hingegen? Den kennen die Menschen. Und sie erinnern sich an die Hilfs-Schecks aus den Coronajahren, unter die er damals fett und dreist seinen Namen drucken ließ – auch wenn er gar nicht sein eigenes Geld verteilte. Donald Trump verspricht den Menschen halt gerne, was sie hören möchten. Das ist ja der offenkundige Trick des Populismus. Viel kniffliger ist da die Frage, wieso die Menschen ihm gerne glauben. Vermutlich eine Mischung aus Verzweiflung, gefühlter Alternativlosigkeit und Leichtgläubigkeit. In Pennsylvania haben zwei von drei Menschen keinen Collegeabschluss. Trumps „Make America Great Again“ trifft da den emotionalen Nerv. Faktisch sind er und seine Partei zwar nicht auf Seiten des Arbeiters. Aber er kann prima so tun, als ob. Anziehend wirkt der selbst ernannte Siegertyp auf den armen Mann durchaus. Das war schon 2016 so, und bei 25 Prozent Inflation und niedrigen bis gar keinen Gehältern hören offenbar ebenfalls viele Menschen auf diesen Demagogen, der güldene Zeiten verspricht und eine Politik macht, die dem kleinen Mann zwar allerhand in Aussicht stellt, letzten Endes aber für dumm verkauft.
Demokraten haben Unterstützung der Gewerkschaften verloren
Viel Zeit bleiben Harris und ihrem Team nicht, die Arbeiter wieder von sich zu überzeugen. Die Unterstützung der Gewerkschaften haben sie nur teilweise. Laut einer Analyse des Pew Research Institutes schließe sich zwar nach wie vor eine Mehrheit der Gewerkschaftsmitlieder der demokratischen Kandidatin an. Dennoch heißt es in einem „Politico“-Bericht über die Arbeiterschaft vor der US-Wahl 2024: „Die Abkehr von der Demokratischen Partei ist ein großes Problem bei einer Präsidentschaftswahl, die mit knapper Mehrheit entschieden wird.“ Wie das „Wall Street Journal“ berichtet, machen sich die Demokraten Sorgen über das Ansehen ihrer Kandidatin bei der Arbeiterschicht. Eine interne Umfrage der Gewerkschaft International Brotherhood of Teamsters ergab, dass fast 60 Prozent ihrer Mitglieder Trump unterstützen. Die Teamsters haben sich daher dazu entschieden, bei der diesjährigen US-Wahl 2024 keinen der Kandidaten zu unterstützen – was einer öffentlichen Absage an Harris gleichkommt. Und das bei 1,3 Millionen Mitgliedern.
Wird Harris die Wahl verlieren, weil sie die Stimmen der Arbeiter verliert? Und was zählt am Ende im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, von Hollywood und wildem Westen: Fakt oder Fiktion? Ein trockenes Wahlprogramm oder eine epische Story? Man könnte vermuten: Die Story gewinnt.