Die Bundesregierung steht nach dem Haftbefehl gegen Israels Regierungschef vor einem Dilemma. Noch ist offen, wie sie sich positionieren wird. Für Ungarn ist hingegen klar: Der Haftbefehl wird ignoriert.
Nach dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat die Bundesregierung noch keine Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen getroffen. Deutschland befindet sich in einer Zwickmühle: Einerseits ist es Vertragsstaat und Verfechter des IStGH, andererseits unterstützt es Israels Recht auf Selbstverteidigung nach dem Terrorüberfall der Hamas im vergangenen Jahr. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hingegen hat sich klar positioniert: Er sprach demonstrativ eine Einladung an Netanjahu aus und will den Haftbefehl ignorieren – obwohl auch Ungarn Vertragsstaat des IStGH ist.
Am Donnerstag hatte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Netanjahu und den kürzlich entlassenen israelischen Verteidigungsminister Galant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gaza-Krieg erlassen. Die Entscheidung ist international stark umstritten: Während Israels Verbündete den Beschluss kritisieren, feiern der Iran und die Palästinensische Autonomiebehörde ihn.
Auch gegen Mohammad Diab Ibrahim Al-Masri, bekannt als Mohammad Deif, einen Anführer der Terrororganisation Hamas, wurde ein Haftbefehl erlassen. Nach israelischen Angaben ist er jedoch nicht mehr am Leben.
Baerbock: Einreise Netanjahus ist "hypothetische Frage"
Zum Haftbefehl gegen Netanjahu und Galant erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit, dass die daraus folgenden "innerstaatlichen Schritte" sorgfältig geprüft würden. Konkrete Entscheidungen seien erst nötig, wenn ein Aufenthalt von Netanjahu oder Galant in Deutschland absehbar sei.
Deutschland sei einer der größten Unterstützer des Gerichtshofs. "Diese Haltung ist auch Ergebnis der deutschen Geschichte. Gleichzeitig ist Konsequenz der deutschen Geschichte, dass uns einzigartige Beziehungen und eine große Verantwortung mit Israel verbinden", betonte Hebestreit. Die Bundesregierung sei an der Ausarbeitung des IStGH-Statuts beteiligt gewesen und habe die Entscheidung des Gerichts zur Kenntnis genommen.
Außenministerin Annalena Baerbock sagte gegenüber RTL und ntv, Deutschland halte sich "natürlich national, europäisch und international an Recht und Gesetz". Eine mögliche Einreise Netanjahus in die EU sei jedoch eine "hypothetische Frage". "Aber das prüfen wir jetzt genau, wie wir dann damit umgehen werden."
Ungarn lädt demonstrativ ein
Eine Einladung an Netanjahu aus der EU gibt es bereits: Ungarns rechtspopulistischer Ministerpräsident Viktor Orban sprach sie demonstrativ nach dem Haftbefehl aus. Der Beschluss des IStGH setze das Völkerrecht außer Kraft und "gießt auch noch Öl ins Feuer", erklärte Orban im ungarischen Staatsrundfunk. "Deshalb werde ich Benjamin Netanjahu heute noch einladen, was für ihn keine Konsequenzen haben wird. Wir werden den Haftbefehl ablehnen, wenn er die Einladung annimmt." Orban pflegt seit Langem gute Beziehungen zu Netanjahu.
Israels Regierungschef dankte Orban für seine Unterstützung, wie aus einer Mitteilung seines Büros hervorging. Ungarn stehe auf der Seite der Gerechtigkeit. Ob Netanjahu die Einladung annehmen wird, blieb zunächst offen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Ungarn einen Haftbefehl des IStGH ignoriert. Als das Gericht im vergangenen Jahr Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine erließ, hatte Budapest ebenfalls angekündigt, diesen nicht umzusetzen.
Vertragsstaaten des IStGH sind eigentlich verpflichtet, Haftbefehle zu vollstrecken. Eine Weigerung, Netanjahu festzunehmen und auszuliefern, hätte jedoch zunächst keine direkten Folgen. Ein solcher Fall kann an die Konferenz der Vertragsstaaten übergeben werden, die dann über Konsequenzen entscheidet. In der Vergangenheit wurden Staaten in ähnlichen Fällen meist nur kritisiert, ohne dass Sanktionen folgten.
Zuletzt hatte sich auch die Mongolei geweigert, Putin bei einem Besuch im Land festzunehmen. Dies soll auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz Anfang Dezember in Den Haag diskutiert werden.