Wiedereinführung der Wehrpflicht: Kommt sie oder kommt sie nicht?
„Die Bundeswehr schrumpft und wird älter.“ So hat es im März die damalige Wehrbeauftragte Eva Högl formuliert, als sie ihren Jahresbericht vorstellte. „Diese Entwicklung muss dringend gestoppt und umgedreht werden“, so die SPD-Politikerin. Die Frage ist nur, wie das Ziel erreicht werden soll.
Der jetzige Wehrbeauftragte Henning Otte (CDU) ist skeptisch, ob ein freiwilliger Dienst dafür ausreicht. In einem BR24-Interview macht er klar: „Sollte das nicht ausreichen, muss es verpflichtend sein.“ Die Diskussion über eine Rückkehr zur Wehrpflicht ist in Berlin in vollem Gange.
Die Debatte über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland nimmt an Schärfe zu. Laut dem neuen ARD-Deutschlandtrend sprechen sich rund 73 Prozent der Befragten dafür aus, den Wehrdienst rund 14 Jahre nach seiner Aussetzung wieder einzuführen. Nur 23 Prozent wollen, dass er weiterhin ausgesetzt bleibt.
Unternehmen warnen Merz-Regierung: Wehrpflicht gefährdet Arbeitsplätze
Arbeitgeberverbände und Unternehmen warnen jedoch: Eine Rückkehr der Wehrpflicht würde den ohnehin angespannten Arbeitsmarkt weiter belasten – und den Fachkräftemangel in vielen Branchen verschärfen.
Deutsche Unternehmensvertreter erklärten gegenüber der britischen Zeitung Financial Times (FT), dass sie eine Stärkung des Militärs zwar grundsätzlich befürworten. Sie befürchten jedoch, dass eine neue Wehrpflicht für Unternehmen, die auf dem angespannten Arbeitsmarkt nach Arbeitskräften suchen, eine noch stärkere Belastung darstellen könnte. „Die Sicherheitslage ist dramatisch“, sagte der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA, Steffen Kampeter, zur FT. „Ja, wir brauchen mehr aktive Soldaten“, bekräftigte er. „Ja, wir müssen das Reservistensystem ausbauen. Aber nur eine starke Wirtschaft kann das ermöglichen.“
Ifo-Studie: Wehrpflicht würde deutsche Wirtschaft Milliarden kosten
Eine Studie des Münchener Ifo-Instituts (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.) aus dem vergangenen Jahr kam außerdem zu dem Ergebnis, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland gesamtwirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe verursachen könnte. Die Kosten entstünden vor allem, weil junge Menschen erst später beginnen, Humankapital und Vermögen aufzubauen.
„Als Alternative zur Wehrpflicht wäre es sinnvoller, die Bundeswehr mit mehr Mitteln auszustatten, um sie als Arbeitgeber attraktiver zu machen, beispielsweise durch höhere Gehälter“, sagte Panu Poutvaara, der Leiter des Ifo-Zentrums für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung. Dies würde zwar den Staatshaushalt stärker belasten, die gesamtwirtschaftlichen Kosten fielen aber um fast die Hälfte geringer aus als bei der Wehrpflicht.
Abschreckung Russland: Was die Nato fordert
Inzwischen haben die Nato-Verteidigungsminister vereinbart, was künftig jedes Mitgliedsland beitragen muss, damit die Allianz ausreichend verteidigungsfähig ist und einen potenziellen hochgerüsteten Angreifer wie etwa Russland abschrecken kann. Deutschland benötige daher 50.000 bis 60.000 aktive Soldaten mehr, sagt Verteidigungsminister Boris Pistorius. Aber schon das bisherige Ziel von 203.000 Männern und Frauen in den stehenden Streitkräften wurden nicht erreicht. Trotz Werbekampagnen und Social-Media-Auftritten, vielfach verkündeter „Personalwenden“ und gesenkter Anforderungen sank die Zahl auf kaum mehr als 181.000 Soldaten. Hinzu kommt, dass das Durchschnittsalter der Truppe inzwischen auf 34 Jahre angestiegen ist.
Davon sollen bis 2027 knapp 5.000 Bundeswehrsoldaten freiwillig ins Baltikum abgezogen werden, um vor Ort die Nato-Ostflanke zu stärken. Die sogenannte "Litauen-Brigade" gilt als Mammut-Projekt: Es ist der erste Großverband in der Geschichte der Bundeswehr, der dauerhaft im Ausland stationiert werden soll. Zum Vergleich: Während des Kalten Kriegs zählte die Bundeswehr rund 500.000 Soldatinnen und Soldaten.
Rückkehr zur Wehrpflicht? Union und SPD uneinig
In der Koalition gibt es zunehmend Differenzen über eine zügige Rückkehr zur Wehrpflicht, um das Natoziel zu erreichen. Unionsfraktionschef Jens Spahn plädiert dafür, die Voraussetzungen für einen etwaigen Pflichtdienst in der Bundeswehr vorsorglich schon zu schaffen – die SPD will das noch nicht. Auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte vor kurzem „zusätzliche Schritte“ beim Wehrdienst nicht ausgeschlossen.
„Es muss auf jeden Fall eine Struktur bei der Bundeswehr geschaffen werden, die eine zügige Rückkehr zur Wehrpflicht möglich macht. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir müssen mit den Vorbereitungen beginnen“, sagte der Ex-Gesundheitsminister Spahn der Rheinischen Post. „Wenn das über Freiwilligkeit gelingen sollte, gut. Mein Eindruck aber ist, dass wir die Wehrpflicht dafür brauchen werden.“
Im ARD-Bericht aus Berlin, sagte Spahn weiter dazu: „Wenn wir in ein, zwei, drei Jahren merken sollten, das klappt nicht über die Freiwilligkeit, dann braucht es einen politischen oder einen gesetzlichen Automatismus, dass dann auch die Wehrpflicht kommt.“
Wehrdienst: Regierungsdebatte um Freiwilligkeit oder Pflicht
Auch der Wehrbeauftragte des Bundestags, der CDU-Politiker Henning Otte, pochte in der Welt am Sonntag auf eine Absicherung, falls es nicht genug Freiwillige gibt. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner verwies dazu auf das Adverb „zunächst“ für die im Koalitionsvertrag vereinbarte Freiwilligkeit. „Das schließt also nicht aus, dass man perspektivisch nach Bedarf und mit entsprechender Infrastruktur eine Wehrpflicht wiedereinführt“, sagte die CDU-Politikerin dem RND. Sie sei allerdings Fan einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch andere Bereiche des sozialen Lebens umfasst.
Im Koalitionsvertrag sprechen Union und SPD nicht direkt von einer Wehrpflicht, sondern darin heißt es: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Hier hatte sich die SPD in den Verhandlungen gegen die Union durchgesetzt. Trotzdem hat Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mehrfach deutlich gemacht, dass die vereinbarte Freiwilligkeit nur gilt, wenn der Bedarf an Soldaten auf diesem Weg gedeckt werden kann.
Verteidigungsminister Pistorius: Infrastruktur für Wehrpflicht fehlt
Pistorius wies in der ARD darauf hin, man habe derzeit gar nicht die Infrastruktur für die Wehrpflicht, zum Beispiel genügend Kasernen. Diese würden mit Nachdruck gebaut. „Wir steigen mit einem Wehrdienst ein, einem erweiterten freiwilligen, attraktiven Wehrdienst, und beobachten sehr genau die Lage“, sagte der SPD-Politiker. Er gebe allen recht, die sagten, es müssten Vorkehrungen getroffen werden für den „Zeitpunkt X“, zu dem die Freiwilligen nicht mehr reichten. „Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren miteinander diskutieren.“
Deutlich wird, dass es in der Debatte um mehr geht als die nun strittigen Rechtsgrundlagen. Wer die Voraussetzungen für eine Wehrpflicht schaffen will, muss zeitig Kasernen, Ausrüstung und Ausbilder vorhalten. Die Zeit drängt, erklären Nachrichtendienste und Fachpolitiker. Bis 2029 sei Russland zu einem Angriff auf Nato-Gebiet fähig. Gemessen am jahrelang verkündeten alten Ziel müsste die Bundeswehr in der Lage sein, kurzfristig gut 20.000 Soldaten auszurüsten und zu trainieren. Doch soll der neue Wehrdienst zunächst mit 5.000 Freiwilligen beginnen, wie es zuletzt hieß. Für mehr fehlten schon die Ausbilder.
SPD uneinig: Wird die Wehrpflicht-Debatte zur Zerreißprobe?
Anders als der Verteidigungsminister wollen andere SPD-Mitglieder das Tempo aus der Debatte nehmen: Die SPD-Fraktion äußerte sich zurückhaltend zu einer Rückkehr zur Wehrpflicht. „Über eine Wehrpflicht kann man dann gegebenenfalls in der kommenden Legislaturperiode verhandeln, in dieser nicht“, hatte jüngst SPD-Fraktionschef Matthias Miersch der Neuen Osnabrücker Zeitung gesagt.
Der verteidigungspolitische SPD-Fraktionssprecher, Falko Droßmann, sagte hingegen der DPA: „Wir arbeiten hart daran, junge Männer und Frauen für den Dienst in unseren Streitkräften zu begeistern. Dafür muss die Infrastruktur der Bundeswehr massiv verbessert werden und es müssen attraktive und flexible Laufbahnmodelle angeboten werden. Da sind wir mit Hochdruck dran. Wer diese notwendigen Anstrengungen scheut und allein auf Zwang setzt, macht es sich deutlich zu leicht.“
Wehrpflicht in Deutschland? Sahra Wagenknecht schlägt „ziviles Gesellschaftsjahr“ vor
Vor einem möglichen Neustart der Wehrpflicht für die Bundeswehr fordert BSW-Chefin Sahra Wagenknecht eine Volksabstimmung von Menschen unter 30 Jahren. „Es darf nicht sein, dass Union und SPD die Wehrpflicht durch die Hintertür einführen, sollte es nicht genug Freiwillige geben“, sagte Wagenknecht der DPA.
Nötig seien vielmehr eine große gesellschaftliche Debatte und die Abstimmung der jungen Generation .Das Bündnis Sahra Wagenknecht würde dabei für ein „ziviles Gesellschaftsjahr“ werben, meinte Wagenknecht: „Unser Land sollte nicht kriegstüchtig, sondern friedenstüchtig und sozialer werden.
Anfang 2026: Wann das neue Wehrdienstmodell kommen könnte
Die Wehrpflicht war 2011 unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach 55 Jahren ausgesetzt worden. Sie galt bis dahin nur für Männer und tritt für Männer wieder in Kraft, wenn der Bundestag den Spannungs- oder Verteidigungsfall feststellt. Soll die Pflicht auch für Frauen gelten, müsste das Grundgesetz geändert werden. Das nun nötige Gesetz über einen neuen Wehrdienst wird im Verteidigungsministerium geschrieben und befindet sich aktuell in der sogenannten Ressortabstimmung zwischen den Ministerien.
Ein Gesetzentwurf dazu ist in Arbeit. Pistorius möchte, dass das Bundeskabinett noch vor der Sommerpause einen Beschluss fasst. Also vor Mitte Juli. Dann könnte sich der Bundestag im Herbst mit dem neuen Wehrdienst beschäftigen. Ziel ist es, dass das Modell Anfang nächsten Jahres in Kraft tritt. Der neue Wehrbeauftragte Henning Otte (CDU) spricht sich für noch mehr Anreize für junge Menschen aus, um sich freiwillig zu melden. „Dazu könnten Erleichterungen beim Studienzugang oder zusätzliche Rentenpunkte gehören“, sagte er dem RND. Das müsse sich dann konkret in der nötigen gesellschaftlichen Diskussion über den Dienst in der Bundeswehr ergeben.
Wirtschaft für Wehrpflicht trotz Fachkräftemangel
Führende Vertreter der wichtigsten Branchen sprechen sich in der BILD für die Wiedereinführung der Wehrpflicht aus – auch wenn zunächst viele Zehntausend junge Menschen in den Betrieben fehlen würden. Oliver Zander (56), Chef des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall: „Der bereits im Frieden erforderliche Aufwuchs von zirka 180.000 auf 260.000 Soldaten und die Durchhaltefähigkeit im Verteidigungs- und Bündnisfall mit dann möglicherweise über 400.000 Soldaten sind mit einem freiwilligen Wehrdienst definitiv nicht zu schaffen. Wir brauchen deshalb die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht.“
Für Gesamtmetall-Chef Zander ist zudem klar, dass per Verfassungsänderung auch Frauen zum Wehrdienst gerufen werden müssen. Und: „Auch für Migranten, die die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben, ist das die Gelegenheit, sich für ihr neues Heimatland zu engagieren. Wehr- und Ersatzdienst diente so nebenbei auch der Integration.“
Mittelstand: „Wirtschaft profitiert von Wehrpflichten“
Unterstützung kommt von Mittelstandschef Christoph Ahlhaus (55): „Ein Leben in Freiheit und Wohlstand muss jeden Tag neu erarbeitet und verteidigt werden. Darum steht der deutsche Mittelstand voll hinter unserer Bundeswehr: als Dienstleister und Zulieferer, durch großzügige Freistellungsregelungen bei Reserveübungen oder bei der personellen Aufstockung unserer Streitkräfte: Wehrpflicht? Wuppen wir!“
Laut Ahlhaus profitiere die Wirtschaft direkt von Wehrpflichtigen, die von der Bundeswehr ausgebildet wurden und in die Unternehmen zurückkehren: „Als IT-Experten oder Drohnen-Spezialisten. Als Lkw-Fahrer oder Logistik-Profis.“
Fazit: Wiedereinsetzung der Wehrpflicht - Aufrüstung um jeden Preis?
Militärexperten gehen davon aus, dass die künftigen Anforderungen der NATO eine deutlich größere Bundeswehr erfordern werden. Es werden wieder mehr Soldaten gebraucht, doch das Interesse an der Bundeswehr sinkt eher, als dass es zunimmt. Gegner sehen darin einen Eingriff in die persönliche Freiheit und weisen auf mögliche hohe Kosten sowie Schwierigkeiten bei der Umsetzung hin: Kasernen und Liegenschaften wurden verkauft. Die Wehrersatzämter, in denen die jungen Männer zuvor gemustert worden waren, wurden abgeschafft. Die Strukturen, die es für eine Wehrpflicht braucht, existieren nicht mehr.
Befürworter argumentieren, dass eine Wehrpflicht die Verteidigungsbereitschaft stärken und der Bundeswehr mehr Personal zur Verfügung stellen würde. Doch dafür müsste die Politik die Sorgen und Bedenken der Bevölkerung ernst nehmen. Denn viele sind nicht von einer aktuellen Bedrohungslage überzeugt - und das es tatsächlich wieder mehr Soldatinnen und Soldaten braucht.