Politik

Putins Imperium zerbröckelt: Aserbaidschan demütigt den Kreml – mit Hilfe der Türkei

Aserbaidschan widersetzt sich offen Moskau, schließt russische Propagandakanäle und greift zur Verhaftung von Russen – ein Tabubruch in Putins einst unantastbarer Einflusszone. Während der Kreml tobt, baut die Türkei im Schatten des Ukraine-Kriegs ein neues Machtzentrum auf – und Putin kann nur noch zusehen.
10.07.2025 17:43
Lesezeit: 4 min
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Putins Imperium zerbröckelt: Aserbaidschan demütigt den Kreml – mit Hilfe der Türkei
Ilham Alijew (rechts), aserbaidschanischer Präsident, richtet seine Politik zunehmend zum Staatschef der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, aus. (Foto: dpa) Foto: -

Erdoğan statt Putin: Wer im Kaukasus das Sagen hat, entscheidet sich jetzt

Der kürzlich ausgebrochene Streit zwischen Russland und Aserbaidschan ist Teil eines weitaus umfassenderen Wandels in Moskaus einstiger Einflusszone. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist vergangene Woche in Aserbaidschan gelandet, um am Gipfeltreffen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Kaukasus und Zentralasien (ECO) teilzunehmen. Die weitgehend an das Kaspische Meer angrenzenden Staaten umfassende Wirtschaftsgemeinschaft ist – in US-Dollar gemessen – nahezu doppelt so groß wie Russland. Und ihr Führungsstaat, die Türkei, zeigt zunehmend auch politisch, dass das einst zur Sowjetunion gehörende „Hinterland Russlands“ nur noch in den Träumen der dortigen Chauvinisten in Kremlhand liegt. Das berichtet das Wirtschaftsportal Äripäev.

Seit Ende des vergangenen Monats liegt das diesjährige Gastgeberland Aserbaidschan mit Russland in einem öffentlichen Streit. Der Ursprung geht auf Ende letzten Jahres zurück, als die russische Luftabwehr ein aserbaidschanisches Passagierflugzeug über Tschetschenien abschoss. Neu entfacht wurde der Konflikt jedoch am 27. Juni, als russische Behörden Dutzende Aserbaidschaner festnahmen, von denen zwei später in Haft starben. Während die offizielle Todesursache gesundheitliche Komplikationen war, erklärten aserbaidschanische Behörden, die die Leichen übernahmen, die Männer seien zu Tode geprügelt worden. Baku reagierte mit der Schließung des lokalen Büros des russischen Propagandakanals Sputnik, sagte sämtliche russischen Kulturveranstaltungen ab und begann demonstrativ mit der Verhaftung örtlicher Russen. Anfang Juli warnte das russische Außenministerium seine Bürger vor Reisen nach Aserbaidschan. Ministeriumssprecherin Maria Sacharowa betonte indes, ausländische Agenten versuchten, einen Keil zwischen Baku und Moskau zu treiben.

Der Chefpropagandist Wladimir Solowjow hingegen erinnerte die Aserbaidschaner daran, dass auf der 300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze „alles passieren kann“, wenn Baku nicht sofort über die Konsequenzen seines Handelns nachdenke. Doch Aserbaidschan unter Präsident Ilham Alijew nimmt keine Anweisungen mehr vom Kreml entgegen. Der Ukraine-Krieg hat Moskaus Fähigkeit, politische Kontrolle über die Region auszuüben, nur weiter untergraben.

Aserbaidschan ist kein Weißrussland

„Der Verlust der russischen Vorherrschaft im Südkaukasus ist schwer umzukehren“, erklärte Zaur Schirijew, Aserbaidschan-Experte des Eurasien-Zentrums von Carnegie. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters räumte er ein, dass der Kreml in der Region noch Einfluss habe, doch „die Tagesordnung bestimmt er nicht mehr“.

„Aserbaidschans entschlosseneres Auftreten ist eine Reaktion auf diese Tatsache. Es handelt sich nicht mehr um die einseitige, von oben herab geprägte Beziehung, an die Moskau gewöhnt ist – wie sie mit Weißrussland besteht“, so Schirijew. Den deutlichsten Ausdruck seiner eigenständigen Politik gab Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien 2020, dessen Fortsetzung im Jahr 2023 den jahrzehntelang eingefrorenen Konflikt um Bergkarabach beendete. Ende Juli sollen Alijew und der armenische Premierminister Nikol Paschinjan in Dubai zusammenkommen, um einer finalen Friedenslösung näherzukommen – und damit de jure zu bestätigen, was de facto bereits auf dem Boden geschaffen wurde. Darüber hinaus soll auch eine Vereinbarung kurz bevorstehen, die Aserbaidschan einen Landzugang zu seiner abgetrennten Enklave Nachitschewan ermöglichen würde – geopolitisch noch bedeutender: Russland würde damit endgültig aus der Gleichung entfernt, nachdem seine Allianz mit Armenien durch den verlorenen Krieg in Trümmern liegt.

Solche Abkommen vermittelt inzwischen das Brudervolk der Aserbaidschaner. Die Türkei unter Erdoğans Alleinherrschaft empfing aus diesem Anlass Paschinjan kurz vor dem Johannistag – obwohl Ankara den Völkermord an den Armeniern bis heute nicht anerkennt. Dass Armenien kaum Handlungsspielraum hat, zeigt sich auch darin, dass das jüngste Treffen in Hankendi stattfindet – vormals Stepanakert –, der einstigen Hauptstadt der nicht anerkannten Republik Bergkarabach.

Genauso wenig demokratisch wie die Türkei, aber nützlich

Wie die Türkei ist auch Aserbaidschan unter der Dynastie Alijew weit entfernt von einer Demokratie – doch die Zeit, in der die „freie Welt“ sie daran erinnerte, ist vorbei. Ende April erklärte die aus Baku gestartete EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas zu Beginn ihrer Kaukasusreise, dass für Europa gute Wirtschaftsbeziehungen oberste Priorität hätten – und zwar auf Grundlage stetig wachsender Gasimporte. So ersetzt Aserbaidschan nun jenes Pipeline-Gas, das einst nach Mitteleuropa gelangte. Bald soll der Export nach Europa doppelt so hoch sein wie vor Beginn des russischen Angriffskriegs. Zwar liegt das Volumen derzeit erst bei einem Zehntel der früheren russischen Gaslieferungen, doch das soll sich ändern – gemeinsam mit der Türkei.

Wie groß ist der Hebel des Kremls?

Auch wenn regionale Experten bezweifeln, dass Aserbaidschan an einer Eskalation des Konflikts mit Russland interessiert ist, bleibt das Risiko weiterer Zusammenstöße erheblich. Offiziell leben rund eine halbe Million Aserbaidschaner in Russland, inoffiziell womöglich viermal so viele. Aserbaidschanische Unternehmer kontrollieren bedeutende Teile des Immobilien- und Bausektors, ganz zu schweigen vom Obsthandel – einem wichtigen Exportzweig für das Land selbst. Aserbaidschan, das zwischen Russland und Iran liegt, dient dem Kreml zudem als wichtige Umgehungsroute für Sanktionen. Zwar hatte Solowjow recht, als er sagte, der bilaterale Handel sei für die Aserbaidschaner deutlich wichtiger als für die Russen – doch das hat Alijew bislang nicht gebremst. Auch an den Feierlichkeiten zum 9. Mai in Moskau nahm er wegen des erwähnten Flugzeugabschusses nicht teil – Russland hat dafür bis heute keine Verantwortung übernommen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versuchte, Kapital aus dem Streit zu schlagen: In einer Rede in der vergangenen Woche sprach er Alijew sein Beileid aus und betonte die Solidarität der Ukraine mit Aserbaidschan angesichts der Bedrohung durch Russland. Zwar dürfte Alijews derzeitiger Kurs auch innenpolitisch motiviert sein, um die öffentliche Stimmung gegen Russland zur Machtsicherung zu nutzen – doch die Ereignisse deuten auf einen grundlegenden geopolitischen Wandel im Kaspischen Raum hin.

Der ukrainische Regierungsberater und einflussreiche Kommentator Anton Heraschtschenko prognostiziert, dass Aserbaidschan zusammen mit der Türkei ein Öl- und Gaszentrum aufbauen will, das Russland ernsthafte Konkurrenz macht – regional wie global.

Nach Ansicht Heraschtschenkos ist der türkische Ehrgeiz größer denn je: Nachdem Ankara im vergangenen Jahr erfolgreich das Assad-Regime in Syrien zu Fall brachte, sieht es nun den gesamten Kaukasus als neues Wirkungsfeld – zumal Russland dort mit Georgien nur noch einen autoritär gewendeten Verbündeten hat. Genau deshalb suche die Türkei auch die Zusammenarbeit mit Armenien – was aus historischen Gründen lange Zeit undenkbar war. „Die demonstrativen Machtaktionen gegen die aserische Gemeinde in Jekaterinburg könnten daher eine Botschaft des Kreml an Baku sein: Stoppt die Annäherung an die Türkei oder wir jagen eure Wirtschaftselite“, so Heraschtschenko. „Doch wenn Moskau schon zu so primitiven Mitteln greift, zeigt das nur: Einen anderen Hebel hat es nicht mehr.“

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