In Deutschland wird heftig darüber diskutiert, wie die Sozialsysteme abgesichert werden können. Im Fokus steht beim Thema Rente auch die Lebensarbeitszeit. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hat mit ihrer Forderung, die Deutschen müssten mehr und länger arbeiten, in den vergangenen Wochen die Debatte neu angeheizt. Ihre Aussagen lösten heftigen Widerspruch, aber auch Zustimmung aus. Jetzt rücken Ökonomen dabei die Staatsdiener in den Mittelpunkt der Lebensarbeitszeit-Debatte.
Debatte über Lebensarbeitszeit: Deutsche sollen für die Rente länger arbeiten
„Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen“, sagte die CDU-Politikerin der FAZ. „Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“, sagte Reiche. Leider verweigerten sich zu viele zu lange der demografischen Realität. „Wir müssen mehr und länger arbeiten“, sagte Reiche. Es gebe viele Beschäftigte in körperlich anstrengenden Berufen. Es gebe aber auch viele, die länger arbeiten wollten und könnten.
In einer Untersuchung, die dem Spiegel vorliegt, bringt nun das Pestel-Forschungsinstitut Ansätze, wie das Rentensystem gerechter werden könnte. Der radikale Vorschlag lautet: Beamte sollen künftig fünfeinhalb Jahre länger arbeiten als Arbeiter, weil sie im Schnitt so viel länger leben. Geringverdiener sollen bei den Rentenbezügen zudem deutlich besser gestellt werden.
Radikaler Renten-Vorschlag: Beamte sollen fünfeinhalb Jahre länger arbeiten
„Wer weniger verdient, lebt statistisch auch kürzer. Überdurchschnittlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeiter erreichen die Rente nicht einmal, weil sie früher sterben“, sagt Matthias Günther, Leiter des Pestel-Instituts. Die, die mehr verdienten, würden statistisch gesehen auch älter. „Sie bekommen also eine höhere Rente oder Pension – und das auch noch wesentlich länger. Menschen mit geringen Einkommen dagegen müssen mit einer deutlich niedrigeren Rente klarkommen, von der sie außerdem deutlich kürzer überhaupt etwas haben“, so Günther.
Matthias Günther, Leiter des Pestel-Instituts: „Überdurchschnittlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeiter erreichen die Rente nicht einmal, weil sie früher sterben.“
Beamte leben nach Renteneintritt deutlich länger
Wie aus einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hervorgeht, haben männliche Beamte im Schnitt ab dem 65. Lebensjahr eine Lebenserwartung von weiteren 21,5 Jahren. Bei männlichen Arbeitern sind es nur 15,9 Jahre. Angestellte haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 19,4 Jahren, bei Selbstständigen sieht es ähnlich aus.
Spitzenverdiener haben eine höhere Lebenserwartung als Geringverdiener
Ein hoher Abstand zeigt sich auch bei der Höhe der Einkommen: Männliche Spitzenverdiener haben eine um 6,3 Jahre höhere Lebenserwartung als Geringverdiener. Ökonomen führen das unter anderem darauf zurück, dass wohlhabendere Menschen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung haben und seltener schwere körperliche Arbeiten verrichten. Diese Aspekte würden in der bisherigen Rentendiskussion kaum oder gar nicht berücksichtigt, so die Kritik Günthers.
Das derzeitige System führe zu großer Ungerechtigkeit. Man könnte das Problem aber auch lösen, ohne dass Beamte länger arbeiten müssten. Eine „soziale Staffelung“ könnte Günther zufolge ausreichen: Die Renten von Geringverdienern müssen angehoben werden. Umgekehrt wäre bei Besserverdienern eine „soziale Dämpfung“ der Rentenhöhe vertretbar.
Beamtenbund weist Vorschlag scharf zurück
Der Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes (DBB), Volker Geyer, wies den Vorschlag, Beamte länger arbeiten zu lassen, scharf zurück. „Es ist schon verwunderlich, mit welchen absurden Ideen die Debatte um die sozialen Sicherungssysteme inzwischen geführt wird“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Kein Mensch habe eine durchschnittliche Lebenserwartung. „Beamte, Arbeitnehmende, Selbstständige, Männer, Frauen, Akademiker, Hauptschüler, Übergewichtige, Sportler – bei jeder Gruppe käme eine andere Lebenserwartung raus. Wollen wir wirklich auf diesem Niveau diskutieren?“, fragte Geyer weiter.
Debatte um Pension: Linnemann will Verbeamtungsstopp
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wiederum regte im Juli an, die Zahl der Beamten deutlich zu senken. „Ich möchte nur eins: Dass wir nur noch dort verbeamten, wo es wirklich hoheitliche Aufgaben gibt – etwa bei Polizei, Justiz, Zoll oder Finanzverwaltung. In Ministerien und allgemeinen Verwaltungsbereichen hingegen solle auf Verbeamtung verzichtet werden“, erklärte er.
Dabei hat Linnemann sich deutlich für eine Begrenzung der Verbeamtung ausgesprochen und diese Forderung mit der geplanten Rentenreform verknüpft. Ein neues Rentensystem sei für ihn nur mit gleichzeitiger Reform der Beamtenversorgung denkbar: „Die Gesellschaft wird es auf Dauer nicht aushalten“, sagte Linnemann bei einer Veranstaltung zum „Tag des Handwerks“ in Paderborn.
Fakt ist: Auch von der „Rente mit 63“ profitieren Geringbelastete
Die sogenannte Rente mit 63 soll es Arbeitnehmern ermöglichen, nach 45 Beitragsjahren ohne Abzüge in den Ruhestand zu gehen, auch wenn die eigentliche Altersgrenze noch nicht erreicht ist. Sie wurde ursprünglich geschaffen, um vor allem Menschen mit körperlich schwerer Arbeit zu ermöglichen, früher aus ihrem Beruf auszusteigen. Das sind stark belastete Beschäftigte wie Kellnerinnen, Krankenschwestern, Pfleger oder Bauarbeiter. Doch eine ganz andere Gruppe macht von der Regelung Gebrauch: Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) legt dazu offen: Fast 70 Prozent sind westdeutsche Männer des Jahrgangs 1957 - mit mindestens 45 Versicherungsjahren, ohne hohe körperliche oder psychische Belastung im Job.
Die Studienautoren machen dazu den Vorschlag: Die Rentenversicherung sollte daher die gesundheitliche Leistungsfähigkeit im Beruf versichern und nicht die Tätigkeitsdauer als solche.
Fazit: Lebenserwartung unterscheidet sich nach Jobstatus
Fakt ist, das derzeitige System führt zu einem großen Ungleichgewicht und einer sozialen Schieflage. Die „klammen“ Renten- und Versorgungssysteme werden auf Dauer so nicht mehr finanzierbar sein. Und die finanziellen Belastungen durch Beamtenpensionen wachsen. Laut Bundesfinanzministerium belaufen sich die langfristigen Verpflichtungen für Pensionen und Beihilfen inzwischen auf über 900 Milliarden Euro. Der öffentliche Dienst umfasst aktuell rund 5,4 Millionen Beschäftigte – Tendenz steigend. Und ein Rückbau der Verwaltung und damit der Bürokratie ist unter Schwarz-Rot nicht zu erwarten. Denn Deutschland verliert seine Wirtschaft und somit jedes Jahr mehr als 100.000 Arbeitsplätze. Damit ist der öffentliche Dienst der letzte sichere Arbeitgeber hierzulande. Welcher Politiker streicht in solchen Zeiten öffentliche Stellen zusammen?
Das Pestel-Institut ist nach eigenen Angaben ein unabhängiger, gemeinnütziger Forschungs- und Beratungsdienstleister mit Sitz in Hannover. Es wurde 1975 von dem Systemforscher Eduard Pestel gegründet und forscht unter anderem zu Versorgungssicherheit und Krisenvorsorge, demografischem Wandel und altersgerechtem Wohnen.


