Der Tag, an dem Trump die Verbindung kappte
7. Februar 2025, Den Haag, Hauptquartier des Internationalen Strafgerichtshofs am Oude Waalsdorperweg 10. Karim Ahmad Khan, Chefankläger des Haager Tribunals, öffnet wie jeden Morgen sein Outlook-Programm, um seine neusten E-Mails zu lesen. Doch das Postfach des 55-Jährigen ist leer. Was der Jurist zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Das Office of Foreign Assets Control (OFAC) des US-Finanzministeriums hatte ihn auf die Sanktionsliste der „Specially Designated Nationals“ gesetzt und sein Outlook-Konto blockieren lassen.
Vorausgegangen war eine Anweisung aus Washington: Am 6. Februar 2025 unterzeichnete US-Präsident Trump einen Exekutivbefehl, mit dem er Khan persönlich mit Sanktionen belegte. Grund dafür waren die vom Strafgerichtshof eingeleiteten Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen der israelischen Armee im Gazastreifen. Einen Tag später, am 7. Februar, setzte das US-Finanzministerium den Juristen auf die Sanktionsliste. Microsoft deaktivierte daraufhin nicht nur Khans Postfach, sondern kappte auch den Zugang zu sämtlichen internen E-Mail- und Cloud-Diensten des Gerichts, die bis dahin von Microsoft bereitgestellt wurden. Der Vorfall zeigt exemplarisch, wovor Experten seit Jahren warnen: Europa hängt in zentralen digitalen Funktionen an der Nabelschnur der USA. „Stellen Sie sich vor, ein amerikanischer Präsident könnte den Schalter umlegen und Europas Internet ausschalten“, beschreibt ein BBC-Reporter die Situation rückblickend im August 2025. Kritische Daten wären dann nicht mehr verfügbar und Websites nicht mehr erreichbar.
Digitale Souveränität zwischen Anspruch und Realität
Die Frage, wie Europa seine digitale Abhängigkeit von den USA verringern und die eigene Handlungsfähigkeit sichern kann, bündelt sich im Leitbegriff der digitalen Souveränität. Gemeint ist damit die Fähigkeit von Staaten und Institutionen, selbstbestimmt über digitale Infrastrukturen, Daten und Technologien zu verfügen. Bereits 1994 machte Huawei-Gründer Ren Zhengfei dem damaligen chinesischen Präsidenten Jiang Zemin deutlich: „Ein Land ohne eigene programmgesteuerte Schalter ist wie eines ohne Armee.“ Seitdem steht diese Aussage wie ein Menetekel über Europas und damit auch Deutschlands Digitalpolitik.
Dennoch setzte die Debatte darüber in Brüssel erst 20 Jahre später ein, ausgelöst durch Edward Snowdens Enthüllungen über die globale Überwachung des US-Geheimdienstverbunds „Five Eyes“ im Jahr 2013. Dieser ließ europäische Regierungen und Behörden erstmals daran zweifeln, ob die Daten europäischer Bürger und Institutionen tatsächlich geschützt sind. Spätestens mit Beginn von Donald Trumps erster Amtszeit im Januar 2016 rückte das Thema ins Zentrum der europäischen Digital- und Sicherheitspolitik. Die protektionistische US-Politik und der extraterritoriale CLOUD Act, der amerikanischen Behörden weltweiten Zugriff auf sämtliche Daten von US-Cloudanbietern ermöglicht, schärften in Brüssel das Bewusstsein für die eigene Abhängigkeit vom „großen Bruder” jenseits des Atlantiks.
Europas (späte) politische Antwort und ihre Grenzen
Es sollten jedoch noch weitere fünf Jahre vergehen, bis die EU-Kommission die digitale Souveränität Europas in einer zentralen Strategie verankern würde. Im Jahr 2021 sprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von Europas „Recht auf Selbstbestimmung im digitalen Raum“ und ließ das Ziel, den europäischen Anteil an der weltweiten Halbleiterproduktion bis 2030 auf 20 Prozent zu erhöhen und ein eigenes Ökosystem für Künstliche Intelligenz (KI) aufzubauen, im „Digital Compass 2030“ festschreiben.
Doch seitdem klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Laut dem „Eurostack Policy Brief“ der Stiftung Neue Verantwortung, einem Thinktank für Technologie- und Sicherheitspolitik mit Sitz in Berlin, sind nach wie vor über 80 Prozent der digitalen Technologien in Europa importiert. Mehr als vier Fünftel der Infrastruktur, der Halbleiter und der KI-Modelle stammen aus den USA und China. Lediglich vier der 50 weltweit führenden Technologieunternehmen haben ihren Sitz in Europa: SAP, ASML, Arm Holdings sowie Dassault Systèmes. Gleichzeitig warnen Experten davor, digitale Souveränität mit Abschottung zu verwechseln. So unterstreicht ein Diskussionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus dem Jahr 2025: „Autonomy is not autarky”. Stattdessen solle Europa eigene digitale Fähigkeiten aufbauen, ohne bestehende internationale Partnerschaften zu kappen.
Warum unsere Daten in US-Wolken festhängen
Besonders sichtbar wird die fehlende Unabhängigkeit im Bereich der Cloud-Infrastruktur. Laut BBC dominieren die drei US-Konzerne Amazon, Microsoft und Google mit rund 70 Prozent den europäischen Markt. Europäische Anbieter wie OVHCloud aus Frankreich oder T-Systems aus Deutschland sind lediglich in Nischen aktiv. Der Grund für diese Dominanz liegt nicht allein in technologischer Stärke, sondern auch in geopolitischer Präferenz. Zwar kritisieren viele europäische Politiker und Experten den Zugriff amerikanischer Behörden über den CLOUD Act als eine Form digitaler Extraterritorialität, die an „Big Brother“-Logiken erinnert. Dennoch gilt Washington weiterhin als strategischer Partner, den die Skepsis gegenüber China wiegt schwerer.
Zwar hat Peking mit Anbietern wie Alibaba Cloud und Huawei leistungsfähige Alternativen im Markt, doch Sicherheitsbedenken und die Nähe chinesischer Tech-Konzerne zur Regierung schließen eine breite Nutzung in Europa de facto aus. „Wir können nicht von Abhängigkeit zu Abhängigkeit springen“, erklärte der damalige Binnenmarktkommissar Thierry Breton im Jahr 2022, „deshalb müssen wir eigene Kapazitäten in Europa aufbauen.“ Bis es so weit ist, bleibt der Kontinent faktisch in den US-Wolken gefangen.
Entsprechend hoch ist der politische Druck. Projekte wie Gaia-X, eine von Deutschland und Frankreich initiierte europäische Cloud-Allianz, sollten ein Gegengewicht schaffen. Ziel war ein offenes Daten-Ökosystem, getragen von europäischen Werten und Standards, wie es bei der Vorstellung im Jahr 2020 hieß. In der Praxis jedoch wurde Gaia-X durch interne Blockaden und den Einfluss amerikanischer Konzerne gebremst. Nach Einschätzung des britischen Analyseportals Raconteur hat US-Big Tech das Projekt mit Bürokratie geflutet, um Fortschritte zu verhindern.
Aktueller Hoffnungsträger ist die sogenannte Sovereign Cloud. Laut einer Studie von T-Systems und der Fachzeitschrift Computerwoche aus dem Jahr 2024 nutzen zwar erst 26 Prozent der Unternehmen souveräne Cloud-Lösungen, doch 36 Prozent sind in der konkreten Planung. Hauptmotive seien demnach Datenschutz, Unabhängigkeit von Hyperscalern und Resilienz von Geschäftsprozessen. Zudem seien 88 Prozent der Nutzer damit zufrieden.
Doch die großen Anbieter aus den USA haben reagiert. Microsoft, Google und Amazon bieten inzwischen eigene „Sovereign Clouds“ an, die europäische Kunden beruhigen sollen. Das Problem: Solange der CLOUD Act gilt, bleibt der Zugriff amerikanischer Behörden möglich. Das Versprechen der Souveränität ist also nur eingeschränkt glaubwürdig.
„Europas Unternehmen spielen bei KI-Chips keine Rolle“
Auch bei Halbleitern zeigt sich die Abhängigkeit. Die Europäische Union hat die strategische Bedeutung der Mikroprozessoren zwar erkannt und mit dem Europäischen Chip-Gesetz (EU Chips Act) im Jahr 2022 angekündigt, bis zu 43 Milliarden Euro zu mobilisieren, um die eigene Fertigung zu stärken. Doch die Realität ist ernüchternd: Der EU-Anteil an der weltweiten Chipproduktion liegt bei weniger als zehn Prozent, während Asien rund 75 Prozent und die USA etwa 15 Prozent auf sich vereinen.
Ganz ohne Bedeutung ist Europa jedoch nicht. Hervor sticht das niederländische Unternehmen ASML. Der Konzern produziert die weltweit führenden Lithografie-Maschinen, die für die Herstellung modernster Mikrochips unverzichtbar sind. Ohne ASML ist keine High-End-Produktion möglich, was Europa eine gewisse Hebelwirkung verschafft.
Doch bei Spezialchips für KI und im Bereich des sogenannten High Performance Computing, kurz HPC, hinkt die EU deutlich hinterher. Während die USA allein im Jahr 2023 rund 22,4 Milliarden Dollar in generative KI investierten, brachte es Europa lediglich auf 2,4 Milliarden. Die Folge ist ein strukturelles Problem: Talente und Start-ups wandern ab. Allein zwischen 2008 und 2021 zog es rund 30 Prozent der europäischen Unicorns, also Start-ups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar, ins Ausland, vor allem in die USA. Zugleich setzen die USA mit dem CHIPS and Science Act auf eine massive Stärkung der eigenen Fertigung. Milliarden fließen in die Förderung von Konzernen wie Intel, Nvidia und dem taiwanischen Hersteller TSMC, die derzeit neue Werke in den US-Bundesstaaten Arizona und Ohio aufbauen. Ziel ist nicht nur die Sicherung der eigenen Wirtschaftskraft, sondern auch die Festigung geopolitischer Dominanz.
Parallel scheitern europäische Chip-Projekte. Das Intel-Werk in Magdeburg ist Geschichte. Realisiert wird lediglich eine neue TSMC-Chipfabrik in Dresden, die über das Joint Venture European Semiconductor Manufacturing Company (ESMC) entsteht. Gemeinsam mit Bosch, Infineon und NXP beteiligt sich TSMC mit 70 Prozent an dem Vorhaben, die übrigen Partner übernehmen je zehn Prozent. Die Bundesregierung sicherte rund fünf Milliarden Euro Förderung zu, die Gesamtinvestition beläuft sich auf rund zehn Milliarden Euro. Die Produktion soll Ende 2027 starten.
KI-Regulierung trifft Kapitalmangel
Auch im Boomsegment KI zeigt sich der europäische Rückstand. Zwar setzte die Europäische Union früh auf Regulierung und legte 2021 mit dem AI Act ein umfassendes Regelwerk vor, das Anwendungen in Risikoklassen einteilt und bestimmte Praktiken wie Social Scoring verbietet. „Digitale Souveränität bedeutet Vertrauen und Sicherheit für unsere Bürger“, erklärte die Europaabgeordnete Nicola Beer damals.
Doch während Europa reguliert, investieren andere massiv. Nach Angaben der Eurostack-Initiative klafft bei generativer KI, also Systemen, die selbstständig Texte, Bilder oder Programme erzeugen, eine Investitionslücke von rund 20 Milliarden Dollar pro Jahr. Die USA dominieren den Markt mit Akteuren wie OpenAI, Anthropic und Google DeepMind und auch China holt auf mit der KI-App DeepSeek. Europa verfügt zwar über wissenschaftliche Exzellenz, doch es fehlt an konsequenter Kommerzialisierung.
Ein Beispiel ist das Heidelberger Start-up Aleph Alpha, das eines der wenigen souveränen KI-Sprachmodelle in Europa entwickelt. Um 2023 überhaupt weiterarbeiten zu können, musste das Unternehmen jedoch auf US-Risikokapital zurückgreifen. Ohne eigenständige Finanzierungsquellen werde es für europäische Anbieter schwer bleiben, konkurrenzfähig zu sein, warnt ein Whitepaper von embraceableAI aus dem Jahr 2025. Dort wird betont, dass digitale Souveränität nicht nur Forschung, sondern auch eine tragfähige europäische Kapitalstruktur und eine unabhängige Software-Supply-Chain erfordert.
Sicherheit als Stärke vs. Datenräume als Schwäche
Im Bereich Cybersicherheit verfügt Europa durchaus über eigene Kompetenzen. Unternehmen wie Airbus Cybersecurity oder Thales sind international gefragt, und die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gilt weltweit als Vorbild. Doch es fehlt an einer gemeinsamen Beschaffungs- und Innovationslogik. „Europas digitales Ökosystem leidet unter Fragmentierung und schwacher Investitionskoordination“, kritisiert die Eurostack-Initiative 2025. Während die USA auf einen integrierten Markt setzen, zersplittern die europäischen Ansätze entlang nationaler Linien.
Die EU versucht gegenzusteuern. Mit der Cyber Resilience Regulation sollen Mindeststandards gesetzt, mit dem European Digital Identity Wallet (EUDI-Wallet) ein einheitlicher Identitätsstandard geschaffen werden. Die geopolitische Dimension bleibt jedoch bestehen: Der Zugriff von US-Behörden auf Daten in Europa ist rechtlich möglich. Und während Europa offene Datenräume schaffen will, nutzen US-Konzerne extraterritoriale Gesetze wie den CLOUD Act, um globale Kontrolle zu sichern.
Brüssel gefangen zwischen Washington und Peking
Der zweite Wahlsieg Donald Trumps hat die Spannungen zusätzlich verschärft. Nach einer Analyse der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahr 2025 nutzen Elon Musk, Mark Zuckerberg und andere Tech-Milliardäre ihre Nähe zur US-Regierung, um Druck auf die EU-Regulierung auszuüben. Sie hoffen, dass massiver politischer Druck aus Washington die strikte Umsetzung europäischer Regeln verhindert.
Gleichzeitig kontrolliert China rund 90 Prozent der Raffinerien für Seltene Erden – ein erhebliches Risiko für Europas Halbleiter- und Energiewendepläne, wie die Eurostack-Initiative 2025 betont. Das Dilemma ist offensichtlich: Europa braucht die transatlantische Partnerschaft sicherheitspolitisch, ob in der NATO, bei der Cyberabwehr oder bei gemeinsamen Standards. Doch je stärker Washington digitale Technologien als geopolitische Waffe nutzt, desto dringlicher wird für Europa der Aufbau eigener Strukturen.
Europas Plan für digitale Unabhängigkeit
In Brüssel ist das Problem längst erkannt. Mit dem Digital Europe Programme stellt die Europäische Union bis 2027 mehr als 8 Milliarden Euro bereit, um Kapazitäten in Hochleistungsrechnen, Künstlicher Intelligenz, Cybersicherheit und Cloud-Infrastruktur auszubauen. Parallel treibt der EU Chips Act Investitionen von 43 Milliarden Euro an, um die Halbleiterproduktion auf 20 Prozent des Weltmarkts zu steigern. Für die nächste Etappe hat die Kommission im Frühjahr 2025 zusätzliche 1,3 Milliarden Euro für kritische Zukunftstechnologien wie KI und Sicherheit veranschlagt.
Zwar plant Brüssel Investitionen in mehrere europäische AI-Gigafactories, um eine eigene Recheninfrastruktur für generative Modelle zu schaffen, doch der Druck wächst: Mehr als 90 Unternehmen, darunter Airbus und Dassault Systèmes, fordern inzwischen einen „Sovereign Infrastructure Fund“ und „Buy-European“-Vorgaben bei öffentlichen Aufträgen. Immerhin: Mit Initiativen wie EuroHPC für Supercomputing und der Eurostack-Idee für eine gesamteuropäische Cloud- und Softwarearchitektur zeigt sich, dass Brüssel auf dem Weg zur digitalen Unabhängigkeit regulatorische Ambitionen mit massiven Investitionen verbinden will.
Digitale Abhängigkeit ist längst eine Machtfrage
Der eingangs geschilderte Vorfall in Den Haag zeigt: Wenn selbst ein internationales Gericht ins Straucheln gerät, weil ein US-Konzern Dienste abschaltet, wird deutlich, dass digitale Abhängigkeit gleichbedeutend mit Machtverlust ist. Europa hat Stärken in der Forschung, bei Schlüsselunternehmen wie ASML, im Datenschutz und in Initiativen wie Sovereign Clouds. Gleichzeitig sind die Defizite in Cloud, Chips und KI gravierend. Schon 2020 warnte Benjamin Revcolevschi, Chef des europäischen Cloud-Anbieters OVHcloud, in der Financial Times: „Über digitale Souveränität sprechen wir in Europa seit 20 Jahren, aber seit der Wahl von Donald Trump 2016 hat sich der Ton der politischen Gespräche verändert. Das ist eine völlig andere Welt.“
„Es bedarf eines Paradigmenwechsels, um diese Trends umzukehren und die digitale Führungsrolle Europas zurückzuerobern“, fordert die Eurostack-Initiative. Das Gelingen dieses Kraftaktes ist nicht nur für die Wettbewerbsfähigkeit Europas entscheidend, sondern auch für seine politische Eigenständigkeit.



