Der falsche Wachstums-Dilemma-Mythos
Noch vor kurzem galt die Ansicht, dass sich Wirtschaftswachstum von Emissionen entkoppeln lasse, vielen als wenig realistisch und in radikalen Kreisen als surreal. Heute wissen wir, dass es möglich ist. Man könnte sogar die These wagen, dass Wohlstand und Entwicklung Länder ökologischer machen. Denn Entwicklung bedeutet mehr Innovationen, die Emissionen reduzieren. Zu Beginn dieses Jahrhunderts herrschte im Mainstream, besonders unter Anhängern der De-Growth-Idee, die Überzeugung, dass die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen unmöglich sei. Die Menschheit stand also vor einem harten Kompromiss – entweder wir reduzieren Emissionen, was mit Stagnation oder Rezession einhergeht, oder wir ignorieren Umweltverschmutzung und setzen die Jagd nach Wachstum fort. Dieses Dilemma erwies sich jedoch als falsch, es fand keine Bestätigung in den Daten. Die entwickelten Länder erarbeiteten Mechanismen, die seit Jahrzehnten ein großes Auseinanderlaufen ermöglichen – die Wirtschaft wächst, während die Emissionen sinken.
Polen als Beispiel für Entkopplung
Nehmen wir die polnische Wirtschaft. Die energieintensivsten und emissionsstärksten Branchen (Industrie und Transport) haben bei uns einen vergleichsweise großen Anteil an der Wertschöpfung, zudem waren wir über Jahrzehnte stärker als andere EU-Staaten von Kohle abhängig. Dennoch gelang es, Wirtschaftswachstum mit sinkenden Emissionen zu verbinden. Seit Beginn der Systemtransformation ist das reale BIP um 228 Prozent gestiegen, während die Treibhausgasemissionen um 29,1 Prozent sanken. Es ist vielleicht keine spektakuläre Veränderung, doch dieser Trend sollte sich in Polen beschleunigen (wie Studien zeigen, die unten beschrieben werden). Wir haben wirtschaftlichen Erfolg erzielt, ohne dafür den Preis einer Umweltzerstörung zu zahlen. Wir haben diese scheinbar widersprüchlichen Ziele vereint.
Internationale Belege für die Kuznets-Kurve
Erweitern wir die Analyse auf entwickelte Länder. Dort zeigt sich derselbe Trend – grünes Wachstum gelang, indem wirtschaftliche Expansion mit sinkenden Emissionen verbunden wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten stieg das US-BIP um fast 60 Prozent, während die Treibhausgasemissionen um 16,3 Prozent sanken. In Frankreich wuchs die Wirtschaft um 29,4 Prozent, die Emissionen fielen um 29,2 Prozent. In Tschechien stieg das BIP um 66,2 Prozent, die Emissionen gingen um 27,8 Prozent zurück. Dasselbe Muster existiert in Deutschland, Italien, Japan, der Slowakei, Spanien. Kein Wunder also, dass eine internationale Panelstudie von Bettarelli und Mitautoren (2025) belegt, dass es eine umweltbezogene Kuznets-Kurve gibt. Diese Idee von Simon Kuznets besagt, dass CO2-Emissionen mit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes zunächst steigen, aber nur bis zu einem Punkt, nach dem die Entkopplung einsetzt: jeder weitere Einkommenszuwachs pro Kopf geht dann mit sinkenden Emissionen einher. Im Schnitt liegt dieser Wendepunkt bei rund 25.000 US-Dollar Einkommen pro Kopf.
In entwickelten Ländern (Australien, Kanada, Frankreich, USA) lag der Wendepunkt bei etwa 35–50.000 US-Dollar, während er in Schwellenländern (Indien, Naher Osten und Nordafrika, Südafrika) zwischen 5–18.000 US-Dollar lag. Das erklärt, warum Länder unserer Region, obwohl sie erst kürzlich die Marke von 25.000 US-Dollar pro Kopf überschritten haben, bereits seit zwei Jahrzehnten Emissionen senken. Zudem lässt sich nach der Logik der Kuznets-Kurve erwarten, dass sich dieser Prozess in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas beschleunigt: je höher das Entwicklungsniveau, desto schneller der Rückgang der Emissionen.
Die Autoren fassen die Ergebnisse so zusammen: „Das legt nahe, dass wirtschaftliche Entwicklung tatsächlich der Weg zur Verbesserung der Umwelt ist.“ Damit stößt die De-Growth-Idee an ihre Grenzen und verliert angesichts der Daten ihre Gültigkeit. Ein wichtiger Zusatz sei jedoch erwähnt. Ein Teil des Emissionsrückgangs in entwickelten Ländern resultiert auch aus der globalen Produktionsverlagerung – die energieintensivsten Industriezweige wurden in einkommensschwache Länder verlagert, während die entwickelten Volkswirtschaften in Richtung Dienstleistungen transformierten, die naturgemäß weniger emittieren. Dieser Prozess, „carbon leakage“ genannt, bedeutet, dass ein Teil der Entkopplung in reichen Ländern nur scheinbar war – Emissionen wurden nicht reduziert, sondern exportiert. Dennoch kontrollieren die Autoren der Studie die Wirtschaftsstruktur und Handelsöffnung und zeigen, dass die umweltbezogene Kuznets-Kurve statistisch signifikant bleibt. Der Emissionsrückgang resultiert also nicht allein aus der Verlagerung besonders emissionsstarker Branchen ins Ausland.
Wachstum als Treiber der Dekarbonisierung
Warum aber lässt sich Wirtschaftswachstum mit Emissionssenkung vereinbaren? Daniel Susskind hat dies in seinem Buch „Growth: A Reckoning“ präzise erklärt. Er verweist auf das Zusammenspiel von bottom-up- und top-down-Maßnahmen, die Ideen hervorbringen und schnelle technologische Veränderungen ermöglichen, die zur Dekarbonisierung führen. Ein gutes Beispiel sind Innovationen in der Solarenergie, die Effizienz steigern und Kosten senken. Vor zwei Jahrzehnten war Solarenergie zwanzigmal teurer als Energie aus fossilen Brennstoffen, heute ist Solarstrom günstiger als konventionelle Energiequellen.
Die Frage ist nun – lässt sich der Ausstoß vollständig auf null senken und gleichzeitig das BIP-Wachstum fortsetzen? Susskind meint: ja. In der Rezension des Buches von Ignacy Morawski heißt es: „Heute argumentieren Kritiker des Wirtschaftswachstums, dass sich Emissionen nicht auf null reduzieren lassen, ohne auf Wachstum zu verzichten. Dieses Argument wartet auf die Überprüfung, doch nach Susskind zeigt der technologische Trend, dass auch es fallen muss. Der Fortschritt des Wissens und das unbegrenzte Angebot neuer Ideen machen etwas, das unmöglich erscheint, nach einiger Zeit zur Realität.“ Wenn Wirtschaftswachstum vor allem neue Ideen und Technologien bedeutet – wie Susskind zeigt –, darunter jene, die Dekarbonisierung ermöglichen, dann braucht die Welt nicht weniger, sondern mehr Wachstum. Nicht De-Growth, sondern Pro-Growth.



