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Europa: „Putsch einer kleinen Elite gegen den demokratischen Staat“

Lesezeit: 6 min
24.05.2014 00:46
Jürgen Roth, einer der bekanntesten investigativen Autoren Deutschlands, deckt in seinem neuen Buch auf, wie ein kleines Netzwerk der politischen und wirtschaftlichen Elite den sozialen und demokratischen Staat abschaffen will. Roth ist der Auffassung, dass Europa wegen der Machenschaften dieser Clique zerbrechen wird. Er sagt, dass sich die Apathie Deutschlands eines Tages bitter rächen werde.

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie sich eine Elite Europa und Deutschland unter den Nagel reißt. Wer ist diese Elite?

Jürgen Roth: Es gibt in Europa eine politische und wirtschaftliche Dynastie, die sich als Elite versteht. Ihr gehören die Spitzen der deutschen bzw. europäischen Wirtschaft an: Repräsentanten der Finanzindustrie und Medien, Vorstandsvorsitzende und Verwaltungsräte börsennotierter nationaler wie internationaler Konzerne, Repräsentanten von internationalen Beratungsfirmen. Auf der anderen Seite konservative wie sozialdemokratische Politikerdynastien, die mehr oder weniger direkt von dieser wirtschaftlichen Dynastie abhängig sind oder von ihr profitieren. Und die nenne ich ja nicht nur beim Namen, sondern beschreibe ihr konkretes Verhalten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie beschreiben verschiedene Netzwerke, die dazu dienen, die Interessen von Politik und Wirtschaft zu verzahnen. Welche Netzwerke sind besonders einflussreich?

Jürgen Roth: Politisch weitaus einflussreicher als die institutionalisierten Interessenverbände sind die informellen Zusammenschlüsse in den sogenannten Runden Tischen. Es sind jene Netzwerke über die in Deutschland die Medien merkwürdigerweise seit langem schweigen. Weil sie es nicht besser wissen oder nicht wissen wollen? Ich weiß es nicht. Sucht man in der deutschen Presse zum Beispiel nach dem Entrepreneur Round Table mit Sitz in Zürich und Berlin, gibt es über ihn keine einzige Veröffentlichung. Voraussetzung der Mitgliedschaft dort ist, dass die teilnehmenden Unternehmer oder Banker einen jährlichen Gesamtumsatz von mindestens fünfhundert Millionen Euro vorweisen können.

Ihr Kodex: absolute Verschwiegenheit darüber wer dazugehört und was sich bei den Treffen abspielt. Da findet sich der ehemalige Bundesbankchef Welteke, die Repräsentanten von Lufthansa, Mercedes, Morgen Stanley, der Chef von Mc-Kinsey, Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank, Martin Blessing von der Commerzbank oder der Chef der Deutschen Börse AG, sowie der Konzerne Metro und Tengelmann. Der Vorstandsvorsitzende von Thyssen Krupp ist dabei wie Vorstandsmitglieder von BASF oder Böhringer-Ingelheim. Aber auch die jung-dynamischen Vorstandsvorsitzenden von SAT-1 Pro Sieben und vom Springer-Imperium. Edler und verschwiegener geht es nicht. Ähnlich exklusiv, aber weniger geheim, sind die sogenannten Baden-Badener Unternehmer Gespräche. Über 4.000 Top-Manager sind hier vernetzt. Sie verstehen sich als ordnungspolitisches Gewissen der deutschen Wirtschaft. Es ist eine neoliberale Kaderschmiede.

Dann gibt es in Brüssel zum Beispiel den European Round Table of Industrialists (ERT) oder den European Financial Services Round Table (EFR). Mitglieder des EFR sind die Vorstandsvorsitzenden der mächtigsten europäischen Banken und Versicherungskonzerne. Über alle wird tunlichst geschwiegen. Ich zeige auf, welchen Einfluss sie ausüben. Und zwar einen enormen Einfluss auf die europäische Kommission. Gerne bezeichnet man diese Round Tables als Lobbyisten. Das ist eine bewusste Verharmlosung. Denn sie haben direkten Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern in ihren Heimatländern.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie widmen ein ganzes Kapitel den Bilderbergern. Welchen Einfluss üben die Bilderberger wirklich aus?

Jürgen Roth: Im Vergleich zu den von mir beschriebenen „Round Tables“ einen eher geringen Einfluss. Was bei den Bilderbergern auffällt ist weniger die Geheimnistuerei oder die strenge Abschottung in Luxusenklaven, sondern wer die Initiatoren sind. Es sind US-Banken und US-Konzerne, sowie die Deutsche Bank. Im Kern ist es eine Art neoliberaler Denkfabrik, deren Mitglieder teilweise eine ziemlich undurchsichtige Biografie haben. Und sie versuchen, mit mehr oder weniger großem Erfolg, ihnen wohlgesonnene PolitikerInnen für ihre Ziele zu gewinnen. Die wiederum fühlen sich gebauchpinselt wenn sie eingeladen werden. Und besonders aufschlussreich ist ja, dass nur Repräsentanten des Neo-Liberalismus dort eingeladen werden. Kapitalismuskritiker werden sie dort nicht finden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wo ist die Grenze zwischen realer Macht und Verschwörungstheorie? Sie kritisieren das Netzwerk der „Runden Tische“. Was verbirgt sich dahinter?

Jürgen Roth: Es gibt keine Verschwörungstheorie, sondern nur die Verschwörung einer kleinen, exklusiven, europäischen, ökonomischen und politischen Elite gegen den sozialen und demokratischen Staat. Ihr Ziel ist eindeutig eine ideologische Revolution, die flächendeckende Durchsetzung der freien, der ungebändigten Marktwirtschaft. Ulisses Garrido, der ehemalige portugiesische Gewerkschaftsführer und heutige Direktor der Abteilung Bildung im Europäischen Gewerkschaftsbund, ist weit entfernt von jeder Verschwörungstheorie. Er hat es mir so erklärt: „Was erreicht werden soll, ist eine komplette Veränderung der Gesellschaft, ohne dass die Bevölkerung darüber mitentscheiden kann. Es ist zweifellos ein stiller Putsch.“

Und Francisco Louca, Professor am wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Technischen Universität Lissabon, gleichfalls kein Verschwörungstheoretiker, sagte mir: „Der stille Putsch ist ein Modell für die allgemeine Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, für die Zerstörung des demokratischen Sozialstaat“. Genau dafür sind die Teilnehmer an den von mir beschriebenen Runden Tischen verantwortlich. Sie sind die ideologischen wie ganz handfesten Initiatoren dieser derzeit stattfindenden ideologischen Revolution, die ich als stillen Putsch beschreibe.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wer ist in diesen Netzwerken mächtiger - die Politiker oder die Finanzindustrie?

Jürgen Roth: Eindeutig die Finanzindustrie. Die Politiker in vielen europäischen Ländern sind von ihnen quasi eingekauft. Sie führen das aus was ihnen vorgesprochen wird, weil sie nach Amtsaufgabe dort einen profitablen Arbeitsplatz finden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Informelle Treffen von gehobenen Berufen gab es immer schon. Worin besteht die neue Qualität der Netzwerke?

Jürgen Roth: Es geht nicht um irgendwelche Treffen, nicht um Netzwerke, die es ja auch bei Journalisten gibt oder bei den Gewerkschaften. Nein, hier sprechen sich die führenden Repräsentanten der Finanzindustrie, der Medien, der großen Konzerne, auf nationaler wie europäischer Ebene darüber ab, wie in ihrem Sinne, das heißt der Machtsicherung und Profitmaximierung, die demokratische verfasste europäische Gesellschaftsordnung verändert, wie die bisher erkämpften sozialen Rechte zerschlagen werden können. Und sie sind alle intransparent, es gibt keine Repräsentanten der zivilen Bürgergesellschaft bei ihnen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind diese Netzwerke so stark, dass sie die Demokratie in Europa bedrohen?

Jürgen Roth: Ja, sie haben ja bereits in den südlichen Ländern, wie Griechenland, Portugal oder Spanien den demokratischen Sozialstaat zerschlagen, was hier – wieder einmal – tunlichst verschwiegen wird. Und die korrupten Eliten, die für die wirtschaftliche Situation verantwortlich waren sind heute wieder die Profiteure. Ähnliches werden sie auch in Deutschland, Österreich oder der Schweiz versuchen. Die Prekarisierung unserer Gesellschaft ist ja hier auch schon weit vorangeschritten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Viele hatten gehofft, dass die EU die Kungelei in den Nationalstaaten aufbrechen werde. Das ist nicht der Fall, oder?

Jürgen Roth: Mein Gott, wenn es denn nur Kungelei gewesen wäre. Das wäre doch hinzunehmen. Nein, hier geht es um Korruption auf höchster politischer Ebene. Ich weise am Beispiel Portugal wie Griechenland beispielhaft nach, dass die Hauptverantwortlichen für die sogenannte Schuldenkrise eine korrupte politische Elite war, übrigens gefüttert von Teilen der deutschen Industrie und Politik. Es sind die gleichen Politiker die heute mit der Troika kooperieren. Ihr Anliegen war es, die letzten sozialen Errungenschaften zu zerschlagen. Weil es politisch nicht umzusetzen war übergaben sie diese Aufgabe der Troika. Und die hebelte, ohne jegliche demokratische Legitimation, das soziale Gefüge in den südlichen Ländern aus. Viele sagen ja auch, dass das nur ein Modell für ganz Europa war, sozusagen ein Versuchslaboratorium.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Eine ihrer Thesen ist, dass der Zweck der Unternehmen eine gewaltige Privatisierungswelle ist („Räumungsverkauf“). Wie geht das vor sich?

Jürgen Roth: Der Zweck des stillen Putsches ist auch die Privatisierung aller Staatsunternehmen, beziehungsweise staatlicher oder städtischer Immobilien. Die Deutsche Bank fordert das ja besonders stark. Firmen werden zu einem Spottpreis verhökert, häufig an die Günstlinge des herrschenden politischen Systems. Privatisiert werden lebenswichtige Bereiche wie Erziehung, Gesundheit und Soziales, wie in Portugal oder Griechenland. Was hier praktiziert wird ist die Enteignung von Volksvermögen. Ich möchte gar nicht wissen wie viel kriminell erwirtschaftetes Kapital inzwischen in Griechenland, Spanien oder Portugal investiert wurde – von Italien braucht man da nicht zu reden.

Und ich erinnere mich an die Aussage eines griechischen Privatisierungsexperten der mir sagte: „Was im Moment passiert, ist Erpressung, ist Wucher.“ In Deutschland werden Investoren für Griechenland damit geworben, dass man auf die jetzt niedrigen Arbeitskosten setzen kann und das alles extrem billig zu haben sei. Dabei ist das was hier geschieht ja nur ein Vorgeschmack dessen was kommen wird, wenn das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TiSA), das zurzeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wird, kommen wird. Und über das in Deutschland seltsamerweise kaum diskutiert wird, auch jetzt im Europawahlkampf nicht. Alles soll dem freien Markt überlassen werden, Gemeineigentum soll es nicht mehr geben. Eine Horrorvorstellung. Und wie immer ist alles geheim, findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die lässt sich das, zumindest in Deutschland, auch noch gefallen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wo sehen Sie die EU in fünf Jahren - wenn alles so weiter läuft?

Jürgen Roth: Keine Ahnung. Wenn es keinen radikalen politischen Systemwechsel in Brüssel durch die Europa-Wahlen geben wird, wird Europa aufgrund der sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen zerbrechen. Denn es wächst gerade eine Generation ohne jede Zukunftsperspektive heran.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Können sich die Bürger wehren?

Jürgen Roth: Ja, natürlich. Es gibt ja genügend soziale Initiativen und NGO’s in Deutschland wie Europa, die von ATTAC, Blockupy und zahllosen Gewerkschaften reichen, die versuchen Öffentlichkeit herzustellen, um Widerstand zu mobilisieren. Das Dumme ist nur, dass die deutsche Öffentlichkeit über die Machtzentren nicht aufgeklärt wird und die Bürger hier immer noch dem naiven Glauben verhaftet sind, dass das, was in Griechenland oder Portugal geschehen ist, sie nicht betreffen würde. Diese politische Apathie in Deutschland wird sich mittelfristig bitter rächen.

Jürgen Roth, geboren 1945, ist einer der bekanntesten investigativen Journalisten in Deutschland. Seit 1971 veröffentlicht er brisante TV-Dokumentationen und erfolgreiche Bücher. In seinem neuesten Werk „Der stille Putsch - Wie eine geheime Elite aus Wirtschaft und Politik sich Europa und unser Land unter den Nagel reißt“ analysiert Jürgen Roth die Sparpolitik von Europas Regierungen, die als einziges Mittel zur Überwindung der Krise propagiert wird. In Wirklichkeit geht es aber um etwas ganz anderes: Unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung findet ein stiller Putsch gegen die europäischen Bürger statt. Bestsellerautor Jürgen Roth zeigt, wer die Putschisten sind und was sie bezwecken, was das für Deutschland und Europa bedeutet und wie wir uns dagegen wehren können – und müssen. Das Buch erschien beim Heyne Verlag und kann hier bestellt werden.

 


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