Frankreich erlebt – wieder einmal – eine massive Streikwelle, die das Land phasenweise lähmt und nach den Ankündigungen der Gewerkschaft bis in den Sommer immer wieder unter Druck setzen wird. Man könnte allgemein sagen, es geht gegen die "Reformen" des Präsidenten Emmanuel Macron. Doch die Wurzeln liegen viel tiefer. Sie sind in der Klassengesellschaft des Landes zu suchen, gegen die auch Macron im Grunde machtlos ist. Der Präsident stürzt sich daher in weltpolitische, militärische Abenteuer wie den Einsatz in Syrien – wohl auch, weil er hofft, mit einem Kriegseinsatz die Nation hinter sich zu vereinen.
Doch auch dieses Manöver dürftezu kurz greifen. Die aktuelle Streikwelle richtet sich gegen zwei Reformprojekte, deren Ablehnung besonders bezeichnend ist:
- Die Einführung von Zugangsbeschränkungen zu den Universitäten empört die Jugend.
- Die Öffnung der Eisenbahn für private Anbieter treibt die Mitarbeiter der staatlichen Eisenbahn SNCF auf die Straße.
Das „baccalauréat“ wurde entwertet
Traditionell gilt in Frankreich, dass ein bestandenes Abitur – in Frankreich baccalauréat – gleichbedeutend mit der universitären Reife ist. Tatsächlich war in der Vergangenheit das Unterrichtssystem so aufgebaut, dass das baccalauréat extrem schwer war und daher auch entsprechend gewertet wurde. Durch zahlreiche Reformen des französischen Unterrichtswesens ist das nicht mehr der Fall.
Eine Analyse der Anforderungen hat ergeben, dass das Niveau des aktuellen Abiturs den Bedingungen entspricht, die in den fünfziger und sechziger Jahren für den Abschluss der Unterstufe des Gymnasiums gegolten haben. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Universitäten sich heute nicht mehr mit dem Vorweis eines baccalauréats zufriedengeben. Die Abiturienten sind aber mit der Vorstellung aufgewachsen, dass ein Gymnasium-Abschluss die Eintrittskarte in die Universität bedeutet, und protestieren dementsprechend.
Das Bildungswesen versagt auch im Bereich der Facharbeiter
Zahlreiche Probleme erschweren die Situation:
- Die Senkung der Anforderungen hat die Zahl der Absolventen und den Andrang an den Universitäten steigen lassen.
- Die Änderung der Lehrpläne sollte zu einer Entrümpelung und zur Öffnung für aktuellere Themen führen. In der Praxis wurden aber nur die Vorgaben reduziert. In den PISA-Studien der OECD über das Niveau der 15-Jährigen liegt Frankreich kontinuierlich im Mittelfeld der weltweit verglichenen Länder.
- Somit sind die Jugendlichen nicht nur ungenügend für ein Universitätsstudium, sondern generell für den Arbeitsmarkt schlechter vorbereitet.
- Das Problem ergibt sich nicht allein aus der Situation der Gymnasien. In Frankreich ist die Ausbildung zum Facharbeiter mangelhaft entwickelt, wodurch eine der größten Belastungen der französischen Unternehmen ausgelöst wird: Nach einer Studie von „Consult in“ haben 44 Prozent der Betriebe Schwierigkeiten, bei der Beschaffung des entsprechenden Personals – und das trotz einer Arbeitslosigkeit von über 9 Prozent.
Die international tätige Personalagentur Hays sieht für Frankreich nur eine Lösung in einer verstärkten Zuwanderung und bedauert, dass die Bestimmungen für ausländische Arbeitskräfte verschärft statt gelockert werden. Der Mangel an Facharbeitern sei eine Bremse für die französische Wirtschaft.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es mehr als Zugangsbeschränkungen zur Universität: Das Gymnasium ist neu aufzustellen, die Facharbeiter-Ausbildung zu forcieren und die Zuwanderung muss erleichtert werden. Allerdings wären auch diese Maßnahmen nicht einfach umzusetzen und könnten zudem einen entscheidenden Faktor nicht korrigieren – die französische Gesellschaftsstruktur.
Klassengesellschaft
Deutlich mehr als in anderen Ländern herrscht ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein, das auch in den Unternehmen die Zusammenarbeit der Sozialpartner extrem erschwert.
Dazu kommt, dass immer noch die Kinder der „classe dirigeante“, der führenden Klasse, bevorzugt werden. Dieses Phänomen betont die OECD und wird von französischen Soziologen bestätigt. Hier wird ein eklatanter Widerspruch deutlich: Für fast alle Positionen gibt es in Frankreich sogenannte „concours“ (Wettbewerbe), womit der Eindruck entsteht, nur die Besten eines Bereichs hätten eine Chance. Letztlich entscheidet aber zu oft ein Anruf des Herrn Papa.
Die Klassengesellschaft wird auch durch die sogenannten „Hautes Écoles“ unterstrichen: Diese Hochschulen können nur nach Überwindung strengster Aufnahmebedingungen besucht werden, gelten als die Spitze des Bildungssystems und sichern somit ihren Absolventen für das ganze Leben eine Sonderposition in der Gesellschaft, in den Unternehmen und in den staatlichen Einrichtungen. Die Absolventen bilden ein Netzwerk, gleichsam eine eigene Klasse. Die „Hautes Écoles“ stellen eine Konkurrenz der bislang allen Besitzern eines baccalauréats offenen Universitäten dar, müssen aber nicht selten erkennen, dass sie im internationalen Wettbewerb nicht immer den Spitzenplatz einnehmen.
Der aktuelle Streik der Jungen, die sich mit den Eisenbahnern solidarisieren und den Geist der Proteste des Jahres 1968 beschwören, betrifft somit nur die Spitze eines Eisbergs und rührt an einer Wunde der französischen Identität: Traditionell nahm man bedauernd zwar, aber nicht aufgeregt zur Kenntnis, dass Frankreich wirtschaftlich schwächer war als andere Länder. Allerdings fühlte man sich intellektuell überlegen – ein Selbstverständnis, das angesichts der Krise des Bildungssystems nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Tradition des Protektionismus
Der zweite Streikgrund, die Öffnung des Eisenbahnsystems für private Konkurrenzangebote, entspricht ebenfalls der Spitze eines Eisbergs: In Frankreich spielt traditionell der Protektionismus eine entscheidende Rolle. Auch der Staat hat als Wirtschaftsfaktor einen hohen Stellenwert. Eine Streikwelle gegen den Wettbewerb ist vor diesem Hintergrund zu sehen.
Vorweg ein skurriler Faktor: Die von den Streikenden verteidigte, staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF tritt im Ausland als privater Anbieter und Konkurrent nationaler, staatliche Unternehmen auf. Diese Möglichkeiten ergeben sich im EU-Raum, weil andere Staaten den gemeinschaftlich beschlossenen Abbau von Monopolen umgesetzt haben. Die Regel besagt, dass man die Schiene vom Verkehr trennen muss und die Schiene auch anderen Anbietern gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen ist. Frankreich hat bislang nur die Infrastruktur, also die Schiene, und den Verkehr, die Züge, EU-konform in zwei Gesellschaften gegliedert, aber keine Öffnung vorgenommen. Das soll nun geschehen, entsprechende Beschlüsse des Parlaments wurden vor kurzem gefasst. Die Gewerkschafter reden von der „Vernichtung“ der staatlichen Bahn.
Der Protektionismus als Charakteristikum der französischen Wirtschaftspolitik ist historisch geprägt.
- Hier sei an den von Jean-Baptiste Colbert unter Ludwig XIV entwickelten Merkantilismus erinnert,
- oder an den Blocus Continental, den Napoleon gegen England verfügte,
- oder an die „Planification“ nach 1945, womit die Wirtschaft im Rahmen von staatlichen Fünf-Jahres-Plänen entwickelt werden sollte.
- Nicht vergessen darf man, dass Frankreich eine Verfassung für die EU verhindert hat: Im Rahmen einer Volksabstimmung wurde ein entsprechender Vorschlag 2005 abgelehnt, der die EU-Zentralstellen zu Lasten der Nationalstaaten gestärkt hätte. Das Paradoxon: Der Verfassungsentwurf war unter dem früheren französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing erarbeitet worden.
- Aktuell versucht Frankreichs jetziger Präsident, Emmanuel Macron, mit Hilfe einer verschärften EU-Entsenderichtlinie den französischen Markt besser gegenüber ausländischen Arbeitnehmern abzuschotten, wobei ohnehin schon Hindernisse bestehen, die nur durch den Grundsatz der Freizügigkeit innerhalb der EU gemildert werden.
Trend in Europa
Vor diesem Hintergrund bekommt die Streikwelle der französischen Eisenbahner gegen eine EU-konforme Wettbewerbsregelung eine besondere Dimension. Der Zugang „Wir schützen die französische Bahn“ passt außerdem zu den Tendenzen, die in mehreren europäischen Ländern zu beobachten ist:
- Ungarn: Viktor Orban hat die Wahlen mit einem EU-kritischen und ausländerfeindlichen Wahlkampf gewonnen
- Italien: Beppo Grillo rückte mit einer EU-kritischen Propaganda zum erfolgreichsten Politiker auf
- Polen: Historiker dürfen keine Analysen verfassen, die am Image der polnischen Nation kratzen könnten
- Spanien: Das demokratische Votum für die Unabhängigkeit von Katalonien wird als Rebellion gegen den Nationalstaat Spanien verfolgt, die politischen Protagonisten werden eingesperrt
Nationalistische Tendenzen sind also vielfach im Vormarsch, die „cheminots“ – Mitarbeiter der Chemins de Fer, der Eisenbahnen – sind in großer Gesellschaft.
Schwache Wirtschaft
Nationalismus, Protektionismus, Ausländerfeindlichkeit, geschlossene Grenzen sind die Elemente, die mit der Gründung der EU für Europa in die Geschichtsbücher verbannt werden sollten. Jetzt zeigt dieser Ungeist wieder seine Fratze und zwar vor allem in wirtschaftlich schwachen Ländern, die von einem freien Markt profitieren könnten, aber glauben, unter dem Schutz von Mauern besser zu fahren. Die Geschichte lehrt an zahllosen Beispielen, dass das Gegenteil der Fall ist. Allerdings schaden sich die Länder nicht nur selbst, sondern gefährden mit ihrer Politik die Europäische Gemeinschaft.
Das gilt im Besonderen für Frankreich, das trotz aller Probleme die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU ist. Zur Illustration die zuletzt vom INSEE, dem französischen Statistik- und Wirtschaftsforschungsinstitut, korrigierten Daten für 2016:
- Die gesamte Leistungsbilanz weist ein Defizit von mehr als 40 Milliarden Euro aus
- Der Abgang allein im Bereich der Produktion liegt bei fast 30 Milliarden Euro. Dies zeigt, dass die französische Industrie insgesamt auf den Weltmärkten nicht konkurrenzfähig ist. Die erfolgreichen Unternehmen sind nicht in der Lage, die generell bestehenden Defizite auszugleichen.
- Die Bilanz der Dienstleistungen ist ebenfalls defizitär. Sogar der Tourismus schaffte zuletzt nur einen positiven Saldo von 1,3 Milliarden Euro.
- Die Arbeitslosigkeit liegt hartnäckig bei über 9 Prozent, wobei Erhebungen zeigen, dass in der Statistik viele nicht erfasst sind.
- Die Staatsschulden betragen aktuell 2.200 Milliarden Euro und entsprechen 97 Prozent des BIP.
Somit ist tatsächlich eine grundlegende Erneuerung der Wirtschaft und des Staates, wie sie von Macron angekündigt wurde, dringend erforderlich. Allerdings erweisen sich die von Macron betriebenen Reformen als halbherzig, wenn etwa das extrem niedrige Rentenantrittsalter nicht angetastet wird oder die immer noch bestehenden Regeln, die den Arbeitsmarkt lähmen, nur zögerlich in Frage gestellt werden. Allerdings muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Gewerkschaften wie die Intellektuellen auch die bescheidensten Reformen vehement bekämpfen und somit eine Stärkung Frankreichs und folglich auch der EU verhindern.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.
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