Aktuell: Zwei Großpleiten stellen spanische Banken vor neue Millionen-Verluste
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die beiden EU-Parlamentarier Guy Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit haben ein Buch geschrieben, in dem sie mehr Macht für die europäische Zentrale fordern. Welche Absichten verfolgen die Autoren?
Pieter Cleppe: Sie wollen die Macht in Europa dramatisch zentralisieren. Das ist zunächst vor allem bizarr. Die Haupterrungenschaften der Europäischen Union, die Freizügigkeit von Menschen und Geschäften, sind ohne eine große Machtübertragung auf die europäische Ebene erreicht worden. Die Länder mussten dazu lediglich ihre Grenzen öffnen. Und um dies zu erreichen ist eine Harmonisierung von Standards meist gar nicht notwendig.
Dort wo die EU eine Menge an Entscheidungsgewalt gewonnen hat, hat sie meist versagt. Die gemeinsame Agrarpolitik stellt wohlhabenden Landbesitzern und Banken große Summen an Steuergeldern zur Verfügung. Die Europäische Kommission hat das Versagen ihrer lange praktizierten Fischereipolitik selbst zugegeben. Auch der Versuch, mit Subventionen im Süden Europas „Konvergenz“ herzustellen, ist gescheitert, während eine Menge Verschwendung und Betrug mit ihnen einhergegangen sind. Und auch das Euro-Projekt kann nicht gerade als ein historischer Erfolg bezeichnet werden.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Cohn-Bendit erhofft sich eine transnationale Gesellschaft, in der die einzelnen Nationen ihre Bedeutung verlieren. Ist dies eine realistische Einschätzung?
Pieter Cleppe: Nein. Ob man seine Ansicht nun teilt oder nicht, eines ist klar: Es gibt kaum Unterstützung dafür, dass wirklich wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene getroffen werden sollen. Meinungsumfragen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zeigen dies, und die Politiker sind nicht bereit, solchen Ideen der Zentralisierung zu folgen. Die EU-Ebene, oder eher die Eurozonen-Ebene, hat in der Eurokrise zwar sehr an Macht gewonnen, aber das ist passiert, weil Politiker schwierige Entscheidungen in die Zukunft aufschieben wollten, anstatt sie jetzt zu treffen. Die Bürger stehen den Bailouts offensichtlich noch immer sehr kritisch gegenüber, und die Kluft wächst immer weiter.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sehen Sie Demokratie und Nation als zwei Seiten derselben Medaille?
Pieter Cleppe: Das kann man schwerlich leugnen. Wäre Deutschland glücklich, wenn der Rest Europas ihm vorschreiben würde, wie es seine Energiepolitik zu betreiben hat, ob es seine Kernkraftwerke schließen oder stattdessen eine Menge neuer bauen soll? Wo immer man in Deutschland in der Debatte steht, man wird immer denken, dass deutsche Energiepolitik eine Angelegenheit ist, die die Deutschen, nicht die Italiener, Esten und Briten entscheiden sollten.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Kann echte Demokratie in einem transnationalen Konglomerat existieren, wo die Menschen nicht einmal dieselbe Sprache sprechen?
Pieter Cleppe: Ich denke, das ist schwierig. Von einer Mehrheit überstimmt zu werden akzeptiert man nur von anderen Mitgliedern desselben „Demos“ (Volk). Wir können vielleicht hoffen, dass Europa eines Tages eine Wirtschaftsraum und ein Volk sein wird, aber das ist noch nicht der Fall. Würden 500 Millionen Europäer glücklich sein, Schicksalsentscheidungen zusammen mit 1,3 Milliarden Chinesen zu treffen? Die Europäer handeln gern mit den Chinesen, aber das heißt nicht, dass sie mit ihnen regieren wollen. Dasselbe gilt innerhalb Europas.
Wenn man sich die Geschichte ansieht, stellt man fest, dass Dezentralisierung etwas sehr Europäisches ist. Es ist daher eigentlich anti-europäisch, mehr Zentralisierung der Macht in Europa zu fordern. Die Tatsache, dass Europa in der Geschichte so dezentralisiert war, stellte sicher, dass Protektionismus für die Länder stets sehr teuer war. Wenn man klein ist, muss man sich öffnen: für Geschäfte, für Menschen und für fremde Kulturen. Diese Offenheit hat Europa groß gemacht. Sie ist die Grundlage der westeuropäischen Zivilisation.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum sind die Grünen so sehr gegen die Idee der Nationen?
Pieter Cleppe: Ich denke nicht, dass das alle Grünen sind. Viele von ihnen schätzen Minderheitenrechte und erkennen die Wichtigkeit der „Subsidiarität“ an. Aber einige von ihnen, zumindest in einigen europäischen Ländern, sind die intellektuellen Erben der Europäischen Kommunistischen Bewegung. Sie haben die Niederlage offenbar immer noch nicht zugegeben und glauben noch immer, dass zentralisierte Herrschaft und Kontrolle zu guten Resultaten führen. Glücklicherweise haben die meisten Menschen aus der Geschichte gelernt und wissen es besser.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wir sehen in Europa einen mächtigen Block, der sich für mehr Zentralgewalt und weniger nationale Unabhängigkeit stark macht. Wird er sich durchsetzen können?
Pieter Cleppe: Ich hoffe nicht, und ich denke es auch nicht, aber wie Thomas Jefferson sagte: „Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“. Man kann, ökonomisch betrachtet, die Eurokrise nicht durch mehr Geld-Transfers überwinden. Spanien zum Beispiel kämpft mit einem Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. Bei Open Europe haben wir gerade einen Artikel veröffentlicht, der zeigt, dass Spanien noch die Hälfte seiner Vorhaben umsetzen muss, um wieder mit Deutschland konkurrieren zu können. Schon jetzt sind die Proteste massiv. Selbst wenn Spanien dies schafft, wird es immer noch unter den exzessiv hohen privaten Schulden leiden. Und selbst wenn Deutschland und die anderen AAA-Länder helfen, diese privaten Schulden zu begleichen, oder wenn sich Spanien für zahlungsunfähig erklärt, bleibt das Problem bestehen, dass die EZB einen Leitzins festlegen muss, der niemals sowohl für Deutschland als auch für Spanien optimal sein kann, zwei unterschiedliche Volkswirtschaften, die unterschiedlich schnell wachsen. Das ist es, was Spanien seine Probleme überhaupt erst gebracht hat, dass die Zinssätze der EZB, die Deutschland dienen sollten, viel zu niedrig waren. Wenn man mehr Geld nach Spanien schickt, wird dieses Geld nur dazu verwendet, dort die Arbeitslosengelder zu zahlen. Es wird Spanien nicht wettbewerbsfähiger machen und nicht das Problem lösen, dass Spanien und Deutschland ihre eigene Zinspolitik benötigen, was schwierig ist, solange sie dieselbe Währung haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sehen Sie zu irgendeinem Zeitpunkt ein pan-europäisches Elektorat, oder werden Wahlen immer ein genuin nationales Element darstellen?
Pieter Cleppe: Es gibt so etwas wie eine gemeinsame europäische Kultur, wie es etwas wie eine westliche Kultur gibt oder eine asiatische Kultur oder eine afrikanische Kultur. Die europäische Kultur ist nicht stark genug, um Entscheidungen einer Mehrheit über eine Minderheit in diesem Kontext zu rechtfertigen. Selbst wenn eine europäische Kultur entstehen würde, die mit der amerikanischen Kultur vergleichbar wäre, denke ich dennoch, dass es eine sehr gute Idee wäre, wenn man Entscheidungsfindungen so bodennah wie möglich zulassen würde. Deshalb ist vielleicht das wahre Kernkonzept einer europäischen Kultur, dass sie dezentralisiert ist. Deshalb sollte die EU mehr wie ein Ludwig-Erhard-Europa werden: Man behalte all die guten Aspekte der offenen Grenzen und des Handels und entledige sich all der unnötigen Bürokratie und der grandiosen Pläne, die zum Scheitern verurteilt sind.