Politik

Putsch-Versuch in der Türkei: EU-Chefs tappen im Dunkeln

Die EU-Chefs wurden vom Putschversuch in der Türkei auf einem Gipfel in Ulan Bator in der Mongolei überrascht. Sie hatten schlechten Handy-Empfang und wenige valide Informationen. Interessant: Großbritanniens Spitzenpolitiker waren in London geblieben - und konnten in der Krise auf die gewohnte Infrastruktur zurückgreifen.
17.07.2016 13:42
Lesezeit: 3 min

Die EU-Chefs waren während des türkischen Putsch-Versuchs in Ulan Bator bei einem Gipfel. Michael Fischer und Andreas Landwehr von der dpa liefern einen interessanten Korrespondetenbericht über die Reaktionen, als die Politiker von den Ereignissen erfuhren:

Ulan Bator – Erst das Massaker in Nizza, dann der Putschversuch in der Türkei. Die Teilnehmer des Asien-Europa-Gipfels (Asem) in Ulan Bator wachen auch am zweiten Tag ihres Treffens mit einer Horrornachricht auf. In der Mongolei ist es 5.30 Uhr, als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag durch einen Anruf aus Berlin von den dramatischen Ereignissen in Ankara und Istanbul erfährt. Wenige Stunden zuvor hatte sie noch mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande am Telefon über den Anschlag in Nizza gesprochen. Jetzt der nächste Schock.

Merkel spricht noch am frühen Morgen ihrer Zeit (sieben Stunden Zeitverschiebung) mit Kanzleramtschef Peter Altmaier, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Die Lage in Istanbul und Ankara ist zwar unübersichtlich, trotzdem ist die Reaktion schnell klar: Unterstützung für die gewählte Regierung. «Die demokratische Ordnung in der Türkei muss respektiert werden», twittert Regierungssprecher Steffen Seibert, als sich Merkel zur Asem-Abschlusssitzung aufmacht.

Die Nacht haben die Staats- und Regierungschefs in einer extra für das Treffen errichteten Villensiedlung in den grünen Hügeln außerhalb der Hauptstadt verbracht. Eigentlich eine Gipfelidylle. Die letzten Beratungen finden in einer Jurte statt, einem traditionellen mongolischen Zelt.

Den kurzen Fußweg legt Merkel mit dem Schweizer Präsidenten Johann Schneider-Amman zurück. Sofort geht es um die Lage in der Türkei. Vor der Jurte bilden sich kleinen Gruppen. Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo will von Merkel deren Haltung zum Putschversuch wissen. Die Kanzlerin wirkt sehr klar und gefasst. Sie hat längst auf Krisenmodus umgeschaltet.

EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stecken die Köpfe zusammen, versuchen die letzten Nachrichten auf dem Handy aufzurufen. Der Empfang hier oben ist sehr schlecht. Immer wieder bricht die Internetverbindung ab. «Das ist das, was man in so einer Situation gar nicht braucht», sagt jemand.

Alle 28 EU-Länder sind in Ulan Bator vertreten, 15 davon mit Staats- und Regierungschefs, die meisten anderen haben ihre Außenminister oder zumindest einen Staatssekretär geschickt. Nur Großbritannien wird lediglich von der Botschafterin repräsentiert. Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault ist wegen der Vorfälle an der Strandpromenade von Nizza bereits am Freitag abgereist.

Tusk und Juncker haben keine Probleme, schnell eine gemeinsame EU-Erklärung zustandezubringen. Sie gleicht der deutschen Stellungnahme. Die 28 Mitgliedstaaten stellen sich hinter die «demokratisch gewählte Regierung» in der Türkei und rufen zur schnellen Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung auf.

Auf der Abschlusskonferenz mit Tusk und Juncker wird die längst veröffentlichte Erklärung einfach noch einmal vorgelesen. Erst eine bohrende Journalistenfrage lässt Tusk die merkwürdige, kühle Stille dann doch noch durchbrechen. Es sei zu früh, über die Auswirkungen des Putschversuches zu spekulieren, sagt er. Aber was jetzt aus der Türkei werde, sei schon die entscheidende Frage. Die Worte dürften vor allem an Erdogan gerichtet sein, der längst mit harter Hand das Land regiert und jetzt noch schärfer vorgehen könnte, was das Verhältnis zur EU noch weiter beschädigen könnte. «Unsere Hoffnung ist, die Türkei als zentralen Partner zu behalten», sagt Tusk.

Das wünscht sich auch Merkel. «Die Türkei ist ein Land, mit dem wir eng verbunden sind – in täglicher Zusammenarbeit, als Nato-Partner und vor allem durch Millionen von Menschen, die familiäre Wurzeln in der Türkei haben», sagt sie gut zwei Stunden nach ihrer Rückkehr im Berliner Kanzleramt.

Sie hat eine klare Botschaft an die türkische Regierung parat: «In diesen schweren Stunden leitet uns das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und ihren Institutionen», sagt sie. «Uns leitet die Solidarität mit allen politischen Kräften in Regierung und Opposition, die sich genau diesen Werten verpflichtet fühlen.» Die Kanzlerin ruft die Regierung auf, bei der Aufarbeitung des Putschversuchs Rechtsstaatlichkeit walten zu lassen. Die Absetzung von fast 3000 Richtern am Samstag sieht nicht danach aus.

Der Umgang mit dem Nato-Partner dürfte nach dem Putschversuch noch schwieriger werden. Die Kanzlerin hat Erdogan erst vor einer Woche beim Nato-Gipfel in Warschau getroffen. Das Gespräch endete in einer Sackgasse. Im Streit um das Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete auf der Luftwaffenbasis Incirlik fanden die beiden keine Lösung. Die Türkei hatte nach der Verabschiedung der Armenier-Resolution des Bundestags einem Staatssekretär und Abgeordneten einen Besuch in Incirlik untersagt.

Es gab bereits vor dem Putschversuch Forderungen aus dem Bundestag, die 240 für den Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Incirlik stationierten Soldaten abzuziehen. Die dürften jetzt noch lauter werden.

Für einzelne Gipfelteilnehmer in Ulan Bator hat der Putsch übrigens auch ganz konkrete Folgen. Der Schweizer Präsident und der bulgarische Staatschef Rossen Plewneliew hatten Rückflüge über Istanbul gebucht. Plewneliew kann sich bei der tschechischen Delegation einklinken. Schneider-Amman kommt bei Merkel mit und fliegt von Berlin weiter in die Schweiz.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wird es in Europa durch Trumps Zölle billiger? Nicht so schnell!
01.05.2025

Während Donald Trump die Stimmung mit protektionistischen Zöllen gegen China anheizt, stellt sich in Europa die Frage: Wird unser Markt...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Dollarschwäche setzt europäische Konzerne massiv unter Druck – Die Krise kommt!
01.05.2025

Dollarschwäche trifft Europas Konzerne: Umsätze schrumpfen, Risiken steigen – droht eine neue Ertragskrise?

DWN
Politik
Politik Neue Biomüll-Verordnung ab Mai: Bis zu 2.500 Euro Strafe bei falscher Mülltrennung
30.04.2025

Ökologische Pflicht zur Mülltrennung: Ab dem 1. Mai 2025 tritt die neue Bioabfallverordnung (BioAbfV) in Deutschland in Kraft. Dann...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Die Tech-Giganten blasen zum Angriff: Neue Funktionen und digitale Machtverschiebung im Frühjahr 2025
30.04.2025

Die digitale Elite schläft nicht – sie beschleunigt. Im Frühjahr 2025 liefern die großen US-Tech-Konzerne ein beispielloses Arsenal an...

DWN
Politik
Politik Rohstoffdeal Ukraine steht kurz bevor: USA sichern sich Zugriff auf ukrainische Ressourcen
30.04.2025

Ein Durchbruch im Schatten des Krieges: Nach zähen Verhandlungen stehen die USA und die Ukraine offenbar kurz davor, ein weitreichendes...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Der Fall Pirelli: Beginn einer europäischen Gegenoffensive gegen Chinas Wirtschaftsmacht?
30.04.2025

Der Entzug chinesischer Kontrolle bei Pirelli markiert einen Wendepunkt: Europa ringt um Souveränität – zwischen amerikanischem Druck...

DWN
Politik
Politik Wie Trump den grünen Wandel ausbremst – Chronik eines klimapolitischen Rückschritts
30.04.2025

Während Europa sich zunehmend in grüne Bürokratie verstrickt und Milliarden für Klima-Versprechen mobilisiert, marschiert der ehemalige...

DWN
Panorama
Panorama Inflationsrate sinkt auf 2,1 Prozent – Lebensmittelpreise steigen aber weiter
30.04.2025

Die Inflation in Deutschland geht leicht zurück – doch die Entlastung kommt nicht überall an. Während Energie günstiger wird, ziehen...