Politik

Martin Schulz enttäuscht über den Fall der Drei-Prozent-Hürde

Martin Schulz ist enttäuscht über die Entscheidung des Verfassungsgerichts, die Drei-Prozent-Hürde zur EU-Wahl aufzuheben. Auch in der Union wird kritisiert, dass nun „Splitterparteien und radikale Kräfte aus Deutschland“ ins EU-Parlament einziehen werden.
26.02.2014 18:25
Lesezeit: 2 min

Die kleinen Parteien jubeln, während die etablierten größeren Parteien vor einer Zersplitterung des Parlaments warnen. Das Bundesverfassungsgericht hatte am Mittwoch eine Drei-Prozent-Hürde zur EU-Wahl am 25. Mai für verfassungswidrig erklärt. Damit kann ein Stimmenanteil von weniger als 1 Prozent für ein Mandat reichen.

„Ich nehme diese Entscheidung mit Respekt entgegen, auch wenn ich mir ein anderes Ergebnis gewünscht hätte“, sagte Parlaments-Präsident Schulz, der bei der Europawahl Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten ist. Der SPD-Fraktionschef im Bundestag, Thomas Oppermann, sagte, im Wahlkampf solle alles dafür getan werden, dass „extreme und rechte Parteien“ keinen Platz im neuen EU-Parlament fänden.

Forsa-Chef Manfred Güllner wertete das Karlsruher Urteil als Katastrophe. Er befürchte eine „Diktatur der Minoritäten“, sagte Güllner: „Ich halte das für eine ganz bedenkliche Entwicklung.“

Die Entscheidung in Karlsruhe fiel denkbar knapp mit fünf zu drei Richterstimmen. Verfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle begründete das Urteil damit, dass die Sperrklausel die Chancengleichheit der Parteien verletze.

Das Gericht hatte im November 2011 die bisherige Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen gekippt. Im Juni vorigen Jahres beschloss der Bundestag die neue Drei-Prozent-Hürde. Dagegen klagten zahlreiche kleine Parteien wie die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Freien Wähler, die Piratenpartei und die NPD.

Damit dürften bei der EU-Wahl im Mai zahlreiche kleine Parteien erfolgreich sein. „Alleine aus Deutschland kämen - nähme man die Ergebnisse der früheren Europawahlen zur Grundlage - weitere sieben bis acht Parteien in das Parlament, allerdings jeweils vertreten durch in der Regel einen einzigen Vertreter“, sagte Richard Hilmer vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap.

Wie viele Stimmen für ein Mandat nötig sind, hängt auch von der Wahlbeteiligung ab. Bei der Wahl 2009 etwa wäre die ÖDP nach neuem Recht nach Angaben des Bundeswahlleiters mit einem Stimmenanteil von 0,5 Prozent und 135.000 Wählern mit einem Abgeordneten im Parlament gewesen.

Nach Umfragen würde erstmals die AfD in das Parlament einziehen. Auch die FDP wäre wieder vertreten. Wäre die Sperrklausel schon 2009 gefallen, säßen derzeit etwa auch die rechtskonservativen Republikaner, die Tierschutzpartei, die Partei Familie, die Piraten, die Freien Wähler wie auch Rentnerpartei und ÖPD im Straßburger Parlament.

Deutschland stellt nach der Wahl im Mai 96 der insgesamt 751 Mitglieder des EU-Parlaments. CDU und CSU im Parlament der 28 EU-Staaten kritisierten das Urteil. Ihre Spitzen Herbert Reul und Markus Ferber erklärten, es gebe in allen großen EU-Ländern Sperrklauseln: „Nun müssen wir mit dem Urteil leben und auch damit, dass wir Splitterparteien und radikale Kräfte aus Deutschland im EU-Parlament haben werden.“ Aus einer Übersicht des EU-Parlaments geht hervor, dass in 13 EU-Staaten gar keine Sperrklausel gilt. Deutschland wäre das 14. Land. In anderen Staaten gelten Klauseln von 5 oder 4 Prozent.

Aus Sicht der Karlsruher Richter verstößt die Drei-Prozent-Hürde „unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen“ gegen die Grundsätze der Chancengleichheit der politischen Parteien und der Wahlrechtsgleichheit. Das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit besagt, dass grundsätzlich jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben muss.

Tatsächlich fallen heute bereits die Wählerstimmen europaweit unterschiedlich ins Gewicht, weil kleine Staaten überproportional viele Abgeordnete stellen. Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim, der in Karlsruhe die ÖDP vertrat, wies darauf hin, dass für ein deutsches Mandat etwa 130.000 Stimmen erforderlich seien, für ein Mandat in Estland aber nur 35.000 Wähler. Europa-Politiker der Unions-Fraktion im Bundestag forderten daher ein einheitliches europäisches Wahlrecht.

Die Gefahr einer Zersplitterung sieht das Gericht nicht. Das Gericht begründet dies damit, dass das Europa-Parlament nicht entscheidend sei für die Bildung einer Regierung und deren Stabilität. Eine solche Entwicklung des Europa-Parlaments werde zwar politisch angestrebt, stecke aber „noch in den Anfängen“, sagte Voßkuhle. Nach dieser Europawahl muss der Kommissions-Präsident erstmals vom Parlament gewählt werden. Damit wächst der Einfluss der Parlamentarier.

Für die Bundestagswahlen hat die Entscheidung keine Folgen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sagte, das Urteil sei „kein Hinweis darauf, dass wir uns mit der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen auseinandersetzen müssen“.

Die Richter hätten die Sperrklausel mit dem Argument gekippt, dass das Europa-Parlament anders als der Bundestag keine Regierung bilde und deshalb in der Abwägung die Chancengleichheit der Parteien höher zu gewichten sei, sagte Maas. „Das kann ich auch gut nachvollziehen.“. Ähnlich äußerte sich Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU).

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