Politik

Griechenland: Nicht schon wieder Entscheidungen ohne taugliche Grundlagen

Lesezeit: 8 min
10.07.2015 15:41
Die Euro-Retter haben die Lage in Griechenland aufgrund völlig falscher Daten beurteilt. Deshalb hat die Therapie nicht angeschlagen. Jetzt werden dem Land wieder Alternativen aufgezwungen, die beide untauglich sind: Die Fortsetzung der internen Abwertung oder Grexit. Beides ist fatal. Solange keine realistische Datengrundlage besteht, und das Bankensystem nicht fixiert wird, wird sich die Schuldendeflation fortsetzen.

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben eine ganz andere Sicht auf Griechenland als die meisten Beobachter: Was sind die Stärken der griechischen Wirtschaft?

Michael Bernegger: Die Stärken oder Trümpfe der griechischen Wirtschaft liegen eindeutig im Export. Der Konsens sagt das Gegenteil, hat aber die offiziellen Zahlen weder hinterfragt noch analysiert. Griechenland hat die größte und wettbewerbsstärkste Handelsflotte der Welt. Sie ist aufgrund geschickten Investitionsverhaltens für die nächsten zehn Jahre sehr gut positioniert. Sie ist effektiv drei- bis viermal so groß wie in der Leistungsbilanz und in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesen. Im Tourismus hat das Land mit dem starken Wachstum des 5-Sterne Hotellerie in den 2000er Jahren einen Sprung vom Massen- zum Qualitätstourismus vollzogen. Auch der Tourismus exportiert deutlich mehr als offiziell ausgewiesen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche sind die Schwächen?

Michael Bernegger: Ihre Schwächen sind die Konzentration im Export auf extrem zyklische Segmente, die sehr hohe Energieabhängigkeit und -intensität des Landes und die strukturelle Schwäche staatlicher Institutionen. Auch dort, wo man es nicht vermuten würde – bei der Zentralbank.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie schreiben, dass die Griechenland sich selbst mit falschen Statistiken in ein schlechtes Licht gestellt hat. Trägt die Zentralbank hier Mitschuld?

Michael Bernegger: Die Zentralbank errechnet seit Jahrzehnten die Leistungsbilanz völlig falsch. Sie weist lächerlich geringe Werte für den Export der Handelsschifffahrt und zu niedrige Werte für den Tourismus aus. Der eine Grund ist historisch, hängt mit der Besteuerung und Regulation der Handelschifffahrt sowie mit dem Währungsregime in Griechenland zusammen. Der zweite Grund ist effektiv die Komplexität, vor allem für die Tourismus-Statistik, in einer Währungsunion. Ein dritter ist Inkompetenz der Behörde, der vierte sind die politischen Machtverhältnisse. Die Reeder sind die eigentliche Macht im Land, sie sind nicht auskunftspflichtig und -willig. Ihre Industrie ist enorm kapital- und energieintensiv, sehr zyklisch und riskant. Sie haben entsprechend große finanzielle Mittel und kein Interesse, diese öffentlich zu machen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie schreiben, dass die Handelsschifffahrt in einem negativen Konjunktur-Zyklus steckt. Wo liegt das Problem?

Michael Bernegger: Die Handelsschifffahrt hatte in den 2000er Jahren einen der größten Booms aller Zeiten. Die Fracht-Raten – also die Preise für Seefracht-Transporte - explodierten förmlich. Besonders ausgeprägt war dies in den von der griechischen Flotte besetzten Segmenten – dem Tanker-Geschäft und bei Massenfrachtgütern wie Eisenerz und Kohle. Bei letzteren versiebenfachten die Frachtraten sich zwischen 2002 und 2008. Dies führte weltweit zum einem Investitionsboom in neue Schiffe, der weit überschoss. Heute lastet ein Überangebot, das überdies zu überhöhten Baukosten erstellt wurde, auf dem Markt.

Dies hat den Preisverfall der Frachtraten herbeigeführt. Bei den Transportern von Eisenerz und Kohle sind sie gegenüber 2008 um 90% gefallen, eine Deflation ohnegleichen. Und parallel dazu sind die Erdölpreise in den Jahren 2011 bis 2014 auf historische Höchststände angestiegen. Die Kosten für den Kraftstoff repräsentieren den größten Teil der Betriebskosten der Schiffe. In den letzten Jahren betrugen sie allein 60-80% der Frachterträge, während 20% normal ist. Von den großen Flotten hat sich die griechische weitaus am besten in diesem schwierigen Markt behauptet. Sie hat frühzeitig und nicht erst im Boom investiert, und kann es seit 2012 wieder tun, weil sie finanzkräftig ist und billige Schiffe aus Konkursen und Zwangsverkäufen ersteigern kann.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ihre Kernthese ist, dass Griechenland eigentlich viel stärker ist (BIP) als von der Troika unterstellt. Hat man das Land jahrelang falsch behandelt?

Michael Bernegger: Das erste Problem ist die griechische Statistik. Handelsschifffahrt, Tourismus und Bautätigkeit – die drei wichtigsten Zweige des privaten Sektors, sind konzeptionell in der Statistik falsch erfasst. Das zweite Problem besteht darin, dass die Troika dies anscheinend nicht überprüft und jedenfalls nicht korrigiert hat.

Es ist das A und O des Krisenmanagements, die Konzeption und operationelle Praxis der Datenerhebung akribisch zu überprüfen. Das ist offensichtlich nicht passiert. Im Ergebnis sind und bleiben die griechische Leistungsbilanz und das Bruttoinlandprodukt falsch erfasst. Die Leistungsbilanz war in den 2000er Jahren aktiv und hat sich nicht dramatisch passiviert wie ausgewiesen. Es hat nie eine Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit gegeben. Auch waren Budgetdefizite und Schuldenstand relativ zum BIP deutlich geringer als angegeben. Die Diagnose verlorener preislicher Wettbewerbsfähigkeit war von allem Anfang an falsch. Der Einbruch der Wirtschaftsaktivität ist seither leider noch deutlich stärker als in den offiziellen Daten. Die Handelsschifffahrt hatte einen Einbruch, der nur zu einem kleinen Teil erfasst ist. Der immens grosse informelle Sektor hat einen schweren Rückschlag erlitten, zuvorderst in der Bautätigkeit.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sagen, dass der IWF in Griechenland versagt hat. In welcher Hinsicht?

Michael Bernegger: Ich möchte vorausschicken, dass ich den IWF angesichts großer, potentieller Risiken in vielen Ländern strategisch sehr wichtig finde. Es geht mir nicht darum, ihn grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Falle Griechenlands hat er aus drei Gründen versagt: Die Zahlungsbilanzstatistik und –analyse ist das Kerngeschäft des IWF. Seit 30 Jahren weiß der IWF, dass die Exporte der griechischen Reederei strukturell nicht oder falsch erfasst sind. Es gibt mehrere Berichte des IWF darüber. Der IWF deutete auch mehrfach an, dass die Dimensionen kolossal sind. Offenbar hat man ausgerechnet diesen Punkt nicht überprüft und korrigiert, als die Mission in Griechenland begann. Nur angesichts der fälschlicherweise sehr hohen, ausgewiesenen Defizite in der Leistungsbilanz bekam die interne Abwertung als Lösungsansatz überhaupt eine solche Bedeutung.

Der zweite Fehler ist dieser Ansatz der internen Abwertung, der vom Chefökonomen Olivier Blanchard bereits vor Ausbruch der Krise in den 2000er Jahren entwickelt wurde. Meines Erachtens ist dies einer der größten Irrtümer der Makroökonomie seit den 1930er Jahren. Der Fehler ist, dass er für die Situation einer hohen Verschuldung des privaten Sektors – gegenüber dem Bankensektor und als Steuerzahler gegenüber dem Staat – nicht angemessen ist. Genau dies ist in Griechenland und in den anderen Peripherieländern der Fall. Der dritte Fehler ist die sterile Anwendung der Elemente des Washington Konsensus, ohne auf die Struktur des Landes Rücksicht zu nehmen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sagen, Griechenland leide wegen der Politik der internen Abwertung an einer Schuldendeflation. Was ist das – und was bedeutet es?

Michael Bernegger: Die interne Abwertung beinhaltet zweierlei: Löhne und Preise werden drakonisch abgesenkt, um im Export die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die Steuern, vor allem die indirekten Steuern wie Mehrwertsteuer, werden erhöht, um die inländische Kaufkraft zu reduzieren und die Wirtschaft auf den Export auszurichten. Das ist die Theorie. Effektiv wurden die nominellen Einkommen in der ganzen Wirtschaft komprimiert. Die indirekte Abwertung funktionierte in Griechenland nicht, weil erstens die dominante Exportindustrie kapital- und energieintensiv ist und nicht arbeitsintensiv. Zweitens vernachlässigt dies die hohe ausstehende Schuld: Weil die ausstehende Schuld und der Schuldendienst (Zinsen, Rückzahlung, Steuern) nominell sind, steigen Schulden und Schuldendienst durch die drastische Reduktion der nominellen Einkommen real ständig an. Sie werden untragbar. Die Haushalte können Hypothekenzinsen und Steuern nicht mehr bezahlen, die Unternehmen reduzieren Investitionen und Beschäftigung aufs Äußerste.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie schreiben, dass der Schuldenschnitt von 2012 die Probleme nicht gelöst, sondern verschärft hat. Warum?

Michael Bernegger: Der Schuldenschnitt war eine Maßnahme, um die Staatschuld zu reduzieren und damit tragfähig zu machen. Nicht ausreichend bedacht wurden seine Nebenwirkungen: Er hat die Banken unmittelbar in eine systemische Krise gestürzt, die bis heute anhält. Die Banken mussten aufgrund der IFRS-Bilanzierungs-Vorschriften sofort hohe Abschreibungen auf ihren Beständen an Staatsanleihen tätigen. Das hat ihre eigenen Mittel großteils ausradiert. Die Rekapitalisierung erfolgte erst verzögert und in Etappen. Das war der eigentliche Fehler. Aufgrund der Basler Vorschriften über das Eigenkapital mussten die Banken sofort die Kreditvergabe einschränken. Diese drastische Kreditklemme hat eine akute Liquiditätskrise in der gesamten Wirtschaft geschaffen.

Die Bauinvestitionen brachen fast vollständig zusammen. Viele Unternehmen konnten ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, eine eigentliche Bankrott- und Pleitewelle breitete sich über die ganze Wirtschaft aus. Als Folge sind die Quote der unbedienten und faulen Kredite in unfassliche Dimensionen angestiegen, weit über 40% aller Kredite. Diese Kredite müssen mit viel höheren Risikogewichten unterlegt werden. Die Banken sind wegen der zeitlich verzögerten Rekapitalisierung dadurch unterkapitalisiert. Griechenland ist heute in der katastrophalen Situation einer Schuldendeflation wie die USA in den frühen 1930er Jahren. Die Phänomene bei den Banken sind horrend ansteigende Quoten fauler Kredite, ungenügendes Eigenkapital der Banken, periodische Abzugspaniken und ungenügende Depositenbasis.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was müsste geschehen, um Griechenland nachhaltig zu sanieren?

Michael Bernegger: Griechenland ist in einer schweren akuten Krise, ist aber keineswegs strukturell ein Fass ohne Boden. Am Ursprung steckt ein schwerer Preisschock im Außenhandel (Kollabierende Exportpreise, stark gestiegene Import- und Vorleistungspreise), eine externe Deflation, die als Verlust an Wettbewerbsfähigkeit missinterpretiert wurde. Durch eine falsche Politik der internen Abwertung wurde die Wirtschaft in eine kumulative Schuldendeflation gestürzt. Man müsste die Banken sofort rekapitalisieren, die faulen Kredite in eine intelligent konzipierte „Bad Bank“ auslagern, die Depositenbasis durch eine Reihe von Maßnahmen wieder verbessern. Möglichkeiten dazu gibt es genügend. Das kostet zunächst, kann aber später durch eine Privatisierung der Banken wieder eingespielt werden. Strukturell ist die Wirtschaft mit der Handelsschifffahrt und dem Tourismus sehr gut positioniert.

Die seit letztem Jahr niedrigen Erdölpreise sind ein Segen für die Schifffahrt. Für den inländischen Konsum helfen die Erdölpreise nicht, weil der Anteil von Mehrwertsteuern und produktspezifischen Steuern so stark erhöht worden ist. Fatal ist, dass die Troika jetzt Griechenland nur zwei untaugliche Optionen überlässt: Weiterfahren mit der Schuldendeflation oder Grexit, was noch schlimmer ist. Die Abwertung würde nichts nützen, weil die Handelsschifffahrt einnahmen- und ausgabenseitig dollarbasiert ist. Wie die Fünf-Sterne Hotellerie ist sie sehr kapitalintensiv. Bei einem Grexit würden die Zinsen drastisch ansteigen, und eine Angebotsexpansion in diesen Sektoren verunmöglichen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In welchem Zustand sind die anderen Euro-Staaten? Operieren wir auch hier mit falschen Voraussetzungen?

Michael Bernegger: Die Probleme in der Erfassung der Handelsschifffahrt sind in Griechenland spezifisch und einzigartig. Hingegen hat das allgemeine gesamtwirtschaftliche Zahlenwerk in Europa erhebliche und gravierende Mängel, nicht nur, aber besonders in den Peripherieländern. Die Methoden-Fehler gehen meist weit zurück, häufig bis in die 1960er und 1970er Jahre.

Die Tourismus-Statistik hat besonders seit der Einführung des Euro erhebliche Defizite, und die Bauinvestitionen und der private Konsum sind in vielen Ländern konsequent und systematisch falsch erfasst. Der informelle Sektor stellt ein riesiges Problem dar. Die Lohnstatistiken sind dadurch massiv verzerrt. Das effektive BIP liegt meist deutlich höher als ausgewiesen. Dadurch sind die Defizit- und die Schuldenquoten teilweise beträchtlich geringer als in der EDP-Prozedur ausgewiesen. Während das absolute Niveau des BIP deutlich höher liegen dürfte, ist der Rückschlag seit 2008 in den Peripherieländern, aber auch in Frankreich viel stärker als ausgewiesen. Die Deflationsgefahr wird erheblich unterschätzt anhand der gängigen Teuerungsindikatoren.

Die Wirtschaftslage in Europa ist insgesamt viel schlechter als allgemein erkannt. Generell wird die Rolle der Geldpolitik und der Bankenregulierung für die Eurokrise massiv unterschätzt.

Die Banken sind in allen Peripherieländern inklusive Ostmitteleuropas in einer Situation einer latenten Systemkrise. Steigende Quoten nicht-bedienter und fauler Kredite, fallende Preise von Immobilien als wichtigster Sicherheit der Kreditvergabe gibt es nicht nur in Griechenland. Mit der Tiefzinspolitik der EZB werden sie nicht beseitigt werden können. Eine Rekapitalisierung der Banken sollte überall höchste Priorität haben, sonst können die akute Kreditklemme nicht gelöst und das Wirtschaftswachstum nicht nachhaltig angekurbelt werden. Die latenten Systemrisiken sind viel bedeutender, weil die gesamte Bankenregulierung Risiken nicht verringert, sondern teilweise potenziert. Sie wirkt etwa prozyklisch verstärkend.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Zeigt nicht die Unfähigkeit aller Beteiligten im Fall Griechenlands, dass ein zentralistisches Wirtschaftssystem (EU/EZB/IWF) im Grunde niemals funktionieren kann?

Michael Bernegger: Am Ursprung stehen in Griechenland Fehler nationaler Behörden, vor allem der Zentralbank, aber auch die strukturelle Schwäche des griechischen Staates. In der akuten Krise ist die Troika mit einem unangemessenen Lösungsansatz zu Werk gegangen, und hat die wirklichen Fehler und die Situation in Griechenland gar nicht adäquat analysiert. Erschreckend ist, dass man keine Lehren daraus zieht.

Wenn man der Presse Glauben schenkt, so sind die Forderungen der Troika immer noch in der Richtung Lohnsenkung, Rentensenkung, Mehrwertsteuer-Erhöhung. Diese Kombination hat verheerende Konsequenzen gehabt. Die von der Troika geforderte drastische Mehrwertsteuer-Erhöhung auf den Inseln würde direkt wie 2011/12 eine tiefe Rezession für den Tourismus auslösen. Vergessen Sie nicht, dass die türkische Lira seit Quartalen im freien Fall ist. Drastische Preiserhöhung in Griechenland und anhaltende Preissenkung in der Türkei würden die Tourismusströme umlenken. Das Problem ist die Unfähigkeit der Akteure des Zentrums, rasch zu lernen, nicht die zentralistische Struktur. Statt endlich die Datengrundlagen vor allem der Leistungsbilanz zu überprüfen, ließ sich die Eurozone vom IMF in eine katastrophale Alternative – den Grexit – hineinmanövrieren.

Michael Bernegger ist selbständiger Ökonom. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Schweizerischen Nationalbank, als Währungsanalyst in einer Investmentbank und in verschiedenen Führungsfunktionen in der schweizerischen Finanzindustrie. Seine vollständige und äußerst lesenswerte Analyse über die Lage in Griechenland hat er auf Social Europe veröffentlicht.

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