Politik

Schäubles Vision von Europa: Mehr Russland, weniger Italien

Lesezeit: 8 min
17.07.2015 02:17
Vor genau 20 Jahren hat Wolfgang Schäuble in bemerkenswerter Klarsicht vorhergesehen, dass eine ungeordnete Euro-Zone zum Scheitern verurteilt ist. Sein Konzept damals ist die Erklärung für sein Verhalten heute: Er wandte sich gegen nationalistische Tendenzen, wollte eine Annäherung an Russland und sah die EU als gleichberechtigten Partner in der Nato. Er sieht heute seine letzte Chance, Deutschland auf diesen Kurs zu bringen.
Schäubles Vision von Europa: Mehr Russland, weniger Italien
Die wirklichen Probleme der Euro-Zone kommen erst mit Italien und Spanien. (Grafik: livinginabubbleblog)

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Am 1. September 1994 sorgte der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU für heftige Diskussionen in Deutschland und in Europa: Er präsentierte ein heute in Vergessenheit geratenes Papier, das die Überschrift „Überlegungen zur europäischen Politik“ trägt.

Die Analyse von vor 20 Jahren trifft in verblüffender Weise auch auf die Gegenwart zu: Die EU drohte, so schrieb Schäuble damals, sich „zu einer lockeren, im wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation mit verschiedenen Untergruppierungen entwickeln“.

Als Ursachen benannte Schäuble damals:

Überdehnung der Institutionen, die für 6 errichtet, jetzt 12 und bald (voraussichtlich) 16 Mitglieder tragen müssen;

zunehmende Differenzierung der Interessen, die auf unterschiedlichem gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungsgrad beruht und welche die fundamentale Interessen-Übereinstimmung zu überdecken droht;

unterschiedliche Wahrnehmungen in einer vom Nordkap bis Gibraltar reichenden Union von der Vorrangigkeit innerer, mehr aber noch äußerer Aufgaben (z.B. Maghreb-Osteuropa);

ein tiefer, wirtschaftsstruktureller Wandel, welcher mit seiner massenhaften, kurzfristig nicht behebbaren Arbeitslosigkeit die ohnehin überlasteten Sozialsysteme und die Stabilität der Gesellschaften bedroht. Diese Krise ist ein Teilaspekt der umfassenden Zivilisationskrise der westlichen Gesellschaften;

Zunahme eines ,regressiven Nationalismus‘ in (fast) allen Mitgliedsländern, der die Folge einer tiefen Verängstigung - hervorgerufen durch die problematischen Ergebnisse des Zivilisationsprozesses und durch äußere Bedrohungen wie der Migration - ist. Die Ängste verleiten dazu, wenn nicht Lösungen, so doch mindestens Abschirmung in einem Zurück zum Nationalen und zum Nationalstaat zu suchen;

sehr starke Inanspruchnahme und Schwächen nationaler Regierungen und Parlamente angesichts der erwähnten Probleme.“

Zwanzig Jahre später hat sich an der Problemlage nichts geändert. Man muss sogar sagen, dass sich die meisten Probleme in verschärfter Form als real herausgestellt haben. Schäubles Intervention, Griechenland aus dem Euro zu verabschieden, kann nur vor dem Hintergrund seiner damaligen Überlegungen verstanden werden. Er will Deutschland aus dem Euro in seiner heutigen Form holen, weil er weiß, dass dieses Konstrukt zum Scheitern verurteilt ist. Die New York Times irrt, wenn sie glaubt, einige deutsche Ökonomen hätten Schäuble zum Umdenken bewegt: Er kennt den Ausgang der falschen Entwicklung seit 20 Jahren.

Die EU befand sich damals in der Phase vor der Ost-Erweiterung und vor der Einführung des Euro. Für beide Perspektiven hatte Schäuble klare Lösungen – und sie unterscheiden sich sehr grundsätzlich von dem, was wir heute als politische Realität vorfinden.

Die Ost-Erweiterung ging für Schäuble einher mit einer echten Partnerschaft mit Russland und mit einer Emanzipation der Dominanz der USA, auch wenn sich Schäuble damals schon recht diplomatisch ausdrückte. Er erwartete, dass die Ost-Erweiterung „eine Herausforderung und Bewährungsprobe nicht nur für die materielle Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit, sondern auch des ideell-moralischen Selbstverständnisses der heutigen Mitglieder“ darstellen werde.

Schäuble zur Frage, wie sich die EU positionieren solle:

„Die Antwort der Union wird über ihre Fähigkeit und ihren Willen aussagen, der - neben einem wieder stabilisierten, demokratisierten Russland und im Bündnis mit den USA - maßgebliche Ordnungsfaktor des Kontinents zu sein.“

Schäubles konkreter Ansatz erscheint vor dem Hintergrund des der EU von den USA aufgezwungenen Konflikts mit Russland wegen der Ukraine als prophetisch:

„Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes muß eine stabile Ordnung auch für den östlichen Teil des Kontinents gefunden werden. Daran hat Deutschland ein besonderes Interesse, weil es aufgrund seiner Lage schneller und unmittelbarer als andere von den Folgen östlicher Instabilität betroffen wäre. Die einzige Lösung dieses Ordnungsproblems, mit der ein Rückfall in das instabile Vorkriegssystem und die Rückkehr Deutschlands in die alte Mittellage verhindert; werden kann, ist die Eingliederung der mittelosteuropäischen Nachbarn in das (west-)europäische Nachkriegssystem und eine umfassende Partnerschaft zwischen diesem und Russland.“

Schäubles Erfahrungen als direkter Beteiligter der Verhandlungen zur Wiedervereinigung haben ihn zu einem Russland-Versteher gemacht, wie man heute sagen würde. Er schreibt, „dass die Ostpolitik Deutschlands in der Geschichte im wesentlichen im Zusammenwirken mit Russland auf Kosten der dazwischen liegenden Länder bestand“. Um dies zu vermeiden, brauche es eine starke und handlungsfähige Europäische Union.

Und diese hätte, hätte man Schäuble zum alleinigen Architekten gemacht, ganz anders ausgesehen als die heutige EU – und insbesondere das immer konfliktreichere Nebeneinander von EU und Euro-Zone.

Die Euro-Zone wäre nach Schäubles Vorstellung zu einem Kern-Europa geworden. Schäuble schlug damals schon eine grundlegende Reform für alle EU-Institutionen vor. Er wollte das Europäische Parlament und die Subsidiarität in den einzelnen Staaten stärken: Das Parlament sollte demokratisch legitimierte Entscheidungen treffen. Sein Staatsverständnis war damals sehr liberal: Er wollte sicherstellen, dass der Staat nicht überbordend wird. Dazu sei zu klären, „ob öffentliche Hände, also auch die der Union, überhaupt bestimmte Aufgaben übernehmen oder sie gesellschaftlichen Gruppen überlassen sollen“.

Schäuble:

„Deutschland, auf dessen Wunsch das Subsidiaritätsprinzip in den Maastrichter Vertrag aufgenommen wurde und das über Erfahrung mit ihm verfugt, ist hier besonders gefordert, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie das Subsidiaritätsprinzip nicht nur auf künftige Maßnahmen der EU angewendet werden soll, sondern auch wie geltende Vorschriften an das Subsidiaritätsprinzip angepaßt werden sollen.“

Damit wäre den Staaten sozusagen „von unten“ Druck entstanden: Auf höherer Ebene sollte nur entschieden werden, was auf der jeweils untersten Ebene nicht entschieden werden kann. Die heutige EU ist ziemlich das Gegenteil dieser Vision, weshalb Schäuble auch nichts mit ihr anfangen kann.

Trotzdem war Schäuble klar, dass es für die übergeordneten Themen, und hier insbesondere für die Außen-, Sicherheits- und Währungspolitik eine integrierte Politik geben sollte.

Um diese auch gegenüber den Amerikaner und den Russen auch schlagkräftig zu machen, wollte Schäuble ein Kerneuropa. Damals wie heute scheute sich Schäuble nicht, die Dinge beim Namen zu nennen: Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande sollten den Kern bilden. Die deutsch-französische Achse sollte der Motor der Integration werden. Für Schäuble war im Hinblick auf den Euro klar, „dass die Währungsunion der harte Kern der Politischen Union ist (und nicht, wie in Deutschland oft verstanden, ein zusätzliches Integrationselement, das neben der Politischen Union steht)“.

Schäuble:

„Eine Währungsunion im vorgesehenen Zeitrahmen wird es - in Übereinstimmung mit der im Maastrichter Vertrag enthaltenen Alternative - voraussichtlich zunächst nur in einem kleineren Kreis geben - und im kleineren Kreis wird es sie nur geben, wenn der feste Kern der Fünf dies systematisch und mit starker Entschlossenheit vorbereitet. Zu diesem Zweck sollten sie ihre Geldpolitik, Fiskal- und Haushaltspolitik und Wirtschafts- und Sozialpolitik noch enger als bisher abstimmen bzw. mit der Abstimmung beginnen, so daß im Ergebnis eine gemeinsame, gleichgerichtete Politik in diesen Biereichen erreicht wird, und damit - unabhängig von den formellen Entscheidungen 1997 bzw. 1999 - bis dahin jedenfalls die faktischen Grundlagen für eine Währungsunion zwischen ihnen erreicht werden.“

Schäuble hat also bei seinem ursprünglichen Plan Italien ausdrücklich nicht als Teil des Euro gesehen. Und er begründete das fast wörtlich genauso, wie er den temporären Ausschluss Griechenlands aus dem Euro begründete:

„Die Kerneuropa-Gruppe muß prinzipiell allen EU-Mitgliedern - vor allem dem Gründungsmitglied Italien, aber auch Spanien und selbstverständlich Großbritannien - ihre uneingeschränkte Bereitschaft glaubhaft machen, sie einzubeziehen, sobald sie bestimmte derzeitige Probleme gelöst haben und soweit ihre Bereitschaft reicht, sich in dem beschriebenen Sinne zu engagieren. Die Bildung einer Kerngruppe ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel, an sich widerstreitende Ziele - Vertiefung und Erweiterung - miteinander zu vereinbaren.“

Schäuble war und ist der Überzeugung, dass nur diese politische Struktur der EU in der Lage sei, zwischen den Großmächten USA und Russland eine eigenständige Rolle zu spielen. Dies ist besonders deutlich an der Rolle der EU in der Nato zu erkennen: Schäuble schreibt, dass sich die Europäer selbst um ihre Verteidigung kümmern müssten und nicht in jedem Fall auf den „Beistand“ der USA warten sollten. Nur so könne erreicht werden, dass die EU die exklusive Dominanz der USA in der Nato überwinden:

„In der Perspektive bedeutet das die Umwandlung der NATO in ein gleich- gewichtiges Bündnis zwischen den USA und Kanada und Europa als handlungsfähige Einheit.“

Schäubles Konzept einer kleineren Euro-Zone mit gemeinsamer Währung und einheitlicher Wirtschaftspolitik war also primär geostrategisch gedacht: Nur eine handlungsfähige EU mit einer Euro-Zone als Kern sei in der Lage, mit Russland eine Partnerschaft für Osteuropa zu entwickeln und sich gleichzeitig – in aller Freundschaft – von den Amerikanern zu emanzipieren.

Schäuble wurde in mehreren Punkten von der Entwicklung überrollt: Der Euro startete mit all jenen Staaten, von denen Schäuble damals schon wusste, dass sie nicht zusammenpassen. Sein Kern-Europa war vor allem gegen die Mitgliedschaft Italiens und, etwas abgeschwächt, gegen Spanien gerichtet.

Die aktuellen Zahlen der Europäischen Zentralbank (EZB) geben Schäuble recht: Die EZB hat in den vergangenen zwei Jahren massiv Staatsanleihen von Italien und Spanien aufgekauft. Damit sich diese Länder weiter billig verschulden können, hat die EZB in diesem Zeitraum spanische und italienische Bonds in der Höhe von 1 Billion Euro aufgekauft. Diese stehen in der Bilanz der EZB und machen 45 Prozent des BIP der Euro-Zone aus – wesentlich mehr als die Zentralbanken Großbritanniens, der USA oder Japans. Auf diesem Weg sind de facto Eurobonds eingeführt, ohne dass es dazu den politischen Willen in Deutschland gegeben hätte. Für diese ungeheuren Summen haftet Deutschland zu 27 Prozent.

Daher ist Schäuble so alarmiert und versucht, mit Griechenland einen ersten Schnitt zu vollziehen. Er tut das nicht, weil er etwas gegen „die Griechen“ hätte. Dieser Eindruck könnte entstehen, wenn man die Ressentiments von Schäubles Parteikollegen hört. Nicht einmal seinem Schwiegersohn konnte Schäuble offenbar klarmachen, worum es ihm wirklich geht.

Schäuble will unbedingt die Reißleine ziehen, weil die viel größeren Gefahren aus Italien und aus Spanien kommen. In beiden Ländern war daher der Aufschrei auch besonders groß. Es ist allgemein bekannt, dass die Lage weder in Spanien noch in Italien besonders erfreulich ist. Zwar haben sich einige Wirtschaftsindikatoren verbessert, wie etwa der private Konsum. Doch der ist im wesentlichen kreditfinanziert. Der wichtigste Gegen-Indikator ist die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere bei den Jugendlichen. Die Arbeitslosigkeit hat sich in diesen Ländern ebenso wenig verbessert wie die Investitionen in die Wirtschaft. In beiden Ländern spielen die Regierungen auf Zeit, ohne im geringsten zu wissen, wie sie wirklich wieder aus dem Tal der Tränen herauskommen.

Die größte Enttäuschung für Schäuble dürfte die Entwicklung in Frankreich sein. Schäuble hatte bereits 1994 die Probleme benannt, hatte aber ein wichtiges Detail unterschätzt: Während der Delors-Bericht 1988 noch von einer Währungs- und Wirtschaftsunion sprach, kam es mit Maastricht nur zur gemeinsamen Währung. Die hat Frankreich in die Lage versetzt, kein einziges der von Schäuble benannten Probleme auch nur ansatzweise lösen zu müssen:

„Angesichts der Bedeutung der Währungsunion gerade für das deutsch-französische Verhältnis sollten - neben den Vorbereitungen im Kreis des harten Kerns - unterschiedliche Auffassungen Deutschlands und Frankreichs zu wesentlichen wirtschaftspolitischen Fragen ausgeräumt werden. Das gilt etwa für den Inhalt von ,Industriepolitik‘ und für das Wettbewerbsrecht. Eine Einigung auf ein europäisches Kartellamt wäre in diesem Zusammenhang sehr wünschenswert. Notwendig ist auch eine Diskussion über die langfristige Zielsetzung der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik und über die Grundzüge der künftigen Finanzverfassung der Union.“

Großbritannien genoss schon damals die höfliche Skepsis von Schäuble. Vor allem dürfte Schäuble, der Politiker und Jurist, die Macht der Finanzindustrie aus dem angelsächsischen Raum unterschätzt haben. Sie hat in der Schuldenkrise als geschäftstüchtiger Brandbeschleuniger gewirkt. Die FT hat vor einigen Jahren aufgezeigt, die etwa die spanische Immobilienkrise aus der Londoner City geradezu generalstabsmäßig angefacht wurde. Dass ausgerechnet die damals noch angesehene Investment-Bank Goldman Sachs dazu beitragen würde, dass Griechenland mit einer glatten Zahlen-Fälschung in den Euro kommen könnte, lag jenseits der Vorstellungskraft des soliden schwäbischen Politikers.

Auch die Demokratisierung Russlands dürfte hinter Schäubles Erwartungen zurückgeblieben sein. Er dürfte auch unterschätzt haben, wie schnell und skrupellos sich die global ausgerichtete Finanzindustrie in Russland heimisch fühlen würde, weil sie in einer in Zügen autoritären und für Korruption anfälligen politischen Kultur besonders profitabel agieren kann.

Außerdem hat Schäuble vermutlich nicht damit gerechnet, dass die US-Regierung im Verbund mit den US-Konzernen versuchen könnte, Europa – insbesondere Osteuropa – zum Zentrum einer geopolitischen Aggression machen könnte, deren verheerende Folgen zur Destabilisierung der Ukraine zu einer Zerrüttung des Verhältnisses mit Russland führen würde. Die Destabilisierung von Libyen und Syrien hat die von Schäuble damals schon als Problem erkannte Flüchtlingsfrage schließlich so dramatisch verschärft, dass die europäische Solidarität vollends erodierte. Zumindest hinter der Eskalation in der Ukraine könnte die Absicht der US-Administration stehen, eine Achse zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. 

Ob Schäuble das Rad der Zeit zurückdrehen kann, kann nicht beurteilt werden. Die Lage ist in Europa weitgehend außer Kontrolle. Dass Schäubles Intervention „gegen“ Griechenland einen ekelhaften Nationalismus fast überall in Europa zum Vorschein bringen würde, hat Schäuble sicher nicht gewollt. Er dürfte es jedoch geahnt haben, hat es aber in Kauf genommen, weil er die gesamte Dimension der europäischen Schulden-Katastrophe ganz genau kennt.

Der Preis für seine Intervention ist hoch. Ob es ihm kommende Generationen danken werden oder ihn deshalb verfluchen, ist eine völlig offene Frage.


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