Andreas Rinke von Reuters berichtet von einem historischen Eklat zwischen CDU und CDU, der das Verhältnis der Parteien vermutlich noch lange beeinträchtigen wird:
Als Angela Merkel am Freitagabend in München auf der Bühne in der Messehalle C1 vom Rednerpult zurücktritt, wirkt sie nicht wie die mächtigste Frau der Welt. Nach dem dünnen Applaus der CSU-Delegierten erinnert die erkältete Kanzlerin eher an eine Schülerin, die gespannt auf das Urteil ihres Lehrers wartet. Geduldig steht sie da, bis Gastgeber Horst Seehofer in der Pose des politischen Oberlehrers gemächlich heran schreitet.
Und als der CSU-Chef bei der Eröffnung des Parteitags das Wort ergreift, wirkt Merkels Auftritt vor den bayerischen Kritikern ihrer Flüchtlingspolitik gar wie eine Vorladung. Denn während die schweigende Kanzlerin erst die Hände, dann die Arme verschränkt, doziert Seehofer über seine Vorstellungen des Einmaleins der Politik, etwa wie man in der Flüchtlingskrise das Vertrauen von Wählern erhält. Das wirkt so, als ob sich die Physikerin gerade an der Erklärung der Relativitätstheorie versucht habe - aber nach Meinung ihres Lehrers nicht einmal die Grundrechtenarten verstanden habe.
Die ganze Dramaturgie der CSU ist auf diesen Vorführeffekt angelegt. Seehofer will sich am Samstag schließlich mit einem guten Ergebnis als CSU-Chef wiederwählen lassen. Da passt die demonstrative Distanz zur CDU-Vorsitzenden, der man gerade im vom Flüchtlingszustrom besonders gebeutelten Bayern jede Form von "Willkommenskultur" übelnimmt - obwohl dieser Ausdruck eigentlich erst durch die Bilder vom freundlichen Empfang der Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof um die Welt ging. Deshalb darf die Kanzlerin, die am Sonntag zehn Jahre im Amt ist, zwar mit der üblichen dramatischen Trommelmusik in die Halle einziehen. Aber Merkel, der die Anspannung anzusehen ist, muss alleine zum Vorsprechen auf die Bühne für ihre 20-minütige Rede.
Schon bei ihr stehen die Zeichen auf Konfrontation. Auf keinen Fall will Merkel Seehofer eine Unterwerfung in der Flüchtlingspolitik liefern. Natürlich arbeite auch sie daran, dass die Zahlen sinken. Aber nationale Obergrenzen für die Aufnahme lehnt sie weiter ab. Statt dessen mahnt die Kanzlerin die CSU, mit ihrem alleinigen Blick auf nationale Maßnahmen das große Ganze, nämlich Europa nicht zu vergessen - und das Erbe Helmut Kohls nicht zu verraten. "Deutschland ist unser Vaterland, Europa ist unsere Zukunft - egal, wie sehr uns das manchmal auch nervt", wandelt sie einen Kohl-Spruch für die CSU-Klientel vor ihr ab, die traditionell besonders gerne auf die EU schimpft. Letztlich lautet die Mahnung der Frau, die auf der Weltbühne agiert: Denkt bitte nicht zu provinziell.
Doch das kommt bei der CSU nicht gut an. Man will Zusagen hören, dass der Flüchtlingszustrom schnell abebbt. Jedenfalls zieht Seehofer alle Register der politischen Rhetorik, um Merkel bloßzustellen: Erst lobt er sie für zehn Jahre Kanzlerschaft - also für die Vergangenheit, die in der Politik nie zählt. Dann folgt der süffisante Hinweis, dass Bundesinnenminister Thomas de Maiziere Bayern ausgerechnet an diesem Freitag mehr Bundespolizisten und ein Ausbildungszentrum der Polizei in Bamberg spendiert hat. Seehofer sagt dies so, als ob Merkel sich gute Stimmung erkaufen wollte.
Und wie immer, wenn der CSU-Chef sagt, er wolle jetzt keinen Streit, holt er genau dann die Keule heraus. Er spricht der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise kurzerhand ab, noch nationale Interessen zu vertreten. Unions-Granden habe immer ausgezeichnet, dass sie internationale Verantwortung mit der Vertretung nationaler Interessen verbunden hätte. Da schwingt für alle der unausgesprochene Satz mit: "Du, Angela, tust das nicht." Seehofer fühlt sich oben auf, weil er gerade erst vor einer Woche bei der CDU-Sachsen vermittelt bekam, dass auch in Merkels Partei viele wie er denken. Seehofer fühlt sich als Antreiber der großen Koalition.
Aber die CDU-Chefin hat sichtlich vor, sich bei der kleinen Schwesterpartei nicht provozieren zu lassen. Sie setzt während des 13-minütigen Seehofer-Auftritts ihre Pokermine auf, die sie früher auch schon Politikern wie SPD-Kanzler Gerhard Schröder oder Wladimir Putin zeigte. Nur als Seehofer auch noch indirekt mit einem Bruch der Zusammenarbeit von CSU und CDU droht, wenn die Kanzlerin nicht auf seine Forderung nach "Obergrenzen" eingeht, zuckt ihre Augenbraue nach oben. Als er sie scherzhaft mit der Bemerkung verabschiedet, wenn sie sich um Einigung bemühe, "bist du wieder herzlich eingeladen", gibt es den Ansatz eines Schulterzuckens.
Dann ist die Show vorbei. Unter dünnem Applaus erhält die Kanzlerin einen Blumenstrauß und darf nach Berlin zurückfliegen. Und man kann nur ahnen, dass dieser Auftritt das Verhältnis Merkel-Seehofer noch lange prägen wird.