Politik

Nachrichtensperre: Rätselhafter Terror-Anschlag von Istanbul

Lesezeit: 2 min
12.01.2016 23:57
Über den Terror-Anschlag von Istanbul wurde von der türkischen Regierung eine Nachrichtensperre verhängt. Für einen derart spektakulären Anschlag im Herzen Istanbuls ist die Nachrichtenlage ungewöhnlich dünn. Die Erklärungen der Türkei sowie kursierende gefälschte Fotos tragen nicht dazu bei, den Tod von acht Deutschen aufzuklären.
Nachrichtensperre: Rätselhafter Terror-Anschlag von Istanbul
Ein Reinigungswagen fährt nach dem Anschlag im Sultanahmet Bezirk auf, unweit des Anschlags. (Foto: EPA/SEDAT SUNA)

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Unmittelbar nach dem Terror-Anschlag in Istanbul teilte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit, dass es sich bei dem beim Anschlag ums Leben gekommenen Attentäter um ein 1988 in Syrien geborenes Mitglied der Terror-Miliz des IS gehandelt habe. Erdogan stellte diese ungewöhnlich schnelle Erkenntnis als Faktum dar, ohne eine Quelle zu nennen. Unabhängige Bestätigungen liegen nicht vor.

Die türkische Nachrichtenagentur DHA meldet, allerdings auch ohne überprüfbare Quellen, der Attentäter stamme aus Saudi-Arabien.

Update: Am Mittwoch gab die Türkei überraschend die Verhaftung von drei Russen bekannt. 

In Deutschland bestärkt die ARD die These Erdogans und geht sogar noch weiter: Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik bezeichnet in einem Brennpunkt „die Version eines IS-Attentäters“ als „glaubhaft". Die ARD weiter: „Für Seufert ist sogar ein Bezug zu den gewaltsamen Übergriffen auf Frauen in Köln denkbar. Denn der IS wolle Ressentiments in der deutschen Gesellschaft schüren.“

Die Türkei verhängte nach dem Anschlag eine Nachrichtensperre. Der Platz im Touristenviertel Sultanahmet wurde abgesperrt. Die Fotos, die über die Nachrichtenagenturen liefen, zeigen Polizei und Absperrbänder sowie einige Touristen. Die Zeitung Haberturk veröffentlich eine Liste, auf der angeblich die Namen der Opfer stehen sollen. Die anderen türkischen Zeitungen berichten auffällig wenig, was mit der Nachrichtensperre zusammenhänge könnte. Auch die dpa wurde bei der Arbeit behindert: Zur Begründung teilte die Medienaufsicht RTÜK mit, ein solcher Schritt sei laut Gesetz möglich, wenn er der „nationalen Sicherheit“ diene. Eine dpa-Reporterin wurde von Polizisten daran gehindert, in der Umgebung des Anschlagsortes Fotos zu machen. Die Reporterin berichtete vor Ort von zahlreichen Polizisten sowie Rettungskräften.

Bereits am Nachmittag kamen Fotos in die Agenturen, die Reinigungskräfte und einen Reinigungswagen zeigten, der mit Wasser den Platz säuberte. Es ist eher ungewöhnlich, dass anstelle einer umfassenden Spurensuche Reinigungskräfte am Tatort auftauchen und die Arbeit aufnehmen.

Ebenfalls seltsam: Ein Foto, das einen Fotografen zeigt, der eine Familie in der Nähe des Anschlags zeigt. Das Foto wurde, so die Angaben der Agentur nach dem Anschlag aufgenommen:

Der Berliner Tagesspiegel brachte ein erstes angebliches Foto vom Anschlag. Der Tagesspiegel brachte das Foto mit der Bildunterschrift: „Ein Tourist hat per Zufall die Explosion in Istanbul mit seinem Handy gefilmt.“

Danach kursierte rasch das Foto über Twitter:

Das Foto, von dem sogar die Bild-Zeitung einschränkend schreibt, dass es sich die Explosion zeigen „soll“, ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Fotomontage. Unmittelbar vor dem „Feuerball“ steht, deutlich sichtbar, eine Gruppe von Menschen, die von der Explosion völlig unbeeindruckt ist. Die Bild ist mit dem Ukraine-Kriegsreporter Paul Ronzheimer in Istanbul vertreten, der zufällig bereits wenige Stunden nach dem Anschlag vom Tatort berichtete. Der türkische Geheimdienst MIT hatte schon seit Tagen vor einem Anschlag gewarnt und auch darauf hingewiesen, dass Touristen und Nato-Einrichtungen getroffen werden könnten.

Das Foto ist auf Twitter noch einmal aufgetaucht:

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Hier erkennt man einen Rahmen um das Foto. Das erste Twitter-Bild wurde von dem gerahmten Bild gemacht, wie man noch am rechten Bildrand erkennen kann. Das sieht man auch auf dem ursprünglichen Foto, welches ein Analysten des US-Beratungsunternehmen Wikistrat von einem Hassan Ridha bekommen hat. Dieser ist, seinen Tweets zufolge, offenkundig in Syrien auf Seiten von Rebellen tätig. Ridha hat nach der Explosion einen Artikel der Slemani Times retweetet, der einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag und den türkischen Plänen in Syrien herstellt:

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Einige Bilder von Nachrichtenagenturen zeigen Fotos von auf dem Boden liegenden menschlichen Körpern, die laut Bildunterschriften Opfer des Anschlags sein sollen. Ob es sich dabei um die Mitglieder der deutschen Reisegruppe handelt, kann nicht festgestellt werden:

Über ein Opfer berichtet die Bild-Zeitung, dass es sich im einen 59-jährigen Norweger namens Jostein Nielsen handeln soll, der Offizier der Heilsarmee ist. Die Zeitung beruft sich auf den norwegischen Sender TV2. Es ist nicht klar, wo der Mann stand. Die Bild schreibt, der Mann „wurde bei der Explosion in Istanbul so schwer verwundet, dass er eine Knie-Operation braucht“. Er „besichtigte mit seiner Frau Magna Våje Nielsen die Sehenswürdigkeiten in dem Bezirk, als sich der Selbstmordattentäter in die Luft sprengte“.

Und weiter:

„Ich habe einen Knall gehört“, sagte Nielsen dem norwegischen Sender „TV2“. „Danach ging es richtig los. Mein Knie hat den Geist aufgegeben.“ Doch die Ärzte seien zuversichtlich, dass „ich wieder in der Lage sein werde zu laufen.“ Der Tatort – ein Platz des Grauens: „Es gab menschliche Überreste auf dem ganzen Platz.“

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier teilte am Abend mit, dass acht Deutsche bei dem Anschlag getötet worden seien.

Am Nachmittag teilte der Geschäftsführer, Marco Scherer, der Lebenslust Touristik mit, dass möglicherweise Tote und Verletze aus einer 33 Personen umfassenden Reisegruppe seines Unternehmens zu den Opfern gehören. Er berief sich auf die Nachrichtensperre und sagte dass „zwei Geschäftsführer“ des Unternehmens mit Seelsorgern und einem „Help-Team“ bereits in Istanbul seien. Scherer sagte, es gäbe „keine verlässlichen Informationen“ über die Tatsache, ob sein Unternehmen wirklich betroffen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hat offenbar keiner der Mitreisenden den Veranstalter in Deutschland informiert, ob man betroffen oder in Sicherheit sei.

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Das Unternehmen Lebenslust Touristik bietet nach eigenen Angaben Reisen für die Zielgruppe der älteren Menschen („beste Jahre“) an. Zwei der Geschäftsführer sind gleichzeitig Geschäftsführer einer Werbeagentur. Auf HolidayCheck gibt es mehrere Kommentare zu Reisen des Unternehmens.

Später am Abend meldet die dpa:

Die Opfer des Anschlags in Istanbul waren nach Angaben des Reiseveranstalters Lebenslust Touristik auf einer Drei-Länder-Erlebnisreise und kamen aus dem gesamten Bundesgebiet. Insgesamt zählte die Reisegruppe 33 Mitglieder, wie der Sprecher des Reiseunternehmens, Ingo Leßmann von der sk-medienconsult, der Deutschen Presse-Agentur am Dienstagabend sagte.Ein Teil dieser Reisenden habe an einem Gruppenbesuch der Wahrzeichen Istanbuls teilgenommen. Auf dieser Tour lag auch der Anschlagsort in der Nähe der Hagia Sophia und der Blauen Moschee. Andere Urlauber hätten ein individuelles Programm absolviert. Wieviele Reisende an der Gruppenveranstaltung teilgenommen hätten, sei noch nicht klar, sagte Leßmann.

Die Drei-Länderreise umfasse Istanbul, Dubai und Abu Dhabi. «Die Reisegruppe sollte von Istanbul über Dubai nach Abu Dhabi reisen», sagte Leßmann. In der türkischen Metropole seien die Urlauber am Montag angekommen. Die Weiterreise nach Dubai sei für den Mittwoch geplant gewesen.

Unter den acht deutschen Todesopfern des Anschlags in Istanbul ist nach Angaben der Potsdamer Landesregierung auch ein Ehepaar aus Brandenburg. Zwei 71 und 73 Jahre alte Eheleute aus Falkensee bei Berlin seien umgekommen, sagte Regierungssprecher am Dienstagabend Andreas Beese der Deutschen Presse-Agentur. Nach Informationen der «Berliner Zeitung» soll unter den Todesopfern auch ein Urlauber aus Berlin sein. Zudem seien eine Frau aus Berlin schwer, ein weiterer Mann aus Berlin leicht verletzt worden, schreibt das Blatt (Online).

Unter den mindestens acht deutschen Todesopfern des Anschlags in Istanbul sind auch zwei Männer und eine Frau aus Rheinland-Pfalz. Dies teilten Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Innenminister Roger Lewentz am Dienstag mit. Den Informationen der Sicherheitsbehörden zufolge sei zudem eine weitere Frau aus Rheinland-Pfalz verletzt worden. «Unsere Gedanken sind jetzt bei den Angehörigen der Opfer. Wir verurteilen diesen abscheulichen Terroranschlag auf das Schärfste», erklärte Dreyer.

Die BZ berichtet von zwei möglichen Opfern aus Köpenick:

Ein Ehepaar, das offenbar zu den Toten in Istanbul gehört, wohnt in Köpenick. Die Nachbarn sind entsetzt: „Die Familie G. hat mir vor der Reise ihren Briefkastenschlüssel gegeben und ich habe ihnen beim Abschied noch gesagt: ‚genießen sie es!‘ Es ist so fürchterlich“, sagt eine ältere Dame, die anonym bleiben möchte.

Aussagen von Überlebenden aus der Berliner Gruppe lagen am Dienstagabend nicht vor.

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