Politik

Falsche Feindbilder: Ohne Migranten hat Europa keine Chance

Lesezeit: 8 min
24.06.2018 01:17
Die Europäer sollten, statt Kriege auf der Welt zu führen und immer neue Feindbilder aufzubauen, eine pragmatische Einwanderungspolitik etablieren.

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Wenn in diesen Tagen ein Treffen der europäischen Spitzenpolitiker zum Thema Zuwanderung dem anderen folgt, dann geht es in erster Linie um die Errichtung von Mauern gegen einen vermeintlich gefährlichen Ansturm von außerhalb der EU. In der politischen Praxis ist die Suche nach Feindbildern extrem ausgeprägt und man muss nicht sehr die Psychologie strapazieren um den Grund zu erkennen. Die EU befindet sich in einer existenziellen Krise und da hilft der Versuch, den Zusammenhalt durch die Abwehr einer Gefahr von außen zu stärken. Die Bedrohung durch Flüchtlinge ist ein willkommenes Szenario.

Ohne Zuwanderung ist Europa nicht lebensfähig

Im Gepäck der Teilnehmer an dem Tagungs-Tourismus gegen Flüchtlinge fehlt allerdings der jüngste „International Migration Report“ der UNO, in dem sich ein entscheidender Hinweis befindet: Ohne Zuwanderung wäre die Bevölkerung in Europa bereits in der Periode 2010 bis 2015 geschrumpft. Die aktuelle Migration, wobei der Bericht auch die Daten für das Jahr 2017 berücksichtigt, ist nicht in der Lage einen Rückgang der Einwohnerzahl aufzuhalten. Die Entwicklung werde bereits in der Periode 2020 bis 2025 dramatische Dimensionen erreichen, wenn keine aktive Einwanderungspolitik betrieben wird. In den USA, wo seit kurzem ebenfalls gebremst wird, ist der Effekt der aktuellen Politik erst ab 2040 zu spüren, weil in den vergangenen Jahren in großem Umfang, Ausländer aufgenommen wurden.

Die Nachricht, dass die Bevölkerung ohne Migration schrumpft, mag viele nicht erschüttern. Schließlich wird von der Politik gerne eine Wohlfühlillusion gepflegt, Hinweise auf Probleme beschwichtigt man mit dem Satz „Aber ja, wir jammern auf hohem Niveau!“ Tatsache ist aber, dass die Geburtenrate in Europa bei 1,6 Kindern je Frau liegt und dieser Wert zudem nur durch die meist kinderfreudigeren Ausländer gestützt wird. In der Euro-Zone beträgt der Wert sogar 1,58. Man übersieht: Nur bei zwei Kindern je Frau bleibt die Einwohnerzahl stabil. Fazit: Man kann sich leicht ausrechnen, dass sehr bald in der EU die Älteren überwiegen und die Jungen zur Minderheit werden. Auch in diesem Zusammenhang bietet der UNO-Bericht eine wichtige Information: 74 Prozent der Migranten weltweit sind zwischen 20 und 64, also im arbeitsfähigen Alter.

Wenn die EU eine Wohlfühlzone bleiben soll, dann braucht es die jungen Immigranten, die die Arbeitsplätze besetzen, Dynamik in die Unternehmen bringen, Steuern und Sozialbeiträge erwirtschaften und nicht zuletzt die Rentner versorgen. Der heutigen Bevölkerung einzureden, man könne getrost Mauern um die EU hochziehen und die Zuwanderer abwehren, bedeutet in der Praxis, die Alterssicherung der jetzt Aktiven zu gefährden. Auch ein plötzlicher Baby-Boom könnte das Problem nicht lösen, da das Problem schon in wenigen Jahren akut wird.

Beim Jonglieren mit Millionen, die Europa stürmen, gehen die Daten unter

Die politische Rhetorik vermittelt das Gegenteil der Realität: Man redet von Millionen Flüchtlingen, die nach Deutschland und Österreich im Gefolge der bisher betriebenen und neuerdings verschmähten Willkommenspolitik "eingedrungen" wären.

- In Deutschland leben derzeit 700.000 Syrer und in Österreich sind es weniger als 50.000

- Die Zahl der Afghanen beträgt in Deutschland 250.000 und in Österreich 46.000.

- Zu berücksichtigen sind auch noch die ebenfalls als Bedrohung angesprochenen Tschetschenen, die als russische Staatsbürger schwer statistisch erfassbar sind, eine kleinere Zahl darstellen, aber als gewaltbereiter gelten als die anderen Gruppen.

- Somit geht es um insgesamt etwa 1,1 Million Personen, also um 1,2 Prozent der 91 Millionen Einwohner von Deutschland und Österreich zusammengerechnet.

- Auch der Flüchtlingszuzud ergibt überschaubare Daten. Nach Deutschland, dem Hauptziel der Migranten, kamen:

- 890.000 im Jahr 2015

- 280.000 im Jahr 2016

- 187.000 im Jahr 2017.

- Somit 1,375.000 Personen, also 1,67 Prozent der Bevölkerung Deutschlands. Der geringe Anteil ist auch der Grund dafür, dass die meisten Bundesbürger die Flüchtlinge im Alltag nicht sehen. Durch die Politik und die mediale Berichterstattung werden die Flüchtlinge aber zur zwar unsichtbaren, aber ständigen, mächtigen Gefahr.

- Die geschilderten Daten sind auch die Grundlage für die Aussage der UNO, dass die Fortsetzung der bisherigen Immigration nicht genügen wird, um die Schrumpfung der Bevölkerung zu verhindern und daher eine stärkere Zuwanderung notwendig ist.

Man müsste meinen, dass eine Zuwanderung im Ausmaß von 1,67 Prozent für ein Land wie Deutschland verkraftbar sein sollte. Dieser Hinweis auf den geringen Anteil wird von den Bekämpfern der Flüchtlinge abgetan und in etwa der Eindruck vermittelt, es handle sich hier nur um Verbrecher, die die Sicherheit des Landes gefährden. Dass davon nicht die Rede sein kann, zeigen die Kriminalstatistiken der beiden Länder, die nach einem starken Anstieg der Straftaten nun eine Beruhigung ausweisen. Offenbar ist es den Behörden gelungen, mit den Herausforderungen besser fertig zu werden.

Die Daten der Kriminalstatistik würden die Basis für eine realistische Politik liefern

Generell gilt, dass auch unter den Flüchtlingen, wie auch unter der Stammbevölkerung, nur eine Minderheit kriminell und gewaltbereit ist. Dass dieser Umstand keine Bagatellisierung des Problems erlaubt, ist deutlich zu unterstreichen. Polizei und Justiz sind gefordert. Genauso zu betonen ist aber, dass die gesamte Ausländer-Politik nicht als Verfolgung von Kriminellen konzipiert werden darf.

- In Deutschland wurden 2017 insgesamt von Deutschen und Ausländern 5,58 Millionen Straftaten verübt, es kam gegenüber 2016 zu einem Rückgang um 302.679.

- Die Tatbestände unerlaubte Einreise und unerlaubter Aufenthalt bleiben hier ausgeklammert, da sie keine unmittelbare Bedrohung der Bevölkerung darstellen.

- Die Polizei ortete 1,970.000 Tatverdächtige, um 48.000 weniger als 2016.

- Die Zahl der Verdächtigen mit nicht-deutschem Pass sank um 17.000 auf 599.357 Personen. Der Anteil an der Gesamtzahl blieb mit 30,5 Prozent etwa gleich.

- Insgesamt leben in Deutschland über 10 Millionen Menschen mit nicht-deutschem Pass. 600.000 Verdächtige sind also 6 Prozent der Ausländer, die benützt werden um auch die übrigen 94 Prozent als gefährlich zu bezeichnen.

- Statistiken lassen sich auf die verschiedenste Weise interpretieren. Nur 6 Prozent der Ausländer waren 2017 tatverdächtig. Oder: Von den Tatverdächtigen waren 30 Prozent Ausländer, während nur knapp 13 Prozent der Bevölkerung Ausländer sind, sodass sich eine hohe Quote errechnet.

- Aus dem Kreis der Flüchtlinge kamen 167.368 Verdächtige, um 7.170 weniger als 2016. Diese sind zu den etwa 1,4 Millionen im Fadenkreuz der Politik stehenden Zuwanderern in Relation zu setzen, womit sich eine nicht zu vernachlässigende Quote von 12 Prozent errechnet. Aber: 88 Prozent haben sich nichts zuschulden kommen lassen.

Zur Orientierung dienen die Zahlen der größten in Deutschland lebenden Ausländer-Gruppen:

- 1,480.000 Türken

- 870.000 Polen

- 700.000 Syrer

- 640.000 Italiener

- 620.000 Rumänen

- 370.000 Kroaten

- 360.000 Griechen

- 310.000 Bulgaren

- 250.000 Afghanen

- 250.000 Russen

Hier fällt auf, dass viele EU-Bürger die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Union nützen und in Deutschland ihren Wohnsitz haben. Auch die Deutschen arbeiten gerne im EU-Ausland, sie stellen mit Abstand beispielsweise die größte Gruppe der in Österreich lebenden Ausländer.

Der Anteil von 30 Prozent der Ausländer an allen Tatverdächtigen veranlasst manche Politiker und Analysten nicht nur die Bekämpfung der Zuwanderung durch die Flüchtlinge zu betreiben, sondern generell eine Behinderung der Immigration zu fordern. Auch innerhalb der EU ist diese Tendenz zu beobachten, wobei die kürzlich erfolgte Verschärfung der EU-Richtlinie über die Entsendung von Arbeitskräften in diese Richtung weist.

Die Niederlassungsfreiheit stellt nicht nur ein Fundament der EU dar, die Ausländer sind unverzichtbare Arbeitskräfte in zahlreichen Branchen. Jede Behinderung bedeutet einen unmittelbaren wirtschaftlichen Schaden für viele Betriebe insbesondere in Deutschland und in Österreich. Abgesehen von der Langzeitwirkung, wenn die Ausländer die demoskopische Lücke durch die geringe Kinderzahl nicht auffüllen.

Fazit: Im ureigenen Interesse der EU-Staaten ist die Zuwanderung zu fördern. Es ist kontraproduktiv, wenn das französische Parlament in diesen Tagen ein Gesetz zur Einschränkung der Zuwanderung beschließt, wenn die österreichische Regierung im Zusammenwirken mit Bayern und Ungarn aus der EU eine Festung machen will. Es geht um eine konstruktive Politik.

Die Elemente einer konstruktiven Ausländerpolitik

- Man muss die Polizei ihre Arbeit machen lassen und sie dabei umfassend unterstützen. Selbstverständlich sind alle Flüchtlinge mit den modernen Erkennungsmethoden zu registrieren und ihre Lebensläufe nach Möglichkeit zu erfassen. Selbstverständlich sind Kriminelle zu bestrafen.

- Entscheidend ist aber der Arbeitsmarkt: Nur eine großzügige Möglichkeit, einer regulär bezahlten Beschäftigung nachzugehen, verhindert die Kriminalität vor allem unter den jungen Ausländern. Da ist Deutschland angesichts der niedrigen Arbeitslosigkeit in einer besseren Lage als andere Länder, doch gilt überall: Jugendliche, die nicht arbeiten dürfen, neigen zur Kriminalität.

- Ebenso notwendig ist die Aufnahme der Jugendlichen in das Schulsystem, um das Erlernen der Sprache und das Absolvieren einer Berufsausbildung zu ermöglichen.

- Von zentraler Bedeutung ist ein Bereich, der europaweit auch bei den inländischen Kindern vernachlässigt wird und bei In- und Ausländern dringend forciert gehört: Die Staatsbürgerkunde, die Kenntnis der wichtigsten Elemente der Menschenrechtskonvention, die Grundlagen der Demokratie, das Verstehen der Bürgerrechte und des Wahlsystems bilden die Voraussetzungen für ein Funktionieren der Gesellschaft.

- Wesentlich ist das Vermitteln der klaren Trennung zwischen Staat und Religion, die Betonung, dass Religionsfreiheit ein Grundrecht ist, dass aber Religion Privatsache ist.

- Im Rahmen der Religionsausübung oder in der Organisation von Familien-Clans dürfen keine Gerichtsverfahren und Bestrafungen vorgenommen werden. Dies ist ausschließlich Sache des Staates.

- Religiöse Zentren, in denen gegen die Demokratie gepredigt und eine eigene Justiz betrieben wird, etwa im Islam nach den Regeln der Scharia, sind zu schließen. EU-weit müssten die entsprechenden, gesetzlichen Bestimmungen im Sinne der wehrhaften Demokratie verbessert.

- Diese Elemente müssen vermittelt und als Voraussetzung für den Verbleib im Land definiert werden.

Mit einer realistischen Grundeinstellung, die die Notwendigkeit der Immigration betont, Ausländern positiv begegnet, aber nicht die Augen vor den Problemen und den Notwendigkeiten verschließt, sollte eine konstruktive Politik möglich sein. Den Mittelweg zwischen einer unkontrollierten Zuwanderung und der Errichtung von Mauern gibt es, wie andere Länder beweisen, wobei hier nur als Beispiel auf Kanada verwiesen sei.

- Statt nun in der EU Milliarden, die Rede ist von 36 Mrd. Euro, für den Grenzschutz auszugeben,

- sollten dringend staatliche Zentren in allen Ländern errichtet werden, die sich um die Aufnahme der Flüchtlinge kümmern, beim Ankommen die Identität feststellen und in der Folge kontrollieren, ob die Zuwanderer entsprechend den Regeln handeln um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen.

- Diese Zentren wären, ausgestattet mit den erforderlichen, gesetzlich abgesicherten Vollmachten ausgestattet, für die Asylverfahren zuständig und sollten für eine ordnungsgemäße Zuwanderung sorgen und nicht als Abwehrstellen fungieren.

Die Dublin-Verordnungen sind ersatzlos zu streichen

Die üblen Wirkungen der Dublin-Verordnungen kann man getrost als zynisch bezeichnen. „Flüchtlinge sind Sache jener Länder, an deren Grenze sie die EU betreten.“ Das bedeutet, dass 26 Mitgliedstaaten das Problem in erster Linie Italien und Griechenland aufbürden wollen.

Um diese schäbige Politik zu beenden, müssten die Dublin-Verordnungen ersatzlos gestrichen werden. Das Gegenteil geschieht: In Brüssel wird daran gearbeitet, die Regeln im Sinne der Abwehr aller Flüchtlinge zu verschärfen.

Es müsste Sache der einzelnen Mitgliedstaaten der EU sein, Asylanträge von den Personen entgegenzunehmen, die sich im betreffenden Land aufhalten, und für die weiteren Schritte zu sorgen. Dies bedeutet angesichts der Haltung einiger Länder ohnehin keine positive Perspektive für die Flüchtlinge. Die Regierungen könnten sich aber nicht mehr mit dem Hinweis auf „Dublin“ der Verantwortung entziehen.

Der Zynismus endet nicht an den Grenzen der EU

Der Zynismus endet aber nicht innerhalb der EU. Immer wieder taucht die Forderung auf, man möge die Ursprungsländer subventionieren, um die Probleme in der Heimat zu lösen und so den Flüchtlingszuzug zu verhindern. Verschiedentlich wird verlangt, in den Krisenländern Auffanglager zu errichten. Man nimmt nicht zur Kenntnis, dass Menschen ihre Heimat selten aus Lust am Abenteuer verlassen und auch vorwiegend in Nachbarstaaten flüchten, in der Hoffnung bald wieder in die Heimat zurückkehren zu können. In den Regionen herrscht Chaos, staatliche Armeen, ausländische Söldner, marodierende Banden, die von den verschiedensten Hintermännern finanziert werden, betreiben einen blutigen Krieg. Man flüchtet, um das nackte Leben zu retten. Gelder, die in diese Länder von der EU überwiesen würden, landen unweigerlich in den falschen Händen.

Hier ist auch eine historische Perspektive zu berücksichtigen. Die USA und Europa sind mitverantwortlich für das herrschende Chaos. Die Interventionen der vergangenen Jahre – von Afghanistan über den Irak bis zu Libyen – waren von dem durchaus positiven Bestreben getragen, die in diesen Ländern herrschenden, brutalen Diktatoren zu beseitigen. Allerdings folgte nicht eine blühende Demokratie, sondern die beseitigten Herrscher wurden durch zahlreiche andere, brutale Akteure abgelöst, die nun die Flüchtlingswellen auslösen.

In den meisten betroffenen Ländern fehlen die Voraussetzungen für die Errichtung von Demokratien nach westlichem Muster. Die USA und Europa haben versagt und hätten aber nun die Chance, mit einer konstruktiven Flüchtlingspolitik einen positiven Beitrag zu leisten: Viele Zuwanderer können für die Demokratie, den Rechtsstaat, die soziale Marktwirtschaft begeistert werden. Und viele werden eines Tages in ihr Land zurückkehren und dort Beiträge zum Aufbau offener Staaten leisten, also an jenem Ziel arbeiten, dass die Amerikaner und Europäer mit ein paar Bomben erreichen wollten. Diese Dimension geht in dem Parolen-Geschrei völlig unter.

Fazit: Die Flüchtlingspolitik würde ein umfassendes, differenziertes Konzept erfordern. Derzeit wird von zu vielen Politikern die Bekämpfung der Zuwanderung als Mittel missbraucht, um das Versagen in vielen anderen Bereichen zu kaschieren. Viele Bürger sind durch die tief greifenden Umwälzungen in allen Bereichen verunsichert und bereit. einen Sündenbock als Ursache allen Übels zu verteufeln. Am Ende leiden alle unter den Folgen einer gedankenlosen, mit Parolen agierenden, Scheinpolitik.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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