Ekrem İmamoğlu, Kandidat der Sozialdemokraten bei der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul, hatte sich bei der Wahl am 31. März mit einem Vorsprung von 24.000 Stimmen gegen seinen Kontrahenten von der Regierungspartei AKP, Binali Yıldırım, knapp durchgesetzt. Nach der Verkündung von İmamoğlus Wahlsieg - aber auch kurz davor - meldeten sich wie aus dem Nichts Politiker der “alten Garde” der Regierungspartei zu Wort.
Der ehemalige türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu, der ehemalige Präsident Abdullah Gül und der ehemalige Vizepremier und Staatsminister, Ali Babacan, äußerten ihre Unzufriedenheit mit der Politik der Regierungspartei, was auch von der internationalen Presse wahrgenommen wurde. Einige Beispiele:
Die Zeit titelte: “Erdoğans Konkurrenten lauern”.
Die New York Times verkündeten: “Erdoğans Partei wird durch den Vorstoß, die Wahlen zu wiederholen, tief gespalten”.
Al Arabiya schrieb: “Offene Konfrontation zwischen Erdoğan und Ex-Premier Davutoğlu”.
Der türkische Analyst Erol Mütercimler behauptet, dass Davutoğlu, Gül und Babacan sich auf die Gründung einer neuen Partei vorbereiten, um Erdoğan zu stürzen und sich als Alternative anzubieten. Mütercimler - der nicht zum Lager des türkischen Präsidenten gehört - kritisiert: “Ach, Guten Morgen, Herr Davutoğlu. Sie haben als Außenminister und Premierminister gedient. Sie sind verantwortlich dafür, dass die Türkei in den Syrien-Krieg hinein gerissen wurde. Es ist Ihnen zu verdanken, dass die Türkei immer noch in dieser Misere steckt. Schlimmer noch: Im Zusammenhang mit dem Syrien-Krieg haben sich die Probleme für die Türkei angehäuft” (mehr hier).
Mütercimler führt aus, dass Babacan gute Aussichten auf den Vorsitz der neuen Partei innerhalb des Regierungslagers habe. Er werde aber hauptsächlich mit Gül zusammenarbeiten.
Die “alte Garde” der AKP plant ein Comeback
Doch ist die “alte Garde” der Regierungspartei AKP eine wirkliche Alternative für die Türkei?
Gül war von 2007 bis 2014 Präsident der Türkischen Republik. Auf politischer Ebene wurden während seiner Amtszeit mehrere politische Prozesse gegen angebliche Putschisten geführt. Darunter befanden sich nicht nur Offiziere und Generäle, sondern auch Journalisten, Künstler, Parteivorsitzende und NGO-Mitarbeiter, die der AKP kritisch gegenüber standen. Mittlerweile ist belegt, dass die damaligen Prozesse Schauprozesse waren, die mit gefälschten "Beweisen" geführt wurden. Im Verlauf der Prozesse sind mehrere zu Unrecht Beschuldigte in den Gefängnissen verstorben. Andere wiederum, vor allem Offiziere, haben sich aus Scham das Leben genommen.
Abdullah Gül, der aktuelle türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Ahmet Davutoğlu und die führenden Köpfe (!) der Gülen-Bewegung verband damals eine seltsame Kumpanei, die auf dem Prinzip der Zerstörung aller säkularen und demokratischen Kräfte innerhalb des Militärs, der Medien und des öffentlichen Lebens basierte (mehr hier). An der Hexenjagd waren sie alle beteiligt. In der Anklageschrift des sogenannten Ergenekon-Prozesses hat es dem britischen Analysten Gareth Jenkins zufolge zahlreiche Absurditäten und Ungereimtheiten gegeben. Diese hat er in seinem Bericht “Between Fact And Fantasy: Turkey's Ergenekon Investigation” nachgewiesen.
Der ehemalige Generalstabschef İlker Başbuğ, der ebenfalls zu Unrecht angeklagt wurde und mittlerweile wieder auf freiem Fuß ist, gab im Februar 2019 bekannt, welche Gruppe die Gülen-Bewegung innerhalb des Militärs ausschließen wollte - nämlich Angehörige der religiösen Minderheit der türkischen Aleviten. “Wir haben beobachtet, dass die Priorität der FETÖ (Gülen-Bewegung, Anm. d. Red.) auf der ,Säuberung’ der Aleviten innerhalb des Militärs lag. Das war sehr gefährlich für den Bestand einer nationalen Armee. Die FETÖ hatte es in einer unbarmherzigen Art und Weise auf diese Sache abgesehen”, zitiert die Zeitung Hürriyet den ehemaligen ranghohen Militär.
Die zweite Gruppe, die innerhalb des Militärs entmachtet werden sollte, waren Offiziere, die sich für eine Allianz mit Russland und China aussprachen. Es ist fraglich, wie realistisch die Bildung einer derartigen Allianz gewesen wäre. Doch Prozesse mit gefälschten Beweisen zu führen, um unliebsame Meinungsvertreter zu entmachten, ist eines Rechtsstaats unwürdig.
Aus einer Depesche des US-Konsulats in Istanbul aus dem Jahr 2003, die von Wikileaks veröffentlicht wurde, geht hervor, dass es innerhalb des türkischen Militärs drei verschiedene Gruppen gebe. Die erste Gruppe setze sich aus Transatlantikern zusammen, die der Ansicht seien, dass die strategischen Interessen der Türkei nur mit einer Kooperation mit den USA und der NATO gesichert werden können. Die zweite Gruppe würde sich aus "rigiden Nationalisten" zusammensetzen, die sich der Notwendigkeit widersetzen, die Beziehungen zu den USA aufrechtzuerhalten. Die dritte Gruppe würde aus eben jenen genannten "Eurasiern" bestehen.
Die Türkei und die Person Ahmet Davutoğlu
Der ehemalige Außenminister Davutoğlu ist nach einem Bericht des türkischen Journalisten Mehmet Tezkan die treibende Kraft der türkischen Syrien-Politik gewesen. Davutoğlu ist ein vehementer Vertreter des sogenannten Neo-Osmanismus. Diese Idee beruht auf dem irrationalen Gedanken, das Osmanische Reich wiederbeleben zu lassen. Während seiner Amtszeit als Außenminister zwischen 2009 und 2014 setzte er sich für den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ein. Seine Ambitionen waren nicht in etwa geprägt von dem Gedanken, Syrien zu einem echten demokratischen Staat zu machen, sondern von eben jenen neo-osmanischen Macht-Ambitionen.
Die irrationalen Gedanken, die dieser Ideologie entstammen, verleiteten ihn nach Angaben des Blatts Gazeteport am 24. August 2012 im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Syrien zu folgender Prognose: “Diese schmerzhafte Phase in Syrien wird bald vorbei sein. Diese Phase wird nicht Jahre, sondern Monate oder Wochen andauern.” Doch nach sieben Jahren ist die syrische Regierung immer noch nicht gestürzt worden. Davutoğlus Prognose war offensichtlich falsch.
Im Februar 2018 sagte Davutoğlu im Gespräch mit TRT World: “Ich bereue nichts, was die Syrien-Politik angeht. Unsere Syrien-Politik ist seit sieben Jahren - nach wie vor - ehrlich, strategisch und gebunden an Prinzipien.” Diese Aussage zeigt, dass Davutoğlu sich nicht geändert hat (mehr hier).
Im November 2015 schoss die türkische Luftwaffe in der türkisch-syrischen Grenzregion ein russisches Flugzeug des Typs Su-24 ab. Der Abschuss brachte die Türkei und Russland an den Rande des Krieges. Davutoğlu sagte nach dem Abschuss: “Den Befehl für den Abschuss habe ich persönlich gegeben.” Er hatte sich damals Solidarität von der NATO erhofft. Die NATO hielt sich aber bedeckt. Davutoğlus Rechnung ging nicht auf (mehr hier).
Die beiden anderen Politiker der “alten Garde”, Gül und Babacan, sind Vertreter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Die KESK, die ein Zusammenschluss der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst ist, führt aus, dass die Rechte der Arbeitnehmer insbesondere unter der Präsidentschaft von Gül beschnitten wurden, berichtet Haberler.com. Die grassierende Leiharbeit und Jugendarbeitslosigkeit sind zu einem großen Teil auf die Wirtschaftsreformen während seiner Amtszeit zurückzuführen.
Gerald Maclean bestätigt in seinem Buch “Abdullah Gul and the Making of the New Turkey”, dass Gül ein neoliberaler Politiker ist, dem es vor allem darauf ankommt, möglichst viel ausländisches Kapital in die Türkei zu ziehen. Er ist jedoch kein Vertreter des Verarbeitenden Gewerbes und der Arbeiter.
Sadık Ünay führt in seinem Buch “Neoliberal Globalization and Institutional Reform” aus, dass Babacan dieselben wirtschaftspolitischen Ansichten vertritt.
Der Eindruck liegt nahe, dass der aktuelle Kandidat für das Oberbürgermeisteramt Istanbuls, Ekrem İmamoğlu, lediglich als Türöffner für die “alte Garde” der Regierungspartei AKP agieren soll, zumal er lediglich kurzfristige Protestwähler an sich binden kann, die ihn aus reiner Erdoğan-Verdrossenheit heraus wählen. İmamoğlu soll offenbar nur als Mittel zum Zweck dienen - der Entmachtung Erdoğans.
Die “alte Garde” der Regierungspartei will um jeden Preis zurück aufs Parkett der türkischen Politik.
Doch mit ihr würde nicht die sogenannte neue Türkei, sondern eine Politik der außenpolitischen Fehlprognosen und wirtschaftspolitischen Unfähigkeiten der vergangenen 17 Jahre Einzug halten (mehr hier).
Für die türkische Bevölkerung würde sich jedenfalls wirtschaftlich und rechtsstaatlich nichts zum Besseren ändern.
In Ankara also nichts Neues.