Auch nach der vierten Verhandlungsrunde seit dem Austritt Großbritanniens aus der EU sind sich die Europäische Union und Großbritannien vor allem in einem Punkt einig: Man kommt nicht voran auf dem Weg zu einem Handels- und Partnerschaftspakt. So verkündeten es am Freitag EU-Unterhändler Michel Barnier und sein britischer Kollege David Frost. Nicht nur der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist entsetzt und warnt vor der Gefahr eines harten Bruchs zum Jahresende.
Wie schon drei Mal zuvor seit dem britischen EU-Austritt Ende Januar - immer freitags am Ende jeder Verhandlungsrunde - stand Barnier wieder ernst und streng im Pressesaal der Europäischen Kommission, und wieder hatte er dieselbe Botschaft. "Es ist meine Verantwortung, die Wahrheit zu sagen", sagte der Franzose. "Es gab in dieser Woche keine wesentlichen Fortschritte." Und er fügte hinzu: "Wir können nicht ewig so weitermachen." Noch gilt ja eine Übergangsphase nach dem Brexit, doch bis Ende dieses Jahres muss vor allem der Handel neu geregelt sein, sonst drohen Zölle und Hemmnisse. Aber ein Vertrag ist nicht in Sicht.
Der Knackpunkt: Wieder warf Barnier Großbritannien vor, von bereits im Oktober 2019 vereinbarten Grundsätzen für das geplante Abkommen abzuweichen, auch beim für die EU wichtigsten Punkt: gleiche Wettbewerbsbedingungen, also gleiche Standards bei Steuer, Staatshilfen, Umwelt- und Sozialauflagen. Dabei sei die damals beiderseits akzeptierte Politische Erklärung in allen Sprachen verfügbar, meinte der 69-Jährige sarkastisch. "Sogar in Englisch." Aus Verhandlungskreisen in London hieß es dazu trocken, man habe wohl ein "leicht unterschiedliches Verständnis" davon, wie wortgetreu die Politische Erklärung in einen Vertragstext zu übertragen sei.
Londons Hinhaltetaktik
Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten hatten schon vor Monaten auf die Hinhaltetaktik Johnsons hingewiesen und darauf, dass die Briten in den Verhandlungen mit der EU reines Theater spielen (hier und hier nachzulesen). Letztendlich geht es wohl darum, ohne jegliche Verpflichtungen aus der Union auszusteigen. Die Hoffnung in London besteht wohl darin, die gesamte Insel zu einer Steueroase auszubauen und aus der ganzen Welt Vermögen und Investitionen anzuziehen – bislang verfügt das britische Königshaus über mehrere Steueroasen im Ärmelkanal und auf der Isle of Man, die Finanz-Spekulanten des Landes mit der City of London über die größte Steueroase der Welt.
Die Strategie ist riskant: Großbritannien verfügt über keine nennenswerte Industrie mehr uns ist als reine Dienstleistungsgesellschaft auf einen konstanten Zustrom an Kapital und gut ausgebildeten Fachkräften angewiesen – zuletzt hatte Johnson deswegen hunderttausenden gut ausgebildeten Hongkongern die Niederlassung in Großbritannien in Aussicht gestellt.
Auch außenpolitisch sieht es nicht gut aus: Der traditionelle Partner USA (mit welchem man ein Freihandelsabkommen abschließen möchte) ist in eine schwere gesellschaftliche (Rassenunruhen und Corona-Pandemie), wirtschaftliche und finanzielle Krise geraten – ob Johnsons Verbündeter Donald Trump im Dezember noch US-Präsident sein wird, ist deshalb unsicher.
Darüber hinaus hat die Corona-Pandemie den desaströsen Zustand des neoliberal geschädigten Gesundheitssystems aufgedeckt und der Volkswirtschaft schwere Schläge versetzt, von denen sie sich nur schwer erholen dürfte. Großbritanniens Bürger und Unternehmen sind so hoch verschuldet wie nur wenige andere auf der Welt.
Barnier sauer, Frost spielt weiter Theater
Insgesamt wirkte Barnier mehr als angesäuert und prophezeite: "Wir nähern uns dem Moment der Wahrheit." Aber aufgeben will er nicht, er erwähnte weitere Verhandlungsrunden im Juni, Juli, August, September. Geklärt werden soll das auf einem Gipfel beider Seiten noch in diesem Monat, vermutlich mit dem britischen Premier Boris Johnson, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel.
Der britische Chefverhandler Frost äußerte sich im Vergleich zu Barnier eher undramatisch. "Der Fortschritt bleibt begrenzt", ließ er schriftlich wissen. Aber auch er will die Gespräche fortsetzen, "intensiviert und beschleunigt". Dass es nicht vorangeht, schiebt Frost auch auf das Verhandeln per Video. "Wir nähern uns den Grenzen dessen, was durch das Format förmlicher Runden aus der Ferne erreicht werden kann", sagte der Brite. Doch Frost geht es auch ums Inhaltliche: Er hatte kürzlich beklagt, dass er das EU-Mandat seines Gegenübers Barnier als zu enges Korsett empfindet.
In Brüssel weckt das alles Frust. Die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini wirft Johnson eine "Erpressungsstrategie" vor. Der CSU-Abgeordnete Markus Ferber meinte: "Wenn das Vereinigte Königreich seine sture Verhandlungsposition nicht langsam anpasst, wird kein Abkommen zustandekommen." Und der SPD-Brexit-Experte Bernd Lange drohte, eine Beziehung ohne Vertrag wäre auch "kein Weltuntergang".
Es gibt aber auch eine andere Lesart: Eine Einigung sei nicht ausgeschlossen, sagte der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß diese Woche. Er stellt sich darauf ein, dass der Brexit wieder Topthema wird während der deutschen Ratspräsidentschaft zwischen Juli und Dezember. Man gehe davon aus, dass es keine Fristverlängerung gebe und dass dann über den Sommer Schwung in die Verhandlungen komme, sagte Clauß. Möglich wäre bis Oktober wohl noch eine Art Rumpfabkommen über einige zentrale Fragen.
Auch dafür müssten aber die Stolpersteine ausgeräumt werden. Dazu zählt neben dem Streit über Wettbewerbsgleichheit auch die Frage, wie viel EU-Fischer künftig in britischen Gewässern fangen dürfen. Weit auseinander liegt man bei dem Punkt, ob bei Streitigkeiten beider Seiten letztlich der Europäische Gerichtshof ein Wort mitreden darf und ob es ein großes Abkommen geben soll oder viele kleine.
Kommentare zum Theater
Die belgischen Zeitung De Standaard kommentiert zum Brexit-Theater:
Zugegeben, in der Brexit-Saga steht nie etwas wirklich fest. Termine waren nur dazu da, verschoben zu werden. Doch der «point of no return» für einen harten Brexit, der 31. Dezember 2020, rückt diesmal tatsächlich näher. Vier Verhandlungsrunden haben die Briten und die EU geplant, um die Konturen eines Handelsvertrages festzulegen. Die vierte ist nun abgelaufen und hat keinen einzigen Durchbruch gebracht. (...)
Das große Problem besteht darin, dass Europa null Vertrauen in die britische Regierung hat. Boris Johnson hat sie mit «Free-Traders» bestückt. Sie wollen eine möglichst unreglementierte britische Wirtschaft und arbeiten darum lieber mit Zolltarifen und Einfuhrquoten. Großbritanniens Unterhändler haben diese Idee gestern wiederholt. Aber das würde bedeuten, dass im kommenden Jahr dauerhafte Grenzkontrollen eingeführt werden müssten, vielleicht sogar an der Grenze zwischen Irland und Nordirland.
Das Beratungsunternehmen Solvecon nennt die Dinge in seinem Forex-Report beim Namen:
Nach der letzten Verhandlungsrunde zwischen der EU und der britischen Regierung ergibt sich wenig Zuversicht für ein Handelsabkommen mit den Briten. Ablesbar ist das an den Einlassungen des grundsätzlich sehr diplomatischen EU-Chefunterhändlers Michel Barnier, den wir sehr schätzen. Michel Barnier sagte unmissverständlich, dass er die Verantwortung habe, die Wahrheit zu sagen. Diese Wahrheit sei, dass es keine Fortschritte in den Verhandlungen zu den zukünftigen Beziehungen mit Großbritannien gebe. Damit ist die vierte Gesprächsrunde faktisch ergebnislos beendet.
Michel Barnier warf den Briten eine Blockadepolitik vor. Er ging sogar völlig zurecht weiter, indem er Boris Johnson angriff. Johnson hätte persönlich die politische Erklärung mit der EU als Basis für das Handelsabkommen mit der EU ausgehandelt. Die darin von den Briten gemachten Zusagen würden jetzt nicht mehr eingehalten. Anders ausgedrückt macht sich Premier Johnson mangels Verlässlichkeit auf internationaler Bühne zu einem politischen Leichtgewicht oder er ist einfach nur ein politischer Hasardeur.
Die Regierung Johnson agiert zunehmend analog zu der Regierung Trumps. Zusagen und Unterschriften haben im Zweifelsfall eine kurze Verfallzeit. Die Beantwortung der Frage, ob ein derartiger Verhandlungsstil geeignet ist, Vertrauen aufzubauen oder zu zerstören, liegt auf der Hand. Man fühlt sich in Ansätzen an Elisabeth I. erinnert, die den Spaniern zusagte, die Piraterie (Terrorismus der damaligen Zeit) zu unterbinden, um sie aber massiv zu fördern. Diese britische Unzuverlässigkeit hatte seinerzeit einen hohen Preis für Spanien zur Folge. „Food für Thought“
Die Regierung Johnson macht durch ihr Verhalten damit klar, dass sie keinen Respekt vor den demokratisch legitimierten Regierungen der restlichen 27 Länder Kontinentaleuropas nebst Irland hat. Die EU ex UK ist gut beraten, sich den Themen zuzuwenden, die für unsere weitere Entwicklung von hoher Bedeutung sind und Großbritannien als das einzustufen, was Großbritannien ist. Es ist die Union Englands mit Wales, mit Schottland und mit Nordirland. Großbritannien ist geographisch in Europa verortet, ohne aber je in der EU angekommen zu sein.
Fokussieren wir uns auf die EU ex UK und die Eurozone und bringen hier Fortschritte auf den Weg. Das ist besser, als Kraft und Aufwand in ein Thema zu stecken, das durch die EU nicht lösbar ist, ohne sich dem UK faktisch zu unterwerfen und sich zum Selbstbedienungsladen des UK zu machen. Bei Letzterem drohte uns tendenziell das Schicksal Spaniens zu den Zeiten Elisabeths I. Das kann keine ernst zu nehmende Option für ein selbstbewusstes und ein zukünftig erfolgreiches Kontinentaleuropa und Irland sein.