Der erste Corona.-Lockdown in Deutschland hat nach Angaben des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BMVW) ein Loch von etwa 100 Milliarden Euro in der Rentenkasse verursacht. Allein die Bundesagentur für Arbeit rechne für das laufende Jahr bereits mit einem Defizit von mehr als 30 Milliarden Euro. Die Staatsverschuldung ist um 22 Prozentpunkte auf 81 Prozent des BIP gestiegen, obwohl gemäß dem Europäischen Stabilitätspakt (Vertrag von Maastricht) nur 60 Prozent erlaubt sind. Viele Betriebe haben ihre finanziellen Reserven im Verlauf des ersten Lockdowns aufgebraucht und 70 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland gehen auf den Mittelstand zurück. Der Mittelstand hat eine Online-Petition ins Leben gerufen, um einen zweiten Lockdown zu verhindern.
Doch nicht nur der Mittelstand sieht einen möglichen zweiten Lockdown kritisch, sondern auch die Automobilindustrie. VW-Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch hatte zuvor an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft appelliert, einen zweiten Corona-Lockdown und weitere Abschottungen von Märkten in der Krise unbedingt zu verhindern. Darauf müssten angesichts bereits erheblicher Schäden aus der ersten Pandemie-Welle und wieder steigender Infektionszahlen nun „alle Anstrengungen ausgerichtet“ sein, sagte der oberste Kontrolleur des Wolfsburger Autokonzerns am Anfang September bei einer Veranstaltung der Deutschen Handelskammer in Wien. Der Österreicher Pötsch ist Präsident der Kammer.
Ein zweiter Lockdown wäre verheerend, die deutsche Wirtschaft wäre „für Jahre, vielleicht sogar ein Jahrzehnt schwer geschädigt“, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, dem Magazin „Focus“. Die aktuelle Lage sei ohnehin schon extrem herausfordernd. 80 Prozent der Unternehmen erwarteten für das Gesamtjahr sinkende Umsätze: „40 Prozent haben schwere Liquiditätsprobleme, und jede zehnte Firma hält sich sogar für insolvenzgefährdet.“
Initiative will Entschädigung für Corona-Schließungen erstreiten
Die Forderung nach staatlichen Entschädigungen für Betriebsschließungen und Einnahmeausfälle in der Corona-Pandemie erreicht das Bundesverfassungsgericht. Eine Initiative, die nach eigenen Angaben mehr als 850 Betroffene vertritt, hat in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingereicht, berichtet das juristische Portal „beck-aktuell“. Eine zweite Klage soll im September folgen. Parallel wollen die Anwälte der Geschädigten in den einzelnen Bundesländern Klage erheben. Ihre Strategie zielt darauf ab, dass die Zivilgerichte diese Verfahren aussetzen und die Frage nach einer Entschädigungspflicht ebenfalls in Karlsruhe vorlegen.
Hintergrund ist, dass das Infektionsschutzgesetz nur dann eine Entschädigung vorsieht, wenn der Betriebsinhaber sich selbst angesteckt hat und deshalb zumachen muss. Bei den allermeisten Läden, Restaurants, Kinos, Clubs und Kneipen, die im März der Lockdown wegen der Ausbreitung von Covid-19 traf, war das nicht der Fall.
Die Soforthilfen sind für viele nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein Modegeschäft in Rheinland-Pfalz, das zusammen mit einer Musikkneipe aus Magdeburg, einem Hamburger Lederwaren-Händler und einer Hotelkette hinter der ersten Verfassungsklage (Az. 1 BvR 1726/20) steht, bekam 15.000 Euro. Der verbleibende Schaden wird in der Beschwerdeschrift, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, mit rund 205.000 Euro beziffert. Außerdem sei im Lager Saisonware im Wert von ungefähr 150.000 Euro unverkauft liegengeblieben.
„Wir verkennen nicht, dass sich die Bundesregierung große Mühe gibt, soziale Härten zu minimieren“, sagt der Potsdamer Staatshaftungsexperte Siegfried de Witt. Aber es brauche eine gesetzliche Regelung. „Die Mitglieder unserer Initiative sind an der Situation völlig schuldlos“, ergänzt der Berliner Anwalt Wolfgang Schirp. Sie hätten allein schließen müssen, um Menschenansammlungen zu vermeiden und damit das Gesundheitssystem zu entlasten.
Bisher haben die Verfassungsrichter die meisten Corona-Klagen, die direkt in Karlsruhe eingereicht wurden, ohne genauere Prüfung abgewiesen. Die Kläger wurden aufgefordert, erst den Rechtsweg zu erschöpfen, sich also vorher durch die Instanzen zu klagen.
Die Anwälte meinen, dass sie sich trotzdem ohne Umweg an das Verfassungsgericht wenden können. Alles andere sei sowieso sinnlos. Sie verweisen etwa auf ein Urteil des Landgerichts Hannover: Dort hatte der Inhaber eines Ausflugslokals vergeblich 10.000 Euro Entschädigung vom Land Niedersachsen eingefordert - für Ansprüche nach dem Infektionsschutzgesetz lägen die Voraussetzungen nicht vor.
Rechtlich argumentieren die Anwälte vor allem mit dem Schutz des Eigentums im Grundgesetz. Die massiven Grundrechtseingriffe seien zwar möglicherweise gerechtfertigt gewesen. Sie seien aber nur verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber gleichzeitig einen finanziellen Ausgleich für die Betroffenen vorsehe. Dazu haben die Anwälte Gesundheitsminister Jens Spahn auch per Brief aufgefordert.