„Wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt": Das ist die Kernaussage der sogenannten „Heartland-Theorie“, die der britische Geograph Halford Mackinder 1904 in einem anschließend berühmt und äußerst einflussreich gewordenen Aufsatz veröffentlichte. Mackinder warnte seine Landsleute, dass ein Zusammenschluss der beiden aufstrebenden Landmächte Russland und Deutschland die weltweite Vormachtstellung der Seemacht Großbritannien gefährden würde. Lange hat Mackinders Theorie die Außen- und Machtpolitik des Landes geprägt – und tut es teilweise noch heute. Ein Blick auf die Geografie des Inselstaates verrät, dass Mackinders Standpunkt nur folgerichtig ist. Eine Analyse.
Spaniens Silber ermöglicht Aufstieg
Die Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch Christoph Kolumbus bedeutete für Europa eine Zeitenwende. Nicht nur, dass eine riesige Landmasse ihrer Eroberung und Zivilisierung harrte – der Zufluss von Edelmetallen versetzte die unterschiedlichen europäischen Staaten auch in die Lage, verstärkt Güter aus Asien zu kaufen, die sie sich vorher aus Kapitalknappheit nicht hatten leisten können. So wurde der Handel intensiviert. Seefahrt und Schiffbau gewannen immer mehr an Bedeutung, vor allem nach der Umrundung Afrikas und der damit geschaffenen Seeroute gen Indien durch den Portugiesen Vasco da Gama. Interessant dabei ist, dass die enormen Mengen an Silber, die Spanien aus seinen amerikanischen Kolonien gewann, scheinbar zwar zunächst Spanien, mittel- und langfristig allerdings England begünstigten. Denn das viele Silber heizte in Spanien die Inflation an, machte Produkte aus dem Norden Europas konkurrenzfähig und bereitete so indirekt den späteren wirtschaftlichen Aufstieg vor allem Englands sowie der Niederlande vor.
Durch Insellage zur Weltmacht
In den nächsten Jahrhunderten trug die geographische Lage Englands entscheidend zu seinem Aufstieg bei. 1588 verlor Spanien bei dem Versuch, England über das Meer anzugreifen, einen Großteil seiner Flotte. Die Vereinigung Englands und Schottlands im Jahr 1707 bedeutete dann das Ende der einzigen Landgrenze und verschaffte dem Königreich eine strategisch noch komfortablere Insellage. Weder Napoleon noch Nazideutschland konnten Großbritannien in der Folge erobern, während London von außen immer wieder auf die Bündnispolitik der Länder Kontinentaleuropas im Sinne eines Gleichgewichts der Kräfte einwirken konnte.
Die vorteilhafte wirtschaftliche Entwicklung Englands, die nicht zuletzt durch natürlich vorhandene Binnenschifffahrtswege, Kanalbau und auch durch vergleichsweise preisgünstige Küstenschifffahrt begünstigt wurde, kulminierte dann ab circa 1750 in der Industriellen Revolution, deren Treibstoff die auf der Insel reichlich vorhandenen Kohlevorkommen waren. Die Kombination aus einer entwickelten Industrie, seiner geographisch günstigen Lage und seiner umfangreichen Flotte katapultierte Großbritannien in den Rang der unangefochten größten Weltmacht. Um diese Position nicht zu verlieren, zielte die britische – genau wie später auch die US-amerikanische – Politik darauf ab, ein Bündnis zwischen Russland und Deutschland zu verhindern. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Teil von Europa
Nach zwei verlorenen Weltkriegen, und nachdem sich nach 1945 der Eiserne Vorhang quer durch Europa gesenkt hatte, war es für die Bundesrepublik Deutschland ein großer diplomatischer Erfolg, dass Großbritannien 1973 der EU beitrat. Denn zu einen konnte so der Einfluss Frankreichs innerhalb der EU ausbalanciert werden, zum anderen hoffte man in Bonn, durch eine immer stärkere Anbindung Westdeutschlands an das westliche Lager ein potentielles Aufflammen der „deutschen Frage“, also eines aufgrund seiner Wirtschaft in Europa zu einflussreichem und damit verdächtigem Deutschland, zu entschärfen. Vor diesem Hintergrund stellt der aktuelle Brexit für Deutschland nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein geopolitisches Problem dar. Denn Großbritannien, das seit jeher eine „special relationship“, ein spezielles Verhältnis mit den USA pflegt, dürfte sich geopolitisch nun verstärkt an die Vereinigten Staaten anlehnen, insbesondere dann, wenn US-Präsident Donald Trump die Wahl im November verlieren sollte.
Die vor allem von den angelsächsischen Ländern befeuerte Konfrontation mit Russland zielt derweil darauf ab, die geopolitischen Optionen des Riesenreiches durch die Unterstützung von (Farb)revolutionen an seiner Peripherie zu beschränken und es durch Beschneidung seiner Energiemärkte wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Dies setzt vor allem auch Deutschland unter Druck, gegen seine eigenen Interessen zu handeln, wie die aktuelle Debatte um Nord Stream II zeigt. Geostrategisch wäre es für Großbritannien – wie auch für die USA – vorteilhaft, Russland und Deutschland gegeneinander auszuspielen und auf diese Weise beide Nationen zu schwächen.
Abschied von Europa
In den Achtziger Jahre forcierte Premierministerin Margaret Thatcher den Übergang von einer Industrie-Nation zu einer Dienstleistungsgesellschaft und machte den Finanzplatz London zum Kraftzentrum des Landes. Die sogenannte „City“ dürfte die (geo)politische Ausrichtung Großbritanniens entscheidend mitbestimmen. Wobei der Umstand, dass durch die neue finanzwirtschaftliche Ausrichtung gewisse geographische Faktoren, wie die Nähe von Absatzmärkten für Industriegüter, in den Hintergrund zu treten scheinen, trügerisch ist. Denn der Brexit wirft fundamentale geographische Fragen auf. Neben der Grenzfrage zwischen Nordirland und der Republik Irland dürfte vor allem die Frage, ob Schottland Teil Großbritanniens bleiben möchte, an Bedeutung gewinnen. Ein erneutes Referendum könnte zu einem Austritt Schottlands und zu seinem Beitritt zur EU führen, womit England wieder eine Landgrenze bekäme. Zudem ist Schottland nicht nur wegen seines Nordsee-Öls von Bedeutung, sondern vor allem auch wegen der Marinebasen Faslane on Clyde und Coulport, wo sich die U-Boot-Flotte Großbritanniens sowie nukleare Interkontinentalraketen befinden, die von den U-Booten aus abgeschossen werden können. Die tieferen Gewässer vor Schottland sind dabei als Standort für die U-Boote deutlich besser geeignet als die flacheren Gewässer vor England. Eine Abspaltung Schottlands würde also auch Auswirkungen auf die militärischen Möglichkeiten Englands haben.
Ein neues, weltumspannendes Bündnis?
Auf der anderen Seite könnte der Brexit für Großbritannien machtpolitisch betrachtet durchaus von Vorteil sein. Hier lohnt ein Blick auf das von der Öffentlichkeit wenig beachtete CANZUK-Projekt. Gemeint ist eine immer engere Zusammenarbeit, möglicherweise auch Union, der Staaten Kanada, Australien, Neuseeland und dem Britischen Königreich. Alle vier gehören dem Commonwealth an, sind englischsprachig und wirtschaftlich ähnlich entwickelt. Ein derartiger Staatenbund wäre also weitaus homogener als beispielsweise die EU. Ein Blick auf die Landkarte verrät, dass Kanada an die rohstoffreiche Arktis grenzt und in Übermaß über eine Ressource verfügt, die in Zukunft einen immer größeren Machtfaktor darstellen wird: Wasser. Und zu Australien schreibt die „Deutsche Rohstoffagentur“: „Australien verfügte 2015 über die weltweit größten Reserven an Eisenerz, Blei, Zink, Nickel, Tantal und Gold sowie an Rutil und Zirkon. Die zweit- und drittgrößten Reserven der Welt an Bauxit, Kupfer, Kobalt, Ilmenit, Silber und Seltenen Erden liegen ebenfalls in Australien.“ Sollte der CANZUK-Staatenbund tatsächlich zustande kommen, wäre dieser aufgrund seiner Geografie und seines Ressourcenreichtums automatisch ein schwergewichtiger globaler Machtfaktor. Die Zukunft Großbritanniens nach dem Brexit könnte rosiger sein als viele denken.
Es ist von großer Bedeutung, ob ein Land von Meeren umspült wird oder in einer Tiefebene von zahlreichen Nachbarn umringt ist. Ob sein Terrain gebirgig oder seine Witterung extrem ist. Ob es Zugang zu Rohstoffen und Wasser hat oder nicht. In einer Serie von Artikeln werfen die DWN einen Blick auf ausgewählte Länder und arbeiten heraus, inwieweit deren Außen, - Sicherheits- und Machtpolitik von ihrer jeweiligen Geografie (maßgeblich) mitbestimmt wird.
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