Politik

DWN-SPEZIAL - Deutschlands Stromnetz ist akut gefährdet, es droht eine Strommangel-Wirtschaft

Henrik Paulitz von der Akademie Bergstraße zieht ein besorgniserregendes Zwischenfazit zur Energiewende. Deutschland ist demnach auf dem Weg in eine „StromMangelWirtschaft“ – im schlechtesten Fall drohen schon jetzt bundesweite Stromausfälle.
06.12.2020 06:49
Aktualisiert: 06.12.2020 06:49
Lesezeit: 3 min

Henrik Paulitz von der Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung warnt in einer aktuellen Einschätzung vor akuten Risiken im deutschen Stromnetz. Eine Zwischenbilanz der sogenannten Energiewende fällt äußerst besorgniserregend aus:

Mehr und mehr häufen sich Warnungen vor einem großflächigen Stromausfall in Deutschland (etwa hier eine Warnung des zuständigen Bundesamtes aus dem Sommer 2019). Das hat einen realen Hintergrund: Deutschland verliert in den kommenden zwei Jahren seine Kraftwerks-Überkapazitäten. Wir schlittern unausweichlich in eine StromMangelWirtschaft hinein, weil Stromspeicher für Wind und Sonne fehlen, Stromimporte im erforderlichen Umfang nicht möglich sind und dringend notwendige Backup-Gaskraftwerke nicht gebaut wurden. Schwächelt dann der Wind, kann die Stromversorgung zusammenbrechen. Im schlimmsten Fall droht eine nationale Katastrophe.

Zeit für eine Zwischenbilanz

Unter dem Titel „StromMangelWirtschaft – Warum eine Korrektur der Energiewende nötig ist“ hat die Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung jetzt eine umfangreiche Untersuchung zu dieser Problematik als Taschenbuch veröffentlicht. 30 Jahre nach Beginn der systematischen Förderung der erneuerbaren Energien und des Umbaus der deutschen Energiewirtschaft verfügen wir über umfassende Praxiserfahrungen, über eine hervorragende Wissensbasis und so haben wir die Möglichkeit – wie auch die Verpflichtung – Zwischenbilanz zu ziehen und ggf. notwendige Korrekturen vorzunehmen.

Nach 30 Jahren Energiewende ist ganz nüchtern die Frage zu beantworten: „Was geht und was geht nicht?“ Beim Ausbau der erneuerbaren Energien wurde sehr viel erreicht. Die produzierten Strom-Mengen, erzeugt in kleinen, dezentralen Anlagen, vielfach in „Bürgerhand“, sind sowohl technisch als auch organisatorisch höchst beeindruckend. Vor diesem Hintergrund entsteht vielfach der Eindruck, Deutschland könne schon in Kürze problemlos auf alle sonstigen Kraftwerke verzichten.

Doch das Gegenteil ist der Fall: In der „Kohlekommission“, die in Folge des Atomausstiegs-Beschlusses über einen Ausstieg aus der Kohleverstromung verhandelte, kam man zu dem klaren und eindeutigen Ergebnis, dass man ersatzweise dringend sehr viele neue Gaskraftwerke als Backup-System für die erneuerbaren Energien benötigt. Große Gaskraftwerks-Kapazitäten müssten dann den benötigten Strom erzeugen, wenn die Sonne nicht (genug) scheint und der Wind nicht kräftig genug weht. Die einfache Formel lautet: Atomausstieg + Kohleausstieg = Gaskraftwerke. Die logische Forderung war: Wir müssen viele Dutzend Gaskraftwerke schnellstmöglich „bauen, bauen, bauen“, um die Energiewende bei einem Atom- und Kohleausstieg auch weiterhin versorgungssicher zu gestalten.

Ende des Jahres 2020 ist aber festzustellen: Die dringend benötigten Gaskraftwerks-Kapazitäten wurden nicht gebaut; im Gegenteil: Wegen fehlender Rentabilität unter den aktuellen „Marktbedingungen“ kam es sogar zu Stilllegungen und nun geraten die bestehenden Gaskraftwerke auch noch durch die EU-Umweltgesetzgebung unter Druck.

Deutschland verliert sein versorgungssicheres Stromsystem

Bleibt es bei den aktuellen Beschlusslagen und Entwicklungen, dann ist klar: Deutschland verliert schon in Kürze sein versorgungssicheres Stromsystem. Die Versorgungssicherheit ist nicht theoretisch in einer fernen Zukunft gefährdet, sondern sehr akut. Hinter den Kulissen bereitet man sich längst auf eine Mangelverwaltung vor, auf eine StromMangelWirtschaft, in der nicht die Nachfrage das Stromangebot bestimmt. Vielmehr soll sich die Nachfrage dem wetterabhängigen Stromangebot anpassen. Wenn nicht genügend Strom produziert werden kann, dann sollen die Verbraucher auf Strom verzichten.

Es ist nur wenig bekannt, dass Deutschland heute schon bestimmten, großen Industriebetrieben regelmäßig den Strom abstellt. Aus diesem Grund und insbesondere auch wegen den ständig steigenden Industriestrompreisen gehen die Investitionen in Deutschland zurück. Längst gibt es eine „schleichende Deindustrialisierung“.

Die von der Politik vorangetriebene E-Mobilität verschärft die Situation

Paradoxerweise werden nun aber auch noch die Bereiche ausgeweitet, die von einer zuverlässigen Stromversorgung abhängig sind: Die geplante Elektrifizierung des Wärmesektors mit Elektrowärmepumpen und die massive Förderung der Elektromobilität sind auf der Stromerzeugungsseite schlichtweg nicht darstellbar.

Da die Stromerzeugung immer unsicherer und das Stromangebot absehbar schon für die heutige Nachfrage nicht ausreichen wird, ist es grob fahrlässig, die Nachfrage auf diese Weise auch noch massiv ausweiten zu wollen. Elektroautos und Elektrowärmepumpen können leicht zum Kollabieren des Stromversorgungssystems beitragen. Im äußersten Fall droht der Blackout, ein möglicherweise großflächiger und tagelanger Stromausfall.

Einer Untersuchung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag zufolge käme dies einer „nationalen Katastrophe“ gleich. Diese wäre selbst durch eine Mobilisierung aller internen und externen Kräfte und Ressourcen „nicht beherrschbar“.

Die möglichen Folgen der aktuellen Entwicklungen insgesamt sind sehr weitreichend. Es geht um Gefahren für Wohlstand, Leben und Gesundheit, für die Zukunft dieser Industriegesellschaft, für das Wohlergehen künftiger Generationen und für die Stabilität und den Frieden Europas. Es ist daher dringend notwendig, eine Neujustierung der Energiepolitik vorzunehmen.

Weitere Informationen zum Thema:

Stromversorgung in Deutschland akut gefährdet - ausführlicher Bericht mit Grafiken

Taschenbuch: StromMangelWirtschaft - Warum eine Korrektur der Energiewende nötig ist

Lesen Sie dazu auch:

Wussten Sie, dass Europa am vergangenen Freitag haarscharf an einem massiven Stromausfall vorbeigeschrammt ist?

Renaissance der Kernkraft in Europa: Polen steigt in die Atomenergie ein, Deutschland mit „Energiewende“ isoliert

Folgen der Energiewende: Bund verhindert drastischen Anstieg der Strompreise mit Steuer-Milliarden

Erste Rufe nach Rückkehr zur Atomkraft: Die Bundesregierung verläuft sich im klimapolitischen Irrgarten

Die gefährliche Rückkehr der Psychose in die deutsche Politik

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Politik
Politik Benelux-Einigung: Wie ein radikaler Zusammenschluss Europa herausfordern würde
06.12.2025

Mitten in einer Phase wachsender geopolitischer Spannungen nehmen belgische Politiker eine Vision wieder auf, die lange undenkbar schien...

DWN
Politik
Politik Trumps US-Sicherheitsstrategie und die Folgen für Europa
05.12.2025

Donald Trumps neue US-Sicherheitsstrategie rückt Europa ins Zentrum – allerdings als Risiko. Das 33-seitige Papier attackiert...

DWN
Finanzen
Finanzen DAX-Kurs schließt über 24.000 Punkten: Erholung geht am Freitag weiter
05.12.2025

Der deutsche Aktienmarkt legt zum Wochenschluss spürbar zu und der Dax überschreitet eine wichtige Schwelle. Doch der Blick richtet sich...

DWN
Politik
Politik Putin in Indien: Strategische Unabhängigkeit in der neuen Weltordnung
05.12.2025

Indien empfängt den russischen Präsidenten mit allen protokollarischen Ehren und stellt damit gängige westliche Erwartungen an globale...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Handwerkskunst aus Deutschland: Pariser Luxus-Modehäuser vertrauen auf die Stickerei Müller
05.12.2025

Die Stickerei Müller aus Franken fertigt für große Modehäuser wie Balenciaga und Yves Saint Laurent. Auf schwierige Jahre nach der...

DWN
Politik
Politik Rentenpaket im Bundestag: Folgen für Rentner und Beitragszahler
05.12.2025

Der Bundestag hat das Rentenpaket mit knapper, aber eigener Mehrheit durchgesetzt und eine Koalitionskrise verhindert. Doch hinter den...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Auftragseingang in der deutschen Industrie steigt unerwartet kräftig
05.12.2025

Unerwartet starke Impulse aus der deutschen Industrie: Die Bestellungen im Verarbeitenden Gewerbe ziehen an und übertreffen Prognosen...

DWN
Finanzen
Finanzen Rheinmetall-Aktie stabil: Analystenkommentar von Bank of America bewegt Rüstungsaktien
05.12.2025

Am Freitag geraten deutsche Rüstungsaktien in Bewegung: Ein US-Großbank-Analyst sortiert seine Favoriten neu. Welche Titel profitieren,...