Wer im Laufe des vergangenen Jahres ein paar meiner Kommentare gelesen hat, wird sich vielleicht daran erinnern, dass ich mehrmals dazu aufrief, die Bundesrepublik möge sich ein neues politisches Leitmotiv geben: Das der „Internationalität“. Angesichts des Erstarkens der neuen Weltmacht China, des schrittweisen Rückzugs der bisherigen Ordnungsmacht USA, des Zerfalls der EU, der schweren Spannungen im Nahen Osten und vieler weiterer globaler Herausforderungen, werde Deutschlands Zukunft in „Peking und Wuhan, Davos und Damaskus (mit)entschieden werden“, schrieb ich.
Angela Merkel scheint das genauso zu sehen. Konsequent trifft die Bundeskanzlerin ihre Entscheidungen mit Blick auf ausländische Akteure und außenpolitische Zusammenhänge.
Müsste ich das nicht begrüßen?
Nein, das tue ich nicht. Denn was Angela Merkel tut, ist genau das Gegenteil von dem, was ich propagiere. „Internationalität“ ist für mich das konsequente Verfolgen des nationalen Interesses. Kein dumpfes „Germany first“. Sondern die Maximierung des eigenen, des nationalen Wohls innerhalb eines regelbasierten, aber kompetitiven internationalen Systems – selbstverständlich, ohne dabei den anderen Mitgliedern dieses Systems zu schaden. Eine Art von „internationaler sozialer Marktwirtschaft“ also.
Doch solche Überlegungen scheinen Angela Merkel fremd zu sein. Deutsche Interessen – sie rangieren auf der Prioritätenliste der Kanzlerin alles andere als besonders weit vorn.
Abtretung von Interessen
Jüngstes Beispiel: Die Abtretung des Impfstoff-Kaufs an die EU-Bürokratie in Brüssel. Man wolle keinen nationalen Alleingang, hieß es aus dem Kanzleramt, ein Verdrängungswettbewerb zwischen den Staaten sei zu vermeiden, es müsse Fairness herrschen. Die Konsequenz: Es ist hierzulande viel zu wenig Impfstoff vorhanden, während in Ländern wie den USA, Großbritannien und Israel, deren Regierungs-Chefs in Deutschland das Ansehen von Parias genießen, flächendeckend mit der Immunisierung gegen Covid-19 begonnen wurde.
Weitere Beispiele:
- Merkels als alternativlos dargestellte „Wir schaffen das!“-Entscheidung aus dem Jahr 2015.
- Die Zustimmung zum 500-Milliarden-Euro-Fonds der EU, zu einer gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme. Zu schuldenfinanzierten Krisenhilfen also, von denen Deutschland kaum welche bekommt, für deren Rückzahlung seine Steuerzahler jedoch zur Kasse gebeten werden.
- Die Abtretung der Verhandlungen über US-Strafzölle gegen europäische, also auch deutsche Autos, an die EU-Kommission. Also an ein Gremium, dem viele Länder angehören, die nicht über eine eigene Automobil-Produktion verfügen, während die Wirtschaft des „Auto-Landes“ Deutschland stark von dieser Branche abhängig ist.
Nun stellt sich die Frage? Warum tut Merkel all dies?
In eine Diskussion möchte ich erst gar nicht einsteigen: Das Merkel deutsche Interessen „verrät“. Dass sie – aus welchem Grunde auch immer – ihrem Land wissentlich schaden wolle. So etwas ist reiner Populismus, pure Demagogie. Solche Behauptungen sind dem Bestreben, Wege aufzuzeigen, wie eine Kanzlerin, wie ein Kanzler unserem Land besser dienen könnte, nicht förderlich.
Die große Bühne
Nein, für Merkels Politik gibt es andere Gründe. Zum einen diesen: Die Kanzlerin hat sich in ihrer über 15jährigen Amtstätigkeit zu einer Staatsfrau entwickelt, die das Konzept der „Internationalität“ tatsächlich verinnerlicht hat. Aber: Die Wahrung und Verfolgung der Interessen des Landes, welches sie vertritt, hat sie dabei zwar nicht komplett, aber doch zu großen Teilen aus den Augen verloren. Genau wie übrigens auch Helmut Kohl: Der Architekt der deutschen Einheit hatte zum Ende seiner Amtszeit nur noch ein Bestreben, nämlich die Vollendung der europäischen Einigung – der Erreichung dieses einen großen Ziels wurden alle anderen geopfert. Der Oggersheimer spielte auf der großen Bühne, der Weltbühne – genau das tut Angela Merkel heute auch.
Zum anderen ist die Kanzlerin viel stärker von Überzeugungen, ja von Dogmen beeinflusst und geleitet, als es den Anschein hat. „Prinzipienlosigkeit“ wird ihr immer wieder vorgeworfen; sie würde abwarten und die Probleme aussitzen, heißt es. Doch das stimmt nicht.
Dogmen
Angela Merkel vertritt sehr wohl Prinzipien. Eines davon: Der feste Glauben an den freien Markt – und aus diesem Glauben speist sich die Überzeugung, es sei notwendig, die Welt weiter mit deutschen Exporten zu überschwemmen. Was es wiederum notwendig macht, Europas Südländer mit deutschen Steuergeldern vor dem Bankrott zu bewahren – wären sie zahlungsunfähig, stünden sie als Käufer ja nicht mehr zur Verfügung. Alternativen, beispielsweise eine Stärkung der Binnennachfrage, sprich eine Erhöhung von Löhnen und Gehältern sowie Steuersenkungen, kommen Merkel nicht in den Sinn – sie passen nicht in ihr Weltbild.
Ein weiteres felsenfestes Prinzip hat die Kanzlerin selbst formuliert und preisgegeben: „Was gut für Europa ist, war und ist gut für uns.“ Diesen Satz findet man sogar auf ihrer offiziellen Webseite. Ihm mögen hehre Überzeugungen zugrunde liegen – doch wer ihn zum Leitmotiv seiner Politik erhebt, kann ihm und seinen Implikationen nicht mehr entkommen, macht sich zum Gefangenen seines eigenen Dogmas. (Berechtigte) nationale Interessen konsequent vertreten kann ein solcher Verfechter der reinen Lehre dann nicht mehr.
Um noch einmal einen Gedanken aus einem früheren Kommentar aufzugreifen: Die Geschichte der Bundesrepublik vollzieht sich in jeweils 20jährigen Zyklen. „Wiederaufbau“, „goldene Jahre“ sowie „Wiedervereinigung“ liegen hinter uns. Der gegenwärtige Zyklus steht im Zeichen der „Internationalität“. Es wird Zeit, dass ein neuer Kapitän das Ruder übernimmt und Deutschland durch die schwierigen globalen Gewässer navigiert.