Politik

"Genscher hat die ehemaligen Diplomaten der DDR gedemütigt"

Lesezeit: 7 min
20.06.2021 11:00
Klaus Freiherr von der Ropp war Teil des außenpolitischen Sicherheitsapparats der Bundesrepublik während des Kalten Krieges. Im Gespräch mit DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph lässt er die damalige Zeit zum Leben erwachen - eine ungemein spannende Lektüre.

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Ein Vierteljahrhundert lang, von 1975 bis 2000, leitete Klaus Freiherr von der Ropp die Bonner Geschäftsstelle der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP / heute ansässig in Berlin, damals in Ebenhausen bei München). Seine Aufgabe war es, die Publikationen des Instituts, dessen Mitarbeiter im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik forschten, in den Ministerien und Bundestags-Fraktionen (von denen es, was heute fast unvorstellbar ist, bis 1983 gerade mal drei gab) unterzubringen. Ursprünglich hatte der aus der Nähe von Riga stammende, 1939 mit seiner Mutter und den Geschwistern nach Königsberg ausgesiedelte, in Köln aufgewachsene und heute in Potsdam lebende promovierte Jurist Pläne gehegt, in den diplomatischen Dienst einzutreten. Doch eine Hepatitis A-B-C-Erkrankung, die er sich in seiner Referendarzeit während eines Projekt-Aufenthalts in Tansania zugezogen hatte, verhinderte das. Also ging er schließlich zur SWP, nach Bonn – dort, im Dunstkreis der Macht, gewann er Einblicke in die ganz große Politik, auf Grundlage derer er sich ein fundiertes Bild von den Protagonisten der deutschen Außenpolitik, von ihren fachlichen und ihren persönlichen Stärken und Schwächen, machen konnte.

Eine – schon allein aufgrund der Länge ihrer Amtsdauer – besonders wichtige Figur war Hans-Dietrich Genscher, der von 1974 bis 1992 fast ununterbrochen den Posten des Außenministers innehatte. Von der Ropp erinnert sich: „Nach dem Rücktritt von Willy Brandt wurde Genscher im Mai 74 Chef des Auswärtigen Amts sowie Vizekanzler unter Helmut Schmidt. Der Posten stellte für ihn eine völlig neue Herausforderung dar, war er doch zuvor fünf Jahre lang Innenminister gewesen und verfügte über keinerlei internationale Erfahrung. Er sprach noch nicht einmal Englisch.“

Dementsprechend schwer habe es „Genschman“ (wie er in Anlehnung an den Superhelden „Batman“ vom Satire-Magazin „Titanic“ getauft wurde) unter dem „Eisernen Kanzler“ gehabt. Der sei ein sehr kluger Kopf gewesen, mit einem gewaltigen Selbstbewusstsein ausgestattet. Ernst genommen habe er Genscher nicht (genauso wenig wie den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, der für den Realpolitiker Schmidt eben nur ein Erdnuss-Farmer aus den Südstaaten war; ein naiver Gutmensch, der mit missionarischem Eifer seine weltfremden, auf seinem tiefen baptistischen Glauben beruhenden Ideale verfolgte, ohne jede Chance, sie jemals zu verwirklichen). Schmidt habe Genscher bewusst kleingehalten, und dieser sei, wie von der Ropp es ausdrückt, zu Anfang auch „zufrieden gewesen mit dem, was von seines Herren Tische fiel“. Eigene Aktivitäten habe der neue, unerfahrene Außenminister nur in drei Bereichen entfalten können, die der Kanzler für nicht so wichtig erachtete: Dem afrikanische Kontinent südlich der Sahara (Schmidt fragte süffisant, wie groß denn das dortige Bruttosozialprodukt ausfalle), der UNO (laut Schmidt eine Schwatzbude) sowie der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE / was deren Bedeutung anbelangte, habe Schmidt sich geirrt, so von der Ropp: im Endeffekt hätten die Konferenzen, deren erste Auflage 1973 stattfand, einen entscheidenden Anteil am Zusammenbruch der Sowjetunion gehabt, und es sei zu einem großen Teil Genscher zuzuschreiben, dass die Bundesrepublik sich so aktiv an diesen Konferenzen beteiligte).

Genscher sei am Anfang in so manches Fettnäpfchen getreten, unter anderem, weil er die Welt aus der Sicht eines deutschen Provinzlers beurteilt habe. So sei er bei einem am 17. Oktober 1978 in Pretoria stattfindenden Treffen mit Südafrikas Premierminister Pieter Willem Botha, den Außenministern Roelof „Pik“ Botha (Südafrika), Cyrus Vance (USA), David Owen (Großbritannien) und Donald Jamieson (Kanada) sowie dem französischen Staatssekretär Olivier Stirn ausgelacht und fast hinausgeworden geworfen worden, weil er vorschlug, die Südafrikaner müssten sich nur die deutsche Innenpolitik und Gesellschaft zum Vorbild nehmen, um eine Lösung für ihren Rassenkonflikt zu finden. Hinzu kam, dass der gebürtige Reideburger (bei Halle an der Saale) zu Beginn seiner Amtszeit – wie bereits erwähnt – kaum Englisch sprach. Aber, so von der Ropp: Genscher sei fleißig gewesen. Noch vor sechs Uhr morgens habe er sich in sein Büro begeben, Englisch gepaukt und sich mit den wichtigen Themen der Außenpolitik sowie mit ihren Tücken und Fallstricken vertraut gemacht. Dieser Fleiß habe sich ausgezahlt: Schließlich sei er ein Meister seines Faches geworden.

Die große Chance des studierten Juristen kam 1982: Nach dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum von CDU/CSU und FDP gegen Schmidt – „die Union hatte Genscher und Otto Graf Lambsdorff schon immer umschmeichelt, was das Misstrauensvotum erst möglich machte“, so von der Ropp -, konnte der bisherige Handlanger zum ersten Mal Außenpolitik nach seinem Gusto betreiben. Kohl hatte ihm und dem zukünftigen Wirtschaftsminister Lambsdorff versprochen, im Falle seiner Wahl nicht von seiner Richtlinien-Kompetenz Gebrauch zu machen, das heißt, sich nicht in ihre Ressorts einzumischen. Die beiden FDP-Granden hatten dem Pfälzer daraufhin zugesagt, ihn zum Kanzler zu machen – obwohl sie sich nicht sicher waren, dass er das Zeug dafür hatte, sagt von der Ropp und erinnert daran, dass auch nicht wenige CDU-Abgeordnete, viele Medien und große Teile der Öffentlichkeit den späteren „Kanzler der Einheit“ massiv unterschätzten.

Genschers Stern sei nach der Wiedervereinigung gesunken, als Kohl mehr und mehr das außenpolitische Szepter übernahm, so von der Ropp (beispielsweise tröge der Zwei-plus-Vier-Vertrag die Handschrift des Pfälzers, auch wenn Genscher ihn vorbereitet hatte). Die menschliche Seite des am längsten amtierenden bundesdeutschen Außenministers sieht von der Ropp übrigens ziemlich kritisch. Genau wie Helmut Schmidt und Margaret Thatcher, die beide Genscher nicht trauten. Er sei ein „slippery man“ (slippery bedeutet so viel wie windig oder aalglatt), befand die britische Premierministerin, und Herbert Wehner, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion von 1969-1983, meinte, es sei „leichter, einen Pudding an die Wand zu nageln, als zu wissen, wo Genscher steht“. Letzterer habe sich immer ein Hintertürchen offengehalten, so von der Ropp; positiv interpretiert, sei dies als „raffiniert“ zu bewerten, kritisch interpretiert eher als „verschlagen“. Regierungssprecher Klaus Bölling hat es folgendermaßen zusammengefasst: Genschers Intelligenz sei „furchteinflößend“ gewesen. Abstoßend gelegentlich auch seine Manieren.

Zur Illustration: Der Außenminister besuchte gerne ein sehr gutes Lokal in Bad Godesberg, wobei er in aller Regel nicht selbst zahlte, sondern sich einladen ließ. Einmal sei er in die Küche gegangen, habe einen Finger in den Topf gesteckt, den Finger anschließend abgeleckt und befunden, dass nachgesalzen werden müsse.

Auch der Umgang mit Mitarbeitern und Medienvertretern habe zu wünschen übriggelassen, so von der Ropp. Genschers Strategie sei es immer gewesen, Abhängigkeiten zu schaffen. So habe er bestimmte Journalisten bevorzugt mit Informationen versorgt – im Gegenzug fiel die Berichterstattung über ihn positiv aus. Darüber hinaus habe er die Beamten des Auswärtigen Amts stets ganz genau in seinem Sinne agieren lassen, habe sie instrumentalisiert: „Was sollten sie auch tun - im Endeffekt entscheidet eben der Außenminister, ob jemand Botschafter in London wird oder Konsul in Bordeaux.“ Und schließlich sei Genschers Umgang mit den ehemaligen Angehörigen des Auswärtigen Dienstes der DDR unerträglich gewesen.

„Er hat sie gedemütigt“, sagt von der Ropp – eine vielsagende Aussage aus dem Munde eines Mannes, der während des Kalten Krieges jahrzehntelang indirekt Teil des außenpolitischen Sicherheitsapparats der Bundesrepublik war. Langjährige hochqualifizierte ehemalige DDR-Diplomaten hätten nach der Wiedervereinigung an ihren Rang kein a.D. anhängen dürfen. Sie hätten alle ihre Jobs verloren – mit einer Ausnahme. Und zwar dem Heizer der DDR-Botschaft in Sofia. Die war in einem weitaus ansehnlicheren Gebäude untergebracht als die bundesdeutsche Botschaft, weshalb die des wiedervereinigten Deutschlands nach 1990 ihren Betrieb auch in diesem schöneren Gebäude aufnahm. Es verfügte allerdings über ein kompliziertes Röhrensystem, mit dem niemand vertraut war, außer besagtem ehemaligen DDR-Heizer, der fortan – sozusagen als letzter Mohikaner eines untergegangenen Staates – für das wiedervereinigte Deutschland seinen Dienst versah.

Es habe einen Mann gegeben, der mit den ehemaligen DDR-Diplomaten einen ganz anderen Umgang pflegte, erzählt von der Ropp, einen Mann, auf den er immer große Stücke gehalten habe: Egon Bahr. Der ehemalige „Bundesminister für besondere Aufgaben“ von 1972 bis 1974 und neben Willy Brandt bedeutendster Architekt der neuen Ostpolitik, sei zwar niemals vor den Vertretern des Ostens eingeknickt, sei jedoch auf sie zugegangen und habe mit ihnen diskutiert. Bahr, so von der Ropp, sei ein echter Patriot gewesen, der sich niemals als Westdeutscher, sondern als Deutscher empfunden habe. Er sei sich zwar uneingeschränkt bewusst gewesen, welche Schuld Deutschland durch Krieg und Nazi-Greul auf sich geladen hatte, und er habe diese Schuld auch anerkannt, aber er habe dennoch immer deutsche Interessen vertreten. So habe er sich beispielsweise vehement gegen von Frankreich entwickelte Raketen eingesetzt, die im Falle eines Krieges zwischen Nato und Warschauer Pakt auf DDR-Boden hätten niedergehen sollen: „Nicht auf deutschem Boden“ – das sei für ihn ehernes Prinzip gewesen.

Von Bahr gibt es eine Anekdote, die von der Ropp liebend gern erzählt. US-Außenminister Henry Kissinger, berühmt für seine Klugheit und fast noch berühmter für sein außergewöhnlich großes Selbstvertrauen, wurde gefragt, ob es jemanden gäbe, der noch klüger sei er als er. Kissinger habe geantwortet, dass das auf kaum einen Menschen zuträfe, auf einen aber doch: Egon Bahr.

Über viele andere deutsche Politiker weiß von der Ropp zu berichten: Beispielsweise Franz Josef Strauß, von dem er sagt, „dieser habe Bahrs und Brandts Entspannungspolitik gehasst“ – und dennoch sei er ironischerweise viel enger mit der DDR verbandelt gewesen als viele andere. Der CSU-Übervater habe Kohl den Kanzlerjob geneidet, nicht zuletzt deshalb, weil er sich für viel befähigter als den Oggersheimer hielt. Viele Beamte hätten Angst vor dem bayerischen Urvieh gehabt, aber wenigstens habe man diesem angesehen, wenn es schlechte Laune hatte – Genscher sei viel undurchdringlicher, aber mindestens genauso gefährlich gewesen.

Weiterhin Otto Graf Lambsdorff, von 1977-82 unter Schmidt und von 1982-84 unter Kohl Bundeswirtschaftsminister. Er sei ein äußerst fähiger Politiker gewesen, darüber hinaus unheimlich fleißig und enorm wissbegierig. Aufgrund letzterer Eigenschaft sei er mit der Stiftung eng verbunden gewesen, habe immer wieder den Rat ihrer Experten gesucht. „Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis“, erzählt von der Ropp, „was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass unsere Familien beide aus Kurland stammen“.

Dann Klaus Kinkel, von 1992 bis 1998 Außenminister und von 1993 bis 1998 Vizekanzler. Er sei äußert offen gewesen, stets bereit, sich die Meinungen anderer anzuhören und zu diskutieren. Was seine außenpolitischen Erfolge anbelangt, so seien diese allerdings eher bescheidener Natur gewesen: „Genscher hat ihm immer viel zu viel reingeredet.“

Schließlich Jürgen Möllemann, von 1991 bis 1993 Bundeswirtschaftsminister und knapp ein Jahr lang (von 92 bis 93) sogar Vizekanzler. „Mit seinem politischen Talent hätte er noch weiter nach vorne kommen können, aber sein Charakter stand ihm im Weg: Er war mit Gott und der Welt zerstritten.“

Vom 1998 ins Amt gekommenen Joschka Fischer weiß von der Ropp nicht viel, außer dass er „sehr autoritär“ gewesen sei und „Menschen herumkommandiert“ habe. Was Heiko Maaß angeht, frage er sich manchmal, wie der sich als Außenminister neben Merkel wohl fühle – jetzt, da ein immer größerer Teil der Außenpolitik im Kanzleramt gemacht werde, vor allem die Europa-Politik fast vollständig dorthin abgewandert sei.

Noch einmal zum wohl wichtigsten Politiker, dessen Wirken von der Ropp hautnah beobachten konnte: Bundeskanzler Helmut Kohl. Der sei hervorragend von Wolfgang Schäuble und Horst Teltschik beraten worden und im Zuge der Wiedervereinigung „zu großer Form aufgelaufen“ – doch sei seine Innenpolitik ein Misserfolg gewesen: „Zu viele Bürger der ehemaligen DDR sind übers Ohr gehauen, zu viele großartige Lebensleistungen nicht gewürdigt worden. Es herrscht viel Bitterkeit – die ich gut nachvollziehen kann.“

Von der Ropp kommt noch einmal auf die ehemaligen DDR-Diplomaten zurück (von denen heute natürlich nicht mehr viele leben): „Sie waren hervorragend ausgebildet und waren vor allem echte Spezialisten. Die westdeutschen Diplomaten waren das nicht, weil sie – wie schon im Kaiserreich – von einem Posten auf den anderen versetzt wurden, weshalb sie kaum wirkliche Expertise entwickeln konnten. Da hieß es dann beispielsweise zu einem Gesandten in Brasilien: ´Ihre nächste Station wird China sein´ – dann musste der Mann rasch Sprachkurse belegen, um wenigstens ein wenig Küchenchinesisch sprechen zu können. Der Grund für diesen Ansatz war wohl, dass man verhindern wollte, dass die Mitglieder des Diplomatischen Korps´ eine zu große Nähe zum Gastland entwickelten, also weniger Vertreter der Bundesrepublik waren als Sprecher des Staates, in dem sie Dienst taten. Der Ansatz in der DDR war, wie gesagt, ein anderer. Dort wurden die Diplomaten für eine bestimmte Region, einen eingegrenzten Kulturkreis ausgebildet. Geholfen haben ihnen ihre Kenntnisse und Expertise nach der Wiedervereinigung allerdings nicht: Sie haben das Schicksal vieler anderen Ostdeutschen geteilt, die vom Westen abgewickelt worden sind.“


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