Technologie

Roboter-Tabletten und digitale Pillen: Wie Google und Co die Medizin von morgen entwickeln

Lesezeit: 5 min
12.12.2021 12:15  Aktualisiert: 12.12.2021 12:15
Derzeit erschaffen Entwickler im Silicon Valley, aber auch in Deutschland, das "Internet der Körper".
Roboter-Tabletten und digitale Pillen: Wie Google und Co die Medizin von morgen entwickeln
Optische Endkontrolle in der Produktion des traditionsreichen Pharma-Unternehmens "Merck" in Darmstadt. Werden Pillen und Tabletten bald auch im Silicon Valley hergestellt? (Foto: dpa)

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Die Vierte Industrielle Revolution hat die Welt voll im Griff. Ob miteinander kommunizierende Haushaltsgeräte, autonom fahrende Autos oder selbstreplizierende Roboter – das Internet der Dinge schreitet unaufhaltsam voran und dringt in immer mehr Bereiche unseres Lebens vor.

Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung in den USA, wo die neuen Techniken bereits von siebzig Prozent der Bürger genutzt werden und wo auch die jüngste Entwicklung ihren Ausgang genommen hat: das „Internet of Bodies“, zu Deutsch: das Internet der Körper.

Sein Werdegang lässt sich in drei Phasen unterteilen. Begonnen hat alles mit externen Geräten, den sogenannten "Wearables“, also am Körper tragbaren Instrumenten wie zum Beispiel Smart Watches oder Fitness-Trackern. Sie können vom Körper generierte Daten sammeln und verarbeiten.

Phase zwei brachte die Einführung körperinterner Geräte. Dazu zählen implantierte Herzschrittmacher, im Ohr verankerte Hörprothesen („Cochlea-Implantate“) oder auch mit Sensoren ausgestattete Pillen, die ebenfalls Daten sammeln und diese an Smartphones, Tablets oder an das WLAN weitergeben können.

In der dritten Phase kommen nun sogenannte Neurocomputer-Schnittstellen hinzu, die die elektronischen Geräte dazu befähigen, bestimmte Prozesse im Körper auszulösen und die hierbei ermittelten Daten extern weiterzugeben. Sie funktionieren aber auch in die umgekehrte Richtung, ermöglichen also von außen gesteuerte Eingriffe in die körperlichen Funktionen.

Die Großen beherrschen den Markt

Die Entwicklung der neuen Techniken schreitet rasant voran und wird inzwischen fast komplett von den großen IT-Konzernen wie Apple, Microsoft und Google beherrscht. Insbesondere Google beobachtet den Markt sehr aufmerksam, kauft reihenweise erfolgreiche oder vielversprechende Unternehmen auf und lässt selbst neue Geräte entwickeln.

Zu den wichtigsten Meilensteinen der vergangenen Jahre dürften der Einstieg Googles beim texanischen Uhren-Spezialisten „Fossil“ sowie der Kauf des Wearable-Herstellers „Fitbit“ gehören. Die Entwicklungsabteilung von Fossil wechselte 2019 für 40 Millionen Dollar zu Google und entwickelt dort zurzeit die nächste Generation der Smart Watches.

Fitbit wurde im Januar dieses Jahres für 2,1 Milliarden Dollar von Google aufgekauft. 2008 in Kalifornien gegründet, verkaufte das Unternehmen zwischen 2009 und 2021 in über einhundert Ländern mehr als 120 Millionen Fitness-Tracker. Fitbit gilt als Pionier beim Tracking von Schritten, Herzfrequenz, Schlaf und Stress.

Zudem arbeiten mehrere hundert kleinere Start-Up-Unternehmen an neuen Konzepten, viele davon im Silicon Valley. Die meisten von ihnen werden von finanzstarken Investoren gesponsert und warten nur darauf, von einem der großen IT-Konzerne übernommen zu werden.

Die Medizin von morgen

Noch zukunftsträchtiger als der boomende Fitness-Markt dürfte für das Internet der Körper der Bereich der Medizin sein. Hier hat die Künstliche Intelligenz in den zurückliegenden Jahren bereits gewaltige Fortschritte gemacht, und zwar weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit.

Während die meisten von uns wissen, dass es seit etwa fünfzehn Jahren schluckbare Kameras gibt, die Bilder aus dem Darm senden können, dürfte den wenigsten bekannt sein, dass es inzwischen Herzschrittmacher gibt, die nicht nur Herzrhythmen mit Hilfe elektrischer Impulse beeinflussen, sondern auch Daten über das WLAN an die behandelnden Ärzte liefern können.

Noch weniger bekannt dürfte die Tatsache sein, dass die US-amerikanische Arzneimittelbehörde 2017 die erste Verwendung von digitalen Pillen in den USA genehmigt hat. Solche Pillen enthalten Sensoren, die nach der Einnahme durch die Magensäure aktiviert werden und Signale aus dem Körper an Smartphones oder Tablets senden können.

Diese Einsatzmöglichkeiten sind jedoch auf Grund der rasanten Entwicklung der Digitaltechnik bereits Schnee von gestern. Inzwischen sind solche Pillen in der Lage, Körperfunktionen zu messen, Wirkstoffe abzugeben und sogar Gewebeproben im Innersten des Körpers zu sammeln und die gemessenen Daten nach außen zu übermitteln.

Die Entwicklung schreitet immer schneller voran

Aber auch das ist noch nicht alles: So arbeitet das konzerneigene Forschungslabor Google X an einer Nanopille, deren Aufgabe es ist, im Blutkreislauf nach Signalstoffen für Krankheiten Ausschau zu halten. Die mit winzig kleinen magnetischen Nanopartikeln gefüllte Kapsel erkennt bestimmte Moleküle im Körper, die typisch für eine Erkrankung sind. Ein magnetisches Diagnostikarmband sammelt diese Partikel ein und gibt die Daten zum Auslesen weiter.

Noch extremer wirkt das Beispiel des von Google geförderten Start-Ups "Rani Therapeutics". Es entwickelt zurzeit eine Roboter-Tablette in Kapselform, die winzige, mit Wirkstoff gefüllte Spritzen enthält. Diese blasen sich im Darm ballonartig auf, bis sie platzen und ihren Wirkstoff in die Darmwand spritzen. Langfristiges Ziel ist es nach Aussagen des Unternehmens, Insulinspritzen oder Injektionen von Rheumamitteln zu ersetzen.

Auch in Deutschland wird in diesem Bereich unter Hochdruck geforscht. So hat sich das Heilbronner Start-Up "Medimetrics", das ebenfalls an Darmkapseln arbeitet, die Gewebeproben entnehmen können, bereits mehrere Patente gesichert. Auch hier steht mit dem ZFHN Zukunftsfonds, einem der großen Risikokapitalgeber in Deutschland, eine geballte Finanzkraft hinter dem Unternehmen.

Wohin führt die Entwicklung?

Angesichts der Rasanz der Entwicklung muss man sich fragen, wohin uns die technischen Neuerungen führen. Einerseits bedeuten sie einen klaren wissenschaftlichen Fortschritt, zum Beispiel bei der Früherkennung von Krankheiten, zum anderen aber bringen sie auch erhebliche Gefahren mit sich.

Am deutlichsten ist das im Fall des implantierten Herzschrittmachers: Die Steuerung von außen kann segensreich sein, wenn sie zugunsten des Patienten vorgenommen wird. Was aber, wenn der Schrittmacher gehackt und als Waffe gegen den Patienten eingesetzt wird? Dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Cheney wurde der Schrittmacher aus genau diesem Grund (man befürchtete ein Attentat) wieder entnommen.

Noch bedenklicher sieht es im schier endlosen Bereich der Daten aus. Je raffinierter die Geräte werden, umso mehr Daten über den Körper des Trägers können sie sammeln. Wer aber garantiert, dass diese Daten immer in die richtigen Hände gelangen? Dass sie nicht missbraucht und möglicherweise in zerstörerischer Weise gegen die Betroffenen genutzt werden?

Die erste 2017 in den USA zugelassene Smart Pill war ein Anti-Psychotikum, mit dem Schizophrenie-Anfälle und schwere Depressionen behandelt werden können. Seit ihrer Einführung müssen die Patienten eine Vereinbarung unterzeichnen, nach der der Arzt und einige andere Personen, beispielsweise Pfleger oder Familienmitglieder, Zugang zu den Daten zur Einnahme des Arzneimittels erhalten. Was aber, wenn die Angehörigen oder das medizinische Personal den Patienten nicht wohlgesonnen sind?

Wollen wir unser Schicksal in die Hände der IT-Konzerne legen?

Wir leben in einer Zeit monumentaler Veränderungen. Spielte über Jahrhunderte hinweg das Geld die Rolle des wichtigsten Herrschaftsinstruments, so sind in den vergangenen zwanzig Jahren die Daten hinzugekommen. Sie haben dazu geführt, dass fünf IT-Konzerne, nämlich die Google-Mutter Alphabet, Apple, Amazon, Microsoft und Facebook, einen früher unvorstellbaren Aufstieg erleben konnten.

Gemeinsam mit den mächtigsten Finanzorganisationen der Welt, den Vermögensverwaltungen wie BlackRock und Vanguard, haben diese IT-Konzerne sich die Pharma-Branche inzwischen komplett unterworfen und legen auch hier die Regeln fest. Für die Medizin bedeutet das: Es geht in erster Linie nicht um das Wohl der Patienten, sondern um das der IT-Branche.

Genau hier liegt das Problem: Wie im Finanzsystem, wo wir es mit der höchsten Vermögenskonzentration aller Zeiten zu tun haben, erleben wir im Datenbereich eine ähnliche Entwicklung: Immer weniger Unternehmen kontrollieren und manipulieren das gesamte Geschehen – und das natürlich zum eigenen Vorteil.

Da die Politik sich beiden Prozessen nicht einmal in Ansätzen widersetzt, sind wir zurzeit auf uns allein gestellt. Was aber tun?

Wäre es vielleicht an der Zeit, uns daran zu erinnern, dass der Kern des menschlichen Wesens die Selbstbestimmtheit ist, und dass die IT-Industrie und insbesondere die Pharma-Branche dabei sind, uns diese Selbstbestimmtheit zu nehmen und uns immer stärker zu entmündigen?

Sollten wir uns vielleicht entscheiden, unsere Gesundheit nicht in zunehmendem Maß in die Hände einer fremdgesteuerten Künstlichen Intelligenz zu legen und stattdessen endlich akzeptieren, dass Krankheiten zum Leben dazu gehören und dass die meisten von ihnen ein Signal des Körpers sind, gewisse Verhaltensweisen zu überdenken?

Wäre die aktuelle Entwicklung damit möglicherweise ein Aufruf, das Spiel, dass die großen IT-Player mit uns spielen, einfach nicht mehr mitzumachen…?

                                                                            ***

Ernst Wolff, 69, befasst sich mit der Wechselbeziehung zwischen internationaler Politik und globaler Finanzwirtschaft.


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