DWN-Autor Bernd Liske nimmt die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Anlass für eine Analyse der westlichen Politik gegenüber Russland, hinterfragt den Sinn dieser Politik und regt an, alles für ein friedliches Miteinander zu tun - nicht zuletzt im eigenen Interesse.
Die Olympischen Spiele zeigen gerade, zu welchen Taten Menschen fähig sind, wenn sie sich darauf konzentrieren, Höchstleistungen zu erbringen. Dabei reicht es nicht aus, die für den jeweiligen Sport primären Parameter wie Geschwindigkeit, Kraft und Dynamik durch Laufen, Gewichte-Stemmen und Gymnastik zu trainieren. Spitzenleistungen sind nämlich ohne zusätzliche Persönlichkeitsmerkmale wie Konsequenz, mentale Stärke, Geduld und Überwindung nicht möglich, aber auch nicht ohne eine auf den Sport ausgerichtete Ernährung. Auch das muss erlernt und trainiert werden – ausschweifendes Leben, Alkohol sowie ungesundes Essen bringen einen nicht näher an den Sieg heran, im Gegenteil. Um derart komplexen Anforderungen erfolgreich gerecht werden zu können, ist es für den Sportler notwendig, über viele Jahre allen Aspekten seines Sports höchste Aufmerksamkeit zu schenken. Der berühmte sino-amerikanische Kampfkünstler Bruce Lee hat das so ausgedrückt:
Wenn du dir immer Grenzen setzt, sei es im Training oder sonst wo, wird es sich auf andere Bereiche, deine Arbeit, dein Leben ausweiten. Es gibt keine Grenzen, es gibt nur Plateaus. Und du darfst nicht dort bleiben. Du musst sie durchbrechen.
Nicht anders sieht es aus, wenn Nationen in den Wettbewerb miteinander treten. Doch während der Westen bei den Olympischen Spielen dominiert – nicht zuletzt durch Deutschland und die USA, wenn China auch aufholt –, stellt sich das beim Kampf gegen die Pandemie und im wirtschaftlichen Wettbewerb ganz anders dar. Während die USA mit fast 950.000 Toten die unangefochtenen Spitzenreiter sind und Deutschland immerhin 120.00 Tote zu beklagen hat, sind es in China etwa 5.700 Tote. Ähnlich sieht es mit den Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt aus: Während sie 2020 bei den USA und Deutschland negativ waren, legte China zu.
Die Gründe für diese Entwicklungen sind vielfältig, und ich bin bemüht, ihnen in meinen Büchern sowohl auf die Spur zu kommen als auch Werkzeuge für eine zeitgemäße Trainingsmethodik zu entwickeln. Hier soll ein Aspekt herausgegriffen werden, der die Minderleistung wesentlich mitbegründet: Ablenkung. Denn was den Sportlern ausschweifende Disco-Besuche sind, ist dem Westen nun schon seit einiger Zeit sein Bemühen, mit dem russischen Bären tanzen zu wollen.
Bären sind – wie auch Wölfe – in der allgemeinen Vorstellungskraft der Menschen vor allem eins: Gefährlich. Und böse. Verhaltensforscher sind jedoch zu ganz anderen Erkenntnissen gekommen: Bären sind intelligent, sie sind empfindsam und haben Spaß miteinander. Und: „Bären sind große und gefährliche Raubtiere. Aber nein, sie greifen niemals ohne Vorwarnung an. Das macht nämlich kein Tier.“ Beachtet man einige Regeln, so können Menschen und Tiere ganz gut miteinander leben.
Für das Bemühen, mit dem russischen Bären zu tanzen – was konkret bedeutet, ihn dressieren zu wollen oder, besser ausgedrückt, ihn nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, - hat der Westen in den letzten Jahren verstärkt die Urinstinkte der Menschen bedient. Über 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der insbesondere Russland unendliches Leid zufügte und zu Millionen von Toten führte, wird wieder der Hass gegen das große Land zwischen Wolga und Wladiwostok geschürt. Er äußert sich in Sanktionen, Droh-Salven aus Berlin und Brüssel sowie dem Dauerfeuer der Medien – so dass es nur als eine Frage der Zeit erscheint, bis wieder die Waffen sprechen.
Das ist umso bedauerlicher, als dass Russland sich durchaus um ein friedliches und harmonisches Miteinander bemüht hat. Der Beitrag der Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung ist unbestritten, war aber auch daran gebunden, ihre Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Das aber hat man vergessen, als man die NATO Schritt für Schritt immer näher an Russland heranführte, und so darf sich der Westen nicht wundern, wenn eine verschmähte Liebe sich nicht krampfhaft bemüht, seinem Idealbild zu entsprechen, und stattdessen ihre eigenen Wege geht. Statt diesem Verhalten mit Verständnis entgegenzutreten und die eigenen Versäumnisse zu hinterfragen, wird seitens des Westens einer zunehmenden Feindschaft der Nationen der Weg bereitet.
Ihre Ursache findet das in einem anderen Urinstinkt: Der Sorge der USA über eine Allianz zwischen Deutschland und Russland. Wenn Präsident Joe Biden zum Ausdruck bringt „Wir suchen keine direkte Konfrontation mit Russland“, so führt es hier zu weit, den ganzen Instrumentenkasten dessen zu analysieren, was indirekt getan wird, um dieses Verhältnis zu destabilisieren. Ein wesentliches Werkzeug ist
aber – neben den Sanktionen, die sich inzwischen zu einer eigenen Waffengattung entwickelt haben – ohne Zweifel der journalistische und politische Aufmarsch gegen die „russische Aggression“. Man kann ihn durchaus als asymmetrisches Kampfinstrument des Westens gegen die Bemühungen Russlands betrachten, nicht weiter in die Ecke gedrängt zu werden – nicht zuletzt, da es ähnlich ausgeprägte Phobien Russlands gegenüber den USA, Europas und Deutschland nicht gibt. Das Bild vom bösen Russen in einer großen Vielfalt zu malen, scheint inzwischen zu einem insbesondere auch journalistischen Wettbewerb geworden zu sein, dersich folgendermaßen beschreiben lässt: Ein Indiz für das Maß an Meinungsfreiheit ist das Maß an Meinungsvielfalt. Auch das führt sicher zu „Spitzenleistungen“, doch es stellt sich die Frage, welchen Beitrag diese Leistungen zum Bruttosozialprodukt erbringen, und ob sie nicht eher schädlicher Natur sind.
In diesem Klima, in dem sich die deutsche Politik im Konzert der Kriegstrommeln des Vorwurfs erwehren muss, in außenpolitischen Fragen zögerlich zu sein, fand der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz bei Russlands Präsident Wladimir Putin statt. Die den Besuch abschließende Pressekonferenz zeugt jedoch davon, dass Deutschland weiter beharrlich eine Agenda verfolgt, die nicht jeden Unsinn mitmacht – wenngleich es sich dem Chor der Claqueure einer robusten Haltung gegenüber Russland nicht entziehen kann, – und der Bundeskanzler durchaus bemüht ist, sich auf den Spuren von Willy Brandt zu bewegen, dessen Credo es war, dass die Sicherheit des Gegners Teil unserer eigenen Sicherheit ist.
Russland hat diese Haltung gewürdigt und Deutschland aufgewertet, indem noch am gleichen Tag der Rückzug von Truppenteilen gemeldet wurde. Doch das dem einem Film gleichende Szenario russischen Handelns trifft auf eine Wirklichkeit, in der Präsident Joe Biden die Gelegenheit verpasst, sich als oberster Friedensstifter zu gerieren – was ein wenig an die Präsidentin in dem Film Don´t Look Up mit Leonardo DiCaprio, Jennifer Lawrence und Meryl Streep erinnert, die selbst durch einen angekündigten Weltuntergang nicht von ihrer Agenda abgehalten werden kann. Und die Kriegstrommler sind noch bis an die Zähne bewaffnet und noch nicht zurückbeordert: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fabuliert über Vorkehrungen für den Fall des Stopps russischer Gaslieferungen, und t-online wählt demagogisch als Überschrift für eine Bericht über die Pressekonferenz: „Putin droht Deutschen mit Erhöhung der Gaspreise“ – obwohl der russische Präsident auf die fünfmal günstigeren Preise für deutsche Kunden durch Nord Stream 1 verwies und nur fragte, ob sie ein Interesse daran haben könnten, drei- bis viermal mehr bezahlen zu müssen (ab 28´´ 30´).
Schon einen Tag nach dem Besuch zeigt sich, dass die Eskalationsbemühungen seitens des Westens ungebrochen sind. Die Bundesregierung fordert nun Beweise für den Teilabzug russischer Truppen, der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, distanziert sich von der Aussage des Bundeskanzlers, ein NATO-Beitritt der Ukraine stände nicht zur Debatte. Es ist anzunehmen, dass es nicht wenige Bemühungen geben wird, auf der einen Seite Russland zu einem vollständigen Verzicht seiner Sicherheitsforderungen zu bringen und auf der anderen Seite sich jeder eigenen Verpflichtung zu entziehen, jegliche Verhärtung auf Seiten Russlands als Aggression und Grund für Sanktionen zu nutzen sowie False-Flag-Operationen in Form von (geheimdienstlichen) Täuschungsmanövern zu entfalten. Es ist nicht auszuschließen, dass Russland Todesopfer in Kauf nehmen muss, um sich dem Hineinziehen in einen Krieg zu entziehen.
Kehren wir daher zurück zu den anfangs angestellten Leistungsbetrachtungen. Ist der Umgang mit Russland ein gutes Training für das Team Deutschland, um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu bestehen? Benötigen wir dafür Egoisten, Ignoranten, Claqueure und Scharfmacher – oder nicht doch eher andere Typen? Stärken Monokulturen die Resilienz Deutschlands gegen die Herausforderungen unserer Zeit, oder müssen wir vielmehr die kognitive Diversität stärken, um sowohl den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern als auch als rohstoffarmes Land zu bestehen, dessen Wohlstand von der Innovationskraft seiner Menschen abhängt? Hätten unsere Bobfahrer Gold gewonnen, wenn sie wie die Amerikaner auf Bobs aus Lettland gefahren wären – was sicher auch zu der Frage führt, wie sich die Amerikaner auf deutschen Bobs geschlagen hätten.
Ist es für das Team Europa wirklich notwendig, sich einig darin zu sein, Sicherheit dadurch zu erreichen, dass man andere schwächt? Ist Einigkeit ein Beispiel für Stärke oder eher die Einheit der Vielfalt? Ist es Ausdruck von Souveränität und Stärke, sich die Ziele Dritter zu eigen zu machen, oder stellt sich das eher dann dar, wenn man aus seinen Grundwerten heraus zu einem eigenständigen Handeln für diese Welt kommt? Ich hätte sicher gut damit leben können, und es wäre ein bedeutender Impuls für die europäische Idee gewesen, wenn Präsident Emmanuel Macron zusammen mit dem Bundeskanzler nach Moskau gereist wäre – vielleicht mit einem Gedanken in Kontinuität zu der Schuman-Erklärung von 1950.
Macht es für das Team Westen – nennen wir es Team Demokratie – Sinn, sich an Russland zu verschleißen und damit den eigenen Substanzwert zu schwächen? Denn offenbaren wir nicht mit unserem Kampf unter der Flagge der Demokratie deren Natur und lassen neue Terroristen heranwachsen – die aus anderen Blickwinkeln zuweilen auch als Freiheitskämpfer betrachtet werden? Ist es für die Wettbewerbsfähigkeit des Westens nicht entscheidend, entlang Bruce Lee den Freiheitsgedanken auf den Stand des gesellschaftlichen Fortschritts zu entwickeln, dafür jede Gelegenheit zu nutzen und mit Blick auf Immanuel Kant die Freiheit anstelle des Zwangs auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu betonen?
Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?
Es erscheint mir entscheidend für den Erfolg des Teams Demokratie – und ich nenne es die Menschwerdung des Affen zu fördern –, jede Gelegenheit der Auseinandersetzung zu nutzen, die Menschen vom zu betreuenden, alles mitmachenden Objekt zum kreativ-schöpferischen, selbstbestimmt wirkenden Subjekt zu entwickeln –dabei nicht zuletzt auch das Querdenken. Papst Franziskus hat empfohlen:
Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, ... die Wunden heilen… Man muss ganz unten anfangen.
In diesem Sinn kann der Tanz mit dem russischen Bären gelingen und allen Seiten Gewinn bringen.