"Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem Dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben." Olaf Scholz
Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mahnte US-Präsident Franklin Roosevelt: „Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, ist er gleichzeitig überall bedroht und gefährdet.“ Dieses Diktum gilt auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg. Dessen Tragik hängt zusammen mit einer ganzen Reihe fataler Fehleinschätzungen in Vergangenheit und Gegenwart – und womöglich auch in Zukunft. So ist ein Dritter Weltkrieg konkreter als bisher denkbar geworden.
Schon vor einem Vierteljahrhundert, also zwei Jahre vor Präsident Wladimir Putins Eintritt in die Weltpolitik Ende 1999, hatte der damalige Senator und heutige US-Präsident Joe Biden gewarnt vor den Gefahren einer NATO-Erweiterung in Osteuropa – damals bezogen auf Estland, Lettland und Litauen. Ein Jahrzehnt später, im Mai 2007, hielt Putin auf der 43. Münchner „Sicherheitskonferenz“ eine Rede mit ungewohnt scharfen Tönen, die damals selbst von erfahrenen Politikern als bloßer „Ausrutscher“ abgetan wurden. Er unterstrich, niemand fühle sich mehr sicher, zumal das Völkerrecht nicht mehr überzeugend in Kraft stehe. Die NATO-Osterweiterung empfand er sichtlich als großes Problem: Sie habe keinerlei Bezug „zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa“ – im Gegenteil, sie sei ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens“ senke. Gegen Ende seiner Rede erklärte Putin: „Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte, und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können. Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unser Potenzial ein.“ Ob der russische Präsident die eigenen Möglichkeiten im Ukraine-Krieg bislang realistisch eingeschätzt hat und die militärischen Potenziale angemessen beurteilt, wird heute teilweise bezweifelt. Die ersten sechs Wochen dieser militärischen „Sonderoperation“ lassen jedenfalls auf eklatante Fehleinschätzungen Putins schließen.
Kaum ein Jahr nach jener Sicherheitskonferenz stellten im April 2008 die NATO-Staaten auf ihrem Gipfel der Ukraine und Georgien zunächst eine Aufnahme ins Bündnis in Aussicht, machten aber alsbald aus Rücksicht auf den empört reagierenden Regenten Russlands doch einen Rückzieher. Damals waren Putins Streitkräfte noch nicht so hochgerüstet wie heute, und er selbst war noch nicht so aggressiv gestimmt wie in letzter Zeit. Zumindest im Nachhinein erweist sich jener auch von Kanzlerin Angela Merkel zu verantwortende Rückzieher als Frucht einer zu ängstlichen Politik, mithin einer folgenreichen Fehleinschätzung, ohne die es wahrscheinlich den heutigen Ukraine-Krieg nicht gegeben hätte.
Auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht kam es bekanntlich zu fatalen Fehleinschätzungen. Bereits Anfang 2006 hatte Putin der Ukraine den Gashahn zugedreht, so dass in den westlichen Medien daraufhin durchaus ausgiebig diskutiert wurde, ob dergleichen auch Westeuropa widerfahren könne: Sollte man sich nicht lieber unabhängig machen von russischen Öl- und Gaslieferungen? Stattdessen machten sich der Westen und insbesondere Deutschland zunehmend abhängiger, so dass sich heute die Lage verzwickt, ja riskant darstellt und die Politik gespaltener Meinung ist: Während die einen für ein Embargo von russischem Öl und Gas um jeden Preis plädieren, warnen die anderen vor den unüberschaubaren Folgen für Deutschland und den Westen insgesamt. Dahin hätte es nicht kommen müssen, wäre die Politik weitblickender, realistischer und nicht von damals noch kaum angebrachten Ängsten und Verdrängungen geleitet gewesen.
Inzwischen aber hat sich die Lage grundlegend geändert. Putin wird zurecht wegen seines Angriffskriegs auf die Ukraine, also auf einen souveränen europäischen Staat, ein Zivilisationsbruch vorgeworfen. Und nicht nur deshalb, sondern auch, weil er der Welt dabei unverhohlen mit seinen Atomwaffen gedroht und damit ein seit 1945 bestehendes Tabu gebrochen hat. Für ihn ist deren Einsatz offenkundig ein probates Mittel zur Durchsetzung seiner Politik geworden – wenngleich, so hat er einmal einschränkend bemerkt, dabei ja nicht die ganze Welt vernichtet werden müsse. Als ob selbst beim Einsatz von „nur“ taktischen Atomsprengkörpern, die nicht wie strategische Nuklearwaffen ganze Landstriche zerstören und vor allem auch auf psychologische Wirkung zielen würden, nicht doch eine weitere Eskalation am Horizont stehen könnte – welch eine weltpolitische Fehleinschätzung! Schon 2015 hatte Putin im russischen Fernsehen erklärt, bereit gewesen zu sein für den Einsatz von Atomwaffen; die russische Führung sei willens, sich auch der schlimmsten Wendung zu stellen, welche die Ereignisse nehmen könnten. 2020 wurde eine veränderte Nukleardoktrin formuliert, wonach sich Russland das Recht vorbehält, Nuklearwaffen anzuwenden als Antwort nicht nur auf den Einsatz von Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungsmitteln, sondern auch auf eine „Aggression gegen die Russische Föderation mit Einsatz herkömmlicher Waffen“, sofern damit die staatliche Existenz selbst bedroht würde. Die dann 2022 nach Kriegsbeginn erfolgte diffuse Drohung Putins mit Kernwaffen bezog sich nochmals zuspitzend auf den Fall „jeglicher Einmischung“ von außen in den Konflikt. Kaum zufällig ließ er mitten im Krieg – just an Hitlers Geburtstag – eine atomwaffenfähige Interkontinentalrakete testen.
Inzwischen mehren sich die Stimmen, die – namentlich angesichts der bekannt gewordenen Kriegsverbrechen und der prekär gewordenen Lage der ukrainischen Kräfte – für eine immer weitergehende Einmischung plädieren. Dagegen hat sich ein ehemaliger militärpolitischer Berater von Altkanzlerin Angela Merkel, der Brigadegeneral a.D. Erich Vad, zu Beginn der Karwoche ausdrücklich gegen die bereits diskutierte Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine ausgesprochen: Solche Lieferungen seien potenziell ein „Weg in den Dritten Weltkrieg“. Zwar dürften solche Hilfslieferungen und Verkäufe völkerrechtlich akzeptabel sein, aber das Verhältnis Putins zum Völkerrecht erscheint doch seinerseits recht fragwürdig. Am Karfreitag warnte denn auch der US-Geheimdienst CIA vor einem möglichen russischem Einsatz taktischer Atomwaffen. Am Ostersonntag erinnerte Papst Franziskus mahnend daran, dass Wissenschaftler seit 70 Jahren fragten: „Werden wir der Menschheit ein Ende bereiten?“ Und am Ostermontag betonte Vitali Klitschko als Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew ausdrücklich, der Krieg bedeute auch eine atomare Bedrohung durch Russland.
Sollten Warnungen und Bedenken dieser Art als ethisch unangebracht und psychologisch übertrieben einzustufen sein – ja spielen sie gar einem wohl nur bluffenden Putin in die Hände, statt dass alles getan wird, den verzweifelten Hilferufen aus der Ukraine zu entsprechen? Diese Fragen sind von hohem Ernst – und dabei ethisch doch unschwer zu beantworten.
Denn zweifellos ist es zwar ein hohes Gut, ja eine hehre Pflicht, einem schwer bedrängten Staat in seiner Not zur Hilfe zu kommen. Aber dies gilt eben dann doch nicht, wenn solche Hilfeleistung die Gefahr in sich birgt, dass in der Folge eine noch viel, viel größere Not entstehen könnte. Hier geht es um eine nüchterne und durchaus nicht kaltherzige Abwägung – um ein tragisches Dilemma mit gleichwohl eindeutigem Resultat, weil eine Nuklearmacht als solche nicht vernachlässigt werden kann. Dabei spielt zudem der Umstand eine Rolle, dass Putin offenbar unberechenbar ist und auch vor unmoralischen Gewalttaten nicht zurückschreckt. Es wird ja auch spekuliert, ob er vielleicht psychisch krank sei, so dass er – der internationalen Staatengemeinschaft misstrauend und von ihr tatsächlich weithin geächtet – womöglich am Ende zu einem „erweiterten“ Suizid in der Lage sein könnte, der die Welt mit in den Abgrund reißen würde. Diesen diktatorisch gestimmten Regenten mit seiner Hand am roten Knopf durch Sanktionen und wachsende militärische Unterstützung des Gegners immer mehr an die Wand zu drücken, gewiss in der Überzeugung, dass er die Sprache der Gewalt als einzige wirklich verstehe – das ist faktisch ein höchst riskantes Spiel, eine pseudoethische Versuchung, ein „russisches Roulette“ für den ganzen Planeten.
Parteinahme für die Ukraine ist das eine, Parteinahme für das Überleben der Menschheit ist das andere. Eine besonnene Politik, wie sie bis zur Stunde Bundeskanzler Olaf Scholz ungeachtet mancher Kritik an seiner Haltung betreibt, muss sich unbedingt gegen wohlmeinende und doch kaum zu Ende gedachte Forderungen in Richtung Eskalation behaupten. Anders als in früheren Jahren sind Ängste vor nuklearer Drohung heute realer untermauert und daher alles andere als irrational. Eine Fehleinschätzung der nuklearen Gefahr könnte die allerletzte sein, welche ein Angehöriger des Menschengeschlechts trifft.